durchs Haus.
»Zum Donnerwetter! Gib das Ding her!«, brüllte Alfons Weiß und lief hinter seinem Sohn her. Der Kleine rannte hinaus in den Garten. Bevor er unter einem Nussstrauch verschwinden konnte, hatte sein Vater ihn am Pullover erwischt. Er packte den sich heftig wehrenden Jungen mit festem Griff und entwand ihm die Pistole. Sven zappelte und trat seinem Vater vor das Schienbein. Weiß klemmte sich den Jungen unter den Arm und brachte ihn ins Haus.
Andrea Weiß hatte mit gerunzelter Stirn ihre rothaarigen Kampfhähne beobachtet. Als sie jetzt im Wohnzimmer aufkreuzten, baute sie sich, die Hände in die Hüften gestemmt, vor ihnen auf.
»Ihr benehmt euch, wie kleine Kinder.« Mit einem zornigen Blick auf ihren Mann, der seinen Sohn nun wieder auf die Füße gestellt hatte, schnappte sie sich die Pistole.
»Sven, woher hast du die Pistole?«
»Gefunden.«
Sven schaute auf seine Fußspitzen. Andrea ging vor ihrem Sohn in die Hocke.
»Eine Pistole ist etwas ganz Gefährliches. Ich möchte nicht, dass du damit spielst.«
Sie schloss ihrem Sohn in die Arme und drückte ihn fest an sich. Alfons stand unentschlossen neben den beiden. Sven schaute seine Mutter trotzig an.
»Papa hat auch eine Pistole!«
»Ich bin Polizist!«
Alfons Weiß hatte sich ebenfalls hingehockt. In diesem Moment erklang ein gedämpftes Hupen.
»Das ist Jupp«, schrie Sven, und die Pistole war vergessen. Er rannte hinaus. Seine Eltern sahen einander etwas ratlos an. Kurz darauf kam Josef Tann mit Sven auf der Schulter herein. Er setzte ihn lachend ab und meinte: »Du bist ganz schön schwer geworden!«
Er fasste in seine Tasche und holte ein kleines Polizeimotorrad hervor. »Schau mal, was ich dir mitgebracht habe.«
Sven nahm das Fahrzeug und betrachtete es ausgiebig. »Wow, man kann sogar den Lenker bewegen.« Er setzte sich auf die Erde und schob das Krad hin und her.
»Sven, was sagt man denn?«, erinnerte ihn seine Mutter vorwurfsvoll.
»Danke, danke!«, alberte Sven herum und fuhr energisch fort: »Ina kriegt das nicht! Das gehört mit!«
»Natürlich gehört es dir«, bestätigte Josef Tann. »Alfons wir müssen los.«
Weiß gab seiner Frau einen Kuss, und zu seinem Sohn sagte er schelmisch mit dem Finger drohend:
»Bleib artig und pass auf Mama und Ina auf.«
Als sie im Auto saßen, frotzelte Tann: »Knies gehabt?«
»Knies? Nee, das nicht! Aber der Kleine hat seine Trotzphase. Andrea kriegt ihn nicht in den Griff.«
»Andrea?! Ich hatte eher den Eindruck, du kriegst ihn nicht in den Griff!«, lachte Tann.
»Egal, der Bengel macht im Moment nur Theater. Hatte sich von seinem Freund eine Plastikpistole ausgeliehen, um seine Mutter zu ärgern.«
Weiß lenkte den Wagen vorsichtig um einen abgestellten LKW herum. Die stark gewundene Straße war hier sehr schmal und wurde beidseitig von hohen Linden gesäumt. An einigen Bäumen waren Spuren von Kollisionen zu sehen. Die Fahrbahn war schlecht, alle dreihundert Meter standen Warnschilder. Trotzdem wurde die Straße von Motorradfans gern als Rennstrecke benutzt.
»Was du immer hast. Ich finde Sven ist eben ein richtiger Junge«, meinte Tann.
»Kannst ihn dir ja mal ausleihen«, brummte Weiß. Als er Tanns Grinsen sah, setzte er hinzu: »Ina war jedenfalls in dem Alter nicht halb so schlimm.«
»Ina war genauso ein Racker. Wenn ich an die Geschichte mit der Maus denke.« Tann schmunzelte.
Ina Weiß war im Alter von vier Jahren mit einer Maus in der Tasche ins Wohnzimmer gekommen und hatte sie bei ihrer Mutter auf dem Schoß laufen lassen. Das Mäuschen wollte sich instinktiv verstecken und war Andrea Weiß in den Ausschnitt gehüpft. Riesenspektakel im Hause Weiß war die Folge.
Alfons Weiß sah seinen Kollegen verärgert an. Die Mausgeschichte hatte eine ganze Zeit lang zur Erheiterung der Bekannten und Verwandten gedient. Seine Frau hatte kurzerhand die Koffer gepackt und war drei Wochen bei ihrer Mutter geblieben. Weiß wurde ungern daran erinnert.
Tann lehnte sich zurück und genoss es, sich fahren zu lassen. Er hatte die Seitenscheibe geöffnet und der Fahrtwind blies herein. Sie fuhren in Richtung Autobahn.
Der Hof Osthager lag etwa drei Kilometer von der Autobahnbrücke entfernt, an der sich Susanne Gressmer umgebracht hatte. Es war warm. Kommissar Weiß hatte den Wagen vor der Scheune abgestellt. Tann stieg aus und ging zielstrebig auf die eine kleine Seitentür zu. Weiß blieb im Wagen.
In der Scheune war es heller als erwartet. Von der anderen Seite ließen nachträglich eingebaute große Fenster viel Licht herein. Es herrschte ein ziemliches Durcheinander. Der Boden war von Sägespänen und Holzstücken übersät. Vor einem schweren Holztisch in der Mitte stand ein schlanker, junger Mann. Sein dunkles, lockiges Haar war fast schulterlang. Er arbeitete ohne aufzusehen weiter, als Tann eintrat. Interessiert betrachtete Tann eine fast lebensgroße Madonna.
»Gut Arbeit!«, lobte er. »Ist die Figur für eine Kirche bestimmt?«
Der junge Mann hob seinen Kopf und nickte. Tann ging nun direkt zu ihm hin zeigte seinen Ausweis.
»Tann, Kommissar Tann. Sind Sie Georg Osthager?« Ein weiteres Nicken war die Antwort. Tann hielt ihm ein Foto hin.
»War dieses Mädchen schon einmal hier in der Werkstatt?«
Osthager betrachtete das Foto und gab es ihm zurück.
»Ja, sie war hier. Mit ihrer Freundin.«
»Wollte sie etwas kaufen, oder kamen die Mädchen nur um sich umzusehen?« Osthager hatte seinen Meißel auf den Tisch gelegt und zuckte mit den Schultern.
»Ob sie etwas gekauft haben, weiß ich nicht«, sagte er bedächtig jedes einzelne Wort betonend.
»Waren sie häufig da?«
Wieder nickte Osthager und Tann überlegte, wo er ihn schon einmal gesehen hatte.
»Frau Gressmer sagte, ihre Tochter habe von Ihnen einen hölzernen Engel geschenkt bekommen. Stimmt das?«
Gerade als sein Gegenüber antworten wollte, öffnete sich die Tür und eine erboste Stimme erscholl:
»Machen Sie, dass Sie wegkommen, und lassen Sie meinen Bruder in Ruhe.«
Bekleidet mit einem karierten Hemd, einer Latzhose und Gummistiefeln erschien ein weiterer Mann in der Scheune. Er trug eine Mistgabel in der Hand und baute sich vor Tann auf.
»Sie sind schon der Zweite in dieser Woche, der meinem Bruder etwas ans Zeug flicken will.«
Tann hob abwehrend die Hände und zog seinen Ausweis hervor.
»Ich habe nur ein paar Fragen an Ihren Bruder. Vielleicht können Sie mir auch weiter helfen.«
Tann zeigte das Bild von Susanne Gressmer.
»Ist Ihnen etwas aufgefallen, als dieses Mädchen hier war? Hatte sie vielleicht einen Freund dabei?«
Georg Osthager begann wieder mit seiner Schnitzarbeit. Sein Bruder schaute einmal kurz zu ihm hin und meinte dann:
»Das Mädchen war ein paar Mal bei uns. Sie fühlte sich hier wohl. Meistens war eine Freundin dabei. Oft kam sie auch allein. Schorsch mochte sie.«
Er hatte leise gesprochen. Sein Bruder arbeitete weiter.
»Im Zimmer des Mädchens wurde ein hölzerner Engel gefunden. War der von Ihrem Bruder?«
Tann betrachtete prüfend das Gesicht seines Gegenübers.
Schorschs Bruder war von kräftiger Statur, er trug sein Haar kurz. In seinem Gesicht rührte sich kein Muskel. Er überlegte