Lohberg, trotzdem, irgendwo in seinem Innern freute er sich über den Ausgang. Bisher hatte er die Richtige noch nicht gefunden. Vielleicht war es doch nicht so schlimm, dass er in der Bar überfallen wurde, denn sonst hätte er Thea wohl niemals kennengelernt. Zwar war sie keine dieser oberflächlichen Schönheiten mit üppiger Oberweite und blonder Mähne, die die Titelblätter der Illustrierten zierten, aber auf ihre Art durchaus reizvoll. Ihr Gesicht hatte eine etwas breite Stirn und die Wangenknochen standen ein wenig vor, doch die blauen Augen wurden von dichten, langen Wimpern verdeckt und die Brauen bildeten schmale Bögen, die über der Nase fast zusammenstießen. Die gerade geformte Nase ließ das Gesicht etwas streng erscheinen, doch ihr kleiner Mund mit den vollen Lippen war sanft geschwungen, und wenn sie lächelte, erschienen zwei winzige Grübchen auf ihren Wangen, die ihr Gesicht angenehm verzauberten.
Im Moment war sie mit ihren Gedanken weit weg, und eine steile Falte zwischen ihren Brauen kündete davon, dass diese Gedanken keineswegs freundlicher Natur waren. Um sie abzulenken, erkundigte er sich nach ihrem Onkel.
»Ist dein Onkel Landwirt?«
Irritiert schrak Thea auf und lachte dann laut.
»Landwirt?! Um Gottes willen, nein. Er ist Arzt. Er hat einen Verwalter für den Hof.«
Winters war überrascht. »Wo liegt der Hof oder darf das niemand wissen?«
Thea lachte immer noch. »Natürlich nicht, in der Nähe von Gütersloh. Direkt an einem kleinen Dorf beim Industriegelände führt die Straße zu uns. Das Haus liegt etwa drei Kilometer vom Ort entfernt.«
Winters hakte gleich nach: »Dein … äh, dieser Maik, hat der auch einen Hof?«
»Maik? Nein! Er hat ein Haus in der Stadt. Maik ist Anwalt«, erklärte sie kurz und stand dann auf. »Mir ist kalt. Ich werde etwas fernsehen.«
Winters antwortete nicht. Er war sich jetzt sicher, Lohberg schon mit einer Frau gesehen zu haben. Sein Vater hatte den Namen Lohberg einmal erwähnt im Zusammenhang mit Grundstücksverhandlungen.
Roland Winters sen. war Besitzer der ROWI-Werke, er Roland Winters jun. sollte diese Werke einmal erben. Bisher hatte ihn das nicht sonderlich begeistert. Er hatte an der Ruhruniversität in Bochum studiert und war seit einem Jahr Diplombetriebswirt. Nach dem Abitur hatte er erst eine Ausbildung zum Wergzeugmechaniker absolviert, ungern, auf Wunsch seines Vaters, um sich besser im Herstellungsbereich auszukennen. Aber er hatte meistens den verwöhnten Sohn gespielt, sehr zum Ärger seines alten Herrn. In der letzten Zeit hatte er es außerordentlich schlimm getrieben. Er war nun dreißig Jahre alt, und seine Kneipenbummel nahmen immer groteskere Formen an. Dass er so betrunken war, und nicht einmal mehr wusste, mit wem er zusammen war, und wie er in diese Gegend gekommen war, war der absolute Höhepunkt. Wenn er Anzeige erstatten wollte, würde er der Polizei keinerlei Hinweise geben können, da er sich weder an den Namen der Bar erinnern konnte, in der er zuletzt gewesen war, noch an die Personen, die ihn ausgeraubt hatten.
Er hatte auf Wunsch seiner Schwester eine Druckerei auf einem Industriegelände in der Nähe von Schloss Neuhaus besichtigt. Danach war er mit dem Geschäftsführer in die Dorfkneipe gegangen. Sie hatten mit mehreren jungen Männern gekegelt. Der Druckingenieur hatte sich längst verabschiedet. Er hatte einen Taxidienst beauftragt, seinen Wagen nach Hannover zurückzubringen. Dann hatten sie weiter gefeiert. Später war er mit den anderen Männern durch etliche Kneipen gebummelt. Er konnte sich an keinen von ihnen richtig erinnern.
An diesem Abend auf der Terrasse des kleinen Häuschens im Sauerland schwor er Besserung. Vielleicht, wenn Thea wirklich diesem Anwalt den Laufpass gab, könnte er sich ja revanchieren und sie einmal zu einem Essen einladen.
Er saß so in Gedanken versunken auf der kleinen Terrasse, dass er gar nicht bemerkte, dass es allmählich dunkel wurde. Erst als der Mond als dünne Sichel hinter den hohen Bäumen auftauchte, raffte sich Winters auf und ging hinein.
Drinnen war alles still. Im Halbdunkel sah er sich nach einem Schalter um. Als er Licht gemacht hatte, entdeckte er einen Zettel auf dem Wohnzimmertisch.
›Ihr Zimmer ist rechts neben dem Bad. Thea‹
Er war erstaunt über die förmliche Anrede, war es nur ein Versehen oder sollte es einen besonderen Abstand verdeutlichen? Verärgert knüllte er den Zettel zusammen. Sie glaubte doch wohl nicht, dass er die Situation ausnutzen würde. Er schloss leise die Terrassentür und löschte das Licht. Langsam tastete er sich durch den fast dunklen Raum zur Treppe. Oben angekommen sah er eine Tür rechts neben dem Bad weit geöffnet. Ein weiterer Hinweis nur ja nicht im falschen Raum zu landen.
Bestimmt hatte sie auch noch ihre Tür verschlossen! Roland Winters zog geräuschlos die Zimmertür hinter sich zu, die gute Stimmung, die ihn den ganzen Nachmittag begleitet hatte, war dahin.
Am anderen Morgen wurde er schon früh durch das Gurren einer Taube geweckt. Zu seinem Erstaunen hatte er tief und traumlos geschlafen. Hastig stand er auf. Es war schon taghell. Zu dumm, dass er keine Uhr hatte! Aber sicher war es schon sieben.
Leise schlich er aus dem Zimmer ins Bad. Nach der Morgentoilette ging er gleich nach unten. In der Küche hörte er Thea rumoren.
»Na, gut geschlafen?«, erkundigte sie sich fröhlich, als er eintrat.
Sein Blick fiel auf die Küchenuhr. »Oh, so spät schon?«, fragte er schuldbewusst, denn es war fast acht.
Es duftete nach frischem Kaffee und in einem Korb standen knusprige Brötchen auf dem Tisch. Einladend wies Thea auf den Stuhl neben sich und lächelte.
»Im Urlaub muss man schließlich ausschlafen, oder?«
Sie hatte sich schon ein Brötchen mit Marmelade geschmiert und biss herzhaft hinein. Zögernd nahm er Platz, und Thea schenkte Kaffee ein.
»Milch und Zucker?«
Er nickte und verspürte augenblicklich einen entsetzlichen Hunger. Das Frühstück war genau nach seinem Geschmack. Es gab neben Marmelade auch verschiedene Sorten Wurst und Schinken, Tomaten und ein gekochtes Ei für jeden.
»Tolles Frühstück«, bemerkte Roland anerkennend.
»Ein gutes Frühstück verträgt jeden Tag, hat mein Onkel immer gesagt, und ich glaube, er hat recht«, schmunzelte Thea.
»Ein kluger Mann, Ihr Onkel!«, murmelte Roland, absichtlich förmlich, da er sich plötzlich an ihren Zettel vom Abend vorher erinnerte.
»Oh, so förmlich heute?«, belustigte sich Thea. »Ich dachte, wir waren per du.«
Roland hatte gerade den Mund voll, das gab ihm Zeit. Als er dann mit einem Schluck Kaffee nachgespült hatte, meinte er mit unschuldiger Miene:
»Oh, Pardon, Thea, ich glaube, ich bin heute noch etwas verschlafen.«
Er lächelte ihr zu und Thea fragte sich, warum zum Teufel dieser Typ überraschend rot wurde und, um ihre eigene Verlegenheit zu verbergen, stand sie auf und lenkte ab:
»Möchtest du noch etwas Kaffee?«
Roland beeilte sich, zuzustimmen.
Nach dem Frühstück ging er auf die Terrasse und genoss die warme Sommerluft. Es war ein strahlend schöner Tag und irgendwie bedauerte er, dass er schon bald abgeholt werden sollte. Just in diesem Augenblick fuhr ein Wagen vor und auch ohne hinzuschauen, erkannte er am Klang den knallroten Porsche seiner Schwester. Schnell ging er ins Haus, um sich von Thea zu verabschieden. Den missbilligenden Blick seiner Schwester wollte er ihr ersparen. Marianne konnte manchmal so gnadenlos direkt sein.
Zu spät! Thea war schon hinausgegangen und blickte interessiert auf den roten Flitzer. In ihrem etwas verblichenen Jogginganzug wirkte sie wie ein Aschenputtel gegen die elegante Dame, die gerade aus dem Auto stieg. Als Roland Thea bei ihr stehen sah, hatte er das Gefühl, sie beschützen zu müssen. Zum Teufel mit diesen aufgedonnerten Frauen, die alle anderen wie Mauerblümchen aussehen ließen. Verärgert strebte er an Thea vorbei, auf seine Schwester zu: »Marianne, du bist schon da! Dann kann es ja gleich losgehen.«
Marianne Winters nahm lässig ihre Sonnenbrille ab und blickte neugierig um