Gisela Garnschröder

Der hölzerner Engel


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      Der Fahrtwind strich ihr das Haar aus dem Gesicht und trocknete die Tränen, die ihr ununterbrochen die Wangen hinunterliefen. Sie schniefte heftig und versuchte sich mit dem linken Arm durchs Gesicht zu wischen, es brachte nur mäßigen Erfolg und der ungebetene Tränenstrom ließ sich nicht eindämmen. Der Wagen machte einen Schlenker zur Seite, und sie schüttelte unwirsch mit dem Kopf. Das fehlte noch, wenn sie wegen dieses Idioten einen Unfall bauen würde! Energisch setzte sie sich auf und blickte auf das graue Band vor sich. Sie war schon eine gute halbe Stunde unterwegs und mindestens zwanzig Kilometer vom Ort ihrer Schmach entfernt.

      Die Bundesstraße führte hier durch leicht hügeliges Gelände. Ohne groß zu überlegen, war sie in Richtung Sauerland gefahren, dort hatte ihr Onkel, ihr einziger Verwandter, eine kleine Hütte, na, mehr schon ein Häuschen. Es lag an einem Stausee in einer Ferienhaussiedlung. Sie hatte einen Schlüssel. Onkel Franz war wie jedes Jahr für mehrere Wochen nach Mallorca geflogen.

      Thea war oft dort gewesen, meistens mit ihren Eltern oder in den letzten Jahren mit einer Freundin. Nur mit Maik war sie noch nie dort. Anfangs hatte es sie geärgert, dass er den Besitz eines Wochenendhauses als Naturtick belächelte, jetzt war sie froh darüber. So würde er sie zumindest nicht gleich finden.

      Wieder liefen die Tränen. Dieser verdammte Mistkerl. Zwei Monate vor der Hochzeit vergnügte er sich mit diesem Flittchen. Sie hatte Beate schon in der Schule nicht gemocht. Eine impertinente Person, diese blöde Zicke! Immer wenn ihr in ihrer Schulzeit ein Junge gefallen hatte, war Beate aufgetaucht. Ihrem Puppengesicht und den blonden Silberlöckchen konnte keiner widerstehen. Später trug sie hautenge Oberteile und tief ausgeschnittene Blusen, die ihre üppige Oberweite betonten. Thea musste an Andreas denken, groß, dunkelhaarig und schlaksig. Damals war sie sechzehn und er stand kurz vor dem Abitur. Er hatte ihr Mathematik erklärt, und plötzlich machte ihr sogar dieses schwierige Fach Spaß. Ihm verdankte sie eine Drei.

      Eines Tages, sie standen vor der Schule und unterhielten sich, da kam, lässig die Tasche über die rechte Schulter gehängt, Beate auf sie zu.

      »Hallo, ihr zwei«, sagte sie, hängte sich bei Thea ein und lächelte Andreas an.

      Von dem Moment an war Thea Nebensache. Beate belegte Andreas so mit Beschlag, dass er nur noch selten dazu kam, Thea bei den Aufgaben zu helfen. Dabei hatte Beate Nachhilfe gar nicht nötig gehabt. Sie war bei allen Lehrern beliebt und bekam immer gute Zensuren. Trotzdem war sie noch vor dem Abitur von der Schule gegangen.

      ›Blöde Tucke‹, dachte Thea und seufzte.

      So glücklich war sie morgens aufgewacht. Eigentlich musste sie bis Freitag arbeiten, aber gestern war der Chef zu ihr gekommen und hatte gemeint:

      »Sie haben doch sicher noch einiges vorzubereiten bis zu Ihrer Hochzeit. Nehmen Sie sich ein paar Tage frei, ich habe mich kurzfristig zu dem Kongress in Berlin angemeldet. Am nächsten Donnerstag bin ich zurück.«

      Überglücklich wollte sie dann Maik anrufen, hatte es sich aber anders überlegt. Sie wollte ihn überraschen.

      Die Überraschung war perfekt, nur leider auch für sie selbst! Sie seufzte tief, und wieder wollten die Tränen kommen, aber mit einem heftigen Schlucken unterband sie energisch den warmen Strom. Zorn breitete sich in ihrem Gemüt aus und verbannte jetzt alle anderen Gefühle.

      Sie sah Maiks entgeistertes Gesicht vor sich. Sie hatte einen Schlüssel zu seiner Wohnung. Mit einem Korb voller Leckereien fürs Frühstück war sie schon in der Frühe zu ihm gefahren. Leise war sie hineingeschlüpft und hatte sich gewundert, dass am Garderobenhaken ein grellrotes Cape hing.

      Gerade als sie überlegte, wer es wohl hier vergessen haben könnte, hörte sie leises Lachen aus dem Schlafzimmer. Sie schrak zusammen und blieb unwillkürlich stehen. Sie hörte eine weibliche Stimme.

      »Und wie stellst du dir unser Zusammensein vor, wenn du verheiratet bist? Ich habe keine Lust, wegen dieser Bauerndirn Schwierigkeiten zu bekommen.«

      »Lass mich nur machen, sie hat doch bisher nichts gemerkt, warum sollte sie dann?«

      Maiks Stimme klang selbstbewusst. Also ging das schon länger! Thea wollte gerade voller Wut ins Schlafzimmer stürmen, als sie erneut Maik vernahm:

      »Thea hat auch gute Eigenschaften, sonst würde ich sie ja nicht heiraten.«

      Mit klopfendem Herzen und mittlerweile hochroten Kopf stand Thea bewegungslos vor der Zimmertür. Den Frühstückskorb schwer am Arm. Sie hörte die Frau laut lachen, und jetzt erkannte sie Beates Tonfall.

      »Mein Gott, ich verstehe dich wirklich nicht! Sie ist so hässlich! Formlos und dürr wie eine Bohnenstange und ihr Haar erst, wie bei einem Straßenköter und wie sie sich anzieht …!«

      Thea wollte etwas tun, aber sie stand nur steif da. Dann erklang wieder Maiks Flüstern: »Komm, lass uns von etwas anderem reden.«

      Beates helles Organ platzte dazwischen: »Mein Gott, Maik, wie kannst du nur so dumm sein, sie ist sicher völlig mittellos, oder?«

      Hier wurde sie ärgerlich unterbrochen: »Sei still. Das geht dich nichts an.«

      Beate ließ sich nicht abspeisen und triumphierte: »Aha! Also doch!«

      Jetzt konnte und wollte Thea nichts mehr hören, sie drückte die Klinke heftig herunter. Wie die beiden entsetzt hochgefahren waren! Zu jeder anderen Zeit hätte sie darüber schallend gelacht. Beates volle Brüste lugten über die Decke, die sie hastig hochzog und Maik machte ein total belämmertes Gesicht.

      »Aber … aber … Thea?!«, stotterte er, und hüpfte auf die Füße, schnell mit dem Kopfkissen seine Blöße verdeckend.

      Thea staunte noch immer, wie ruhig sie in diesem Moment gewesen war! Sie zog ihren Verlobungsring vom Finger und warf ihn auf das Bett.

      »Ich wünsche weiterhin viel Vergnügen!«, sagte sie, drehte sich um und warf die Tür hinter sich zu.

      Und nun saß sie allein in ihrem Auto und fuhr durch die Gegend. Was hatte Beate gesagt? Himmel, sollte es etwa wahr sein! Aber wieso? Verflixt, so konnte es gar nicht sein! Maik Lohberg war hinter ihrem Erbe her? Warum? Wegen dem bisschen Geld, das ihre Eltern ihr hinterlassen hatten? Sie wusste zwar nicht genau wie viel, aber Maik war doch nicht arm! Er war der Sohn eines bekannten Anwalts!

      Sie kannte Maik schon länger, aber erst seit zwei Jahren, sie war damals neunzehn, waren sie zusammen. Sie konnte sich noch genau daran erinnern.

      Es war an einem kalten, nassen Oktobertag gewesen. Sie hatte gerade mit ihrer Ausbildung begonnen und musste länger arbeiten, weil wichtige Briefe verschickt werden sollten. Als sie endlich das Büro verließ, war es schon sieben Uhr abends. Sie wollte rasch eine Kleinigkeit einkaufen, aber es regnete so stark, dass sie schon auf dem Weg zu ihrem Auto völlig durchnässt war. Wie ein begossener Pudel stand sie vor dem Discount, als die Tür gerade von innen verriegelt wurde.

      »Verdammt«, fluchte sie laut, und hinter ihr antwortete jemand: »An der Tanke ist immer auf!«

      Als sie sich erschrocken umdrehte, wäre sie fast mit Maik zusammengestoßen. Sie lachten beide herzlich darüber und fuhren dann gemeinsam zur Tankstelle, kauften Spaghetti, Gehacktes, Ketchup und Wein.

      Maik lud sie zum gemeinsamen Kochen und Essen in seine Wohnung ein. Seit dem Tag waren sie ein Paar.

      Nie wäre ihr der Gedanke gekommen, Maik könne es auf ihr Geld abgesehen haben. Aber sie wäre auch nie auf die Idee gekommen, dass er etwas mit Beate hatte!

      Wenn Beate recht hätte, dann könnte es sich doch wohl nur um den Hof handeln. Maik war leidenschaftlicher Jäger. Sein Vater hatte mit einigen anderen Jägern eine größere Jagd gepachtet. Wenn er sie heiratete, würde er irgendwann in den Genuss einer eigenen Jagd kommen, wenn Onkel Franz tot war.