der Wand klettert, alle Schlüsselstellen meistert und erst umkehrt, als der Weg auf den Gipfel klar ist, liegt der „Herr“ genüsslich im Gras und verfolgt seinen Führer durch das Fernglas. „Appenbichler erklärte, es sei auf dem von ihm heute probirten Wege wohl hinaufzukommen, die weisse Wand sei das schwerste Stück, oberhalb derselben ‚könne man eine Kuh auf den Gipfel hinauftreiben‘“, schreibt Wolf-Glanvell. Der Ausdruck „im Vorstieg“ bekommt hier eine ganz neue Bedeutung.
Mit Seil, Pickel und Schneeschuhen rücken die Grödner Bergführer im ausgehenden 19. Jahrhundert zum Fototermin an. Und auch der Hund muss mit aufs Bild.
Trotzdem ist die Beziehung zwischen Kunden und Führern keine Einbahnstraße, vor allem weil es den Bergführern nicht vorrangig um den Ruhm einer Erstbesteigung geht. Vielmehr sind solche Besteigungen für sie ein einträgliches Geschäft, sie werden von den Gästen am Seil, die sich dadurch einen Platz in den alpinen Geschichtsbüchern sichern, großzügig bezahlt. Zugleich sind die Erstbesteigungen auch so etwas wie die Visitenkarte der Führer: Je mehr und je schwierigere sie schaffen, desto höher steigen sie in der Führerhierarchie. Und desto höher werden auch die Gagen. Als Meister dieses Fachs gilt der Sextner Michl Innerkofler, der eine ganze Reihe bis dahin als unbezwingbar geltender Gipfel ersteigt: den Zwölfer, den Elfer, den Einser, die Sextner Rotwand, die Westliche und die Kleine Zinne, die Croda da Lago und die Grohmannspitze – manchmal mit, manchmal ohne zahlenden Gast, aber immer als Erster. Seine alpinistischen Pionierleistungen machen Innerkofler zum „Dolomitenkönig“, der von diesem Ruf gut leben kann.
Seiner Zeit voraus: Auch wenn er selbst nicht „Bergführer“ genannt wird, wäre die Erschließung der Ampezzaner Dolomiten ohne Angelo Dimai – hier porträtiert von Toni Hiebeler – nicht möglich gewesen.
Der Dolomitenkönig
MICHL INNERKOFLER
Am 20. August 1888 kommt der Sextner Bergführer Michl Innerkofler am Monte Cristallo ums Leben. Die Nachricht ist in allen Zeitungen zu finden, die Bestürzung über den Tod von einem „der kühnsten, wenn nicht gar allerverwegensten unserer Dolomitenbesteiger“ groß. Kein Wunder, tritt mit Innerkofler doch einer der ersten Alpinstars von der Bühne ab. 1844 als Bauernsohn geboren, avanciert Innerkofler in den späten 1870er- und Anfang der 1880er-Jahre zum „unbestritten größten Kletterer seiner Zeit“ (Theodor von Wundt). Er erkennt, dass mit dem Bergsteigen und fast einem Dutzend schwieriger Erstbesteigungen auch gutes Geld zu verdienen ist. In Schluderbach stationiert, wird er zum damals gefragtesten Bergführer und ist ständig mit hochkarätigen Gästen unterwegs. Zu seinem Hausberg wird der Cristallo, den er rund 300 Mal besteigt – und der ihm am genannten Augusttag auch zum Verhängnis wird.
„Hinunter vom Berg helfen eXinem alle Heiligen, hinauf kein einziger“, soll Innerkofler immer wieder gesagt haben. An diesem Tag scheinen die Heiligen anderweitig beschäftigt gewesen zu sein. Der „Dolomitenkönig“ kommt mit zwei Münchner Studenten auf dem Abstieg vom Cristallo ins Rutschen, stürzt in den Bergschrund und stirbt. Der Tod Innerkoflers ist in den kommenden Tagen das dominierende Thema in den Medien. Die Presse berichtet „von seiner Geschicklichkeit und Gewandtheit, von seiner Unerschrockenheit und Kaltblütigkeit, seiner Aufmerksamkeit und Sorgfalt, seiner Bescheidenheit und Nüchternheit“. Und von seinem finanziellen Background: „Michael Innerkofler ist ledigen Standes“, liest man, „und Hausbesitzer in Sexten, besitzt auch ein Vermögen von mehreren Tausend Gulden.“ Für die, die es ganz genau wissen wollten…
Er war der Star unter den frühen Dolomiten-Bergführern: der Sextner Michl Innerkofler (1848–1888).
Geführtes Wandern und führerloses Bergsteigen
Auch wenn mit Innerkofler 1888 der beste Kletterer seiner Zeit verunfallt, geht die Ära der Erschließung der Dolomiten weiter. Allerdings versteht man nun unter „Erschließung“ immer seltener eine Erstbesteigung und dafür immer öfter die Lenkung rasant wachsender Touristenströme, den Bau von Straßen und Hotels und die Bespaßung der von den „Bergfexen“ so argwöhnisch betrachteten „Talschleicher und Hüttenphilister“. Diese Entwicklung lässt auch die Bergführer nicht unberührt, die zwar immer noch zahllose neue Routen finden, zugleich aber auch die Bergunerfahrenen als Zielgruppe erschließen. So zieht der Bergführerberuf ständig mehr Personen an: Konnte man die Führer Anfang der 1870er-Jahre noch einzeln anführen, steigt deren Zahl in den 1880ern rapide. 1887 etwa werden in Tirol 454 autorisierte Bergführer gezählt, davon 403 in Deutschtirol und 51 in Welschtirol. „Aus dem Hirtenvolk Suldens“, schreibt Theodor Christomannos 1895, „ist eine Gemeinde von Bergführern geworden.“
Christomannos ist in dieser Phase ohne Zweifel die wichtigste Triebkraft in der touristischen Entwicklung Südtirols. Zugleich wohnen die beiden Seelen des damaligen Alpentourismus in seiner Brust: hier jene des Tourismuspioniers, der Hotel- und Straßenbauten anstößt und so erst eine Infrastruktur in den Südtiroler Bergen schafft, dort jene des Alpinisten, der auch schwierige Erstbegehungen unternimmt – in Begleitung der renommiertesten Bergführer, versteht sich. Und so betrachten die Führer Christomannos fast als einen der ihren. Als er 1911 auf dem Städtischen Friedhof von Meran beigesetzt wird, ziehen 120 Bergführer in voller Ausrüstung hinter seinem Sarg her.
Mit der von Christomannos vorangetriebenen Erschließung der Bergwelt weitet sich auch das Einsatzgebiet der Führer nach und nach aus. So wird das Wandern in autorisierter Begleitung en vogue, selbst einfachste Wandertouren und Spaziergänge – im Pustertal etwa von der Plätzwiese auf den Dürrenstein (3,50 Gulden) oder zum Pragser Wildsee (0,60 Gulden) – unternehmen die Touristen nur in Begleitung eines Bergführers. Dies weniger aus Angst vor Unfällen als mit dem Blick auf Prestige und Stand. Noblesse oblige, schließlich macht es doch niemand Geringeres als Ihre Majestät vor. Kaiserin Elisabeth liebt das Wandern und macht es salonfähig. Auch bei ihren Aufenthalten in Meran ist sie stets zu Fuß unterwegs, meist in Begleitung eines ortskundigen Bergführers, der deshalb „zum ständigen Dienst“ ins Schloss Trauttmansdorff beordert wird, „und zwar vorerst für Exkursionen im Mittelgebirge, wie sie Meran in Hülle und Fülle hat“, wie die Presse zu berichten weiß.
Von Bergführern singen
Bergführer werden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Symbol des Berglers, zur Visitenkarte Tirols und zum Aushängeschild kernigen Tirolertums. Bilder werden gemalt, Skulpturen geschaffen und sogar ein Operetten-Libretto des „Tiroler Ganghofer“ Carl Wolf trägt den Titel „Der Bergführer“.
Wer also etwas auf sich hält, geht mit Bergführern und Trägern in die Berge. Schließlich kann man es sich leisten. Wer dagegen ohne Führer aufbricht, schließt sich selbst aus der die Nase hoch tragenden Gemeinschaft der Bergsteiger aus: zu verantwortungslos, zu leichtsinnig, vor allem aber zu arm. Gegen diese elitäre Haltung regt sich in den 1880er-Jahren erster Widerstand und der richtet sich – indirekt – auch gegen die Bergführer. Junge, weniger betuchte Bergsteiger propagieren das führerlose Bergsteigen als das einzig wahre, Emil und Otto Zsigmondy etwa unterstreichen 1886 in ihrem Buch „Die Gefahren der Alpen“ die Bedeutung des Bergsteigens für die Charakterbildung, erheben den Alpinismus in den Rang einer von den Theorien Nietzsches gestützten Weltanschauung und sehen in den Bergsteigern die wirklich Starken und Freien. Und wer stark und frei ist, ist auch von keinem Führer abhängig. Im Gegenteil: Der Bergführer ist „eine lästige Fessel“, die es abzustreifen gilt. Die Bergführer geraten damit erstmals in ihrer noch kurzen Geschichte zwischen die Mühlsteine unterschiedlicher Alpinismus-Philosophien, letztendlich scheidet die Polemik die Bergsteigerwelt aber nur in geführte und führerlose Bergsteiger. Letztere übernehmen zwar immer mehr die alpinistische Führungsrolle, von Ersteren gibt es aber immer noch genug (und sogar von Jahr zu Jahr mehr), sodass die Polemik dem Aufschwung des Bergführerwesens keinen