Gisela Garnschröder

Der hölzerner Engel


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regelte. In einigen Wochen, gleich nach ihrer Hochzeit, ihrer geplanten Hochzeit, dachte sie grimmig, wenn sie einundzwanzig Jahre alt wurde, sollte sie über ihr Erbe verfügen können. Obwohl sie schon mit achtzehn volljährig war. Ihr Vater hatte es so bestimmt. Es konnte sich aber nur um Bargeld handeln. Davon besaß Maik garantiert genug, denn er hatte erst vor zwei Wochen einen tollen Wagen gekauft. Und überhaupt, das Testament war nicht einsehbar. Maiks Vater hatte ihr gesagt, der Erbvertrag wurde versiegelt. Erst am Tag ihres einundzwanzigsten Geburtstages dürfe der Notar das Siegel brechen. Also konnte Maik gar nichts wissen! Alles Angeberei! Sollte er doch selig werden mit dieser Tussi!

      Der Gedanke an ihr Erbteil ließ sie nun nicht mehr los und lenkte sie von ihrem Ärger ab. Theas Vater stammte von einem Gutshof, der Onkel Franz, dem Bruder ihres Vaters, gehörte. Das heißt, er beaufsichtigte den Hof nur, denn er war Arzt, besser gesagt, Chefarzt am städtischen Krankenhaus. Da er keinen Wert auf den Hof legte, ließ er ihn von einem Verwalter bewirtschaften und hatte die Jagd, die dazugehörte, verpachtet. Sie würde den Hof frühestens nach Onkel Franz‘ Tod erben. Da ihr Onkel sich hervorragender Gesundheit erfreute und erst vierundvierzig Jahre zählte, dürfte das wohl vorläufig nicht in Betracht kommen. Wenn er noch heiraten würde und selbst Kinder hätte, wäre das auch vorbei.

      Sie schüttelte den Kopf. Das war kein Grund jemanden zu heiraten, den man nicht liebte. Warum dann?

      Das Erbteil ihrer Mutter hatte sie bereits mit achtzehn Jahren erhalten. Von der Seite war nichts mehr zu erwarten, obwohl auch ihre Mutter von einem großen Hof stammte. Aber die Großeltern waren früh gestorben und als einzige Tochter hatte die Mutter bei ihrer Heirat den Hof verkauft und das Geld größtenteils in die Unternehmungen des Vaters gesteckt. Bei dem Bargeld, welches sie mit achtzehn bekommen hatte, handelte es um festverzinsliche Rentenpapiere, deren Erlöse sie für Extraanschaffungen wie eine Wohnungseinrichtung und ihr Auto genutzt hatte.

      Die Grübeleien hatten die Tränen versiegen lassen und langsam rollte das mintgrüne Käfercabrio durch die kurvenreiche Straße in Richtung Arnsberg. Der Wald war dicht. Bis zur Hütte würde sie noch mindestens eine Stunde brauchen, deshalb wollte sie kurz anhalten. Sie parkte den Wagen am Anfang eines Waldwegs vor einem Schlagbaum, der halb mit einem üppigen Holunderbusch zugewachsen war.

      Jede andere Frau hätte sicher Angst gehabt allein mitten im Wald, nicht so Thea. Sie hatte immer auf dem Hof ihrer Eltern gelebt. Als sie siebzehn war, verunglückten ihre Eltern bei einem Verkehrsunfall tödlich. Thea blieb auf dem Hof. Das große Haus verfügte über zwei riesige Wohnungen mit getrennten Eingängen. Eine wurde von ihrem Onkel bewohnt, die andere Wohnung gehörte ihrer Familie.

      Als die Eltern starben, stand Onkel Franz ihr mit Geduld und Liebe zur Seite und drängte sie, die geräumige Wohnung zu behalten. Heute war sie froh darüber. Sie hatte ihr Abitur gemacht und dann in einem Zeitungsverlag ihre Ausbildung als Verlagskauffrau begonnen. Ihre Arbeit gefiel ihr und ihre Freizeit verbrachte sie auf dem Hof. Sie liebte Gartenarbeit, war eine hervorragende Reiterin und stromerte gern durch Feld und Wald. Sie liebte das Alleinsein. Obwohl sie mit Maik zusammen war, hatte sich daran nicht viel geändert. Sie gingen zusammen aus, verbrachten die Wochenenden miteinander, aber sonst führte jeder sein eigenes Leben. Nach der Hochzeit wollte sie in Maiks Wohnung ziehen. Maik verfügte über ein Haus mit sechs Zimmern. Es würde reichlich Platz für sie beide da sein.

      Das hatte sich nun wohl erledigt, dachte Thea resigniert und schlüpfte durch die Bäume ins Unterholz.

      Nach kurzer Zeit kam sie wieder hervor und zupfte sich kleine Äste und Tannennadeln von der Kleidung. Sie holte ihren Taschenspiegel und einen Kamm aus ihrer Handtasche. Prüfend betrachtete sie ihr Spiegelbild. Die Tränen hatten ihr Make-up verwischt. In ihrem Haar hatten sich kleine Blättchen verfangen. Sie fuhr mit dem Kamm kräftig durch den dichten Schopf und schüttelte ihn energisch. Dann schnitt sie ihrem Spiegelbild eine Grimasse und steckte ihr Handwerkszeug wieder ein.

      ›Wie ein Straßenköter‹, hatte Beate gesagt. ›Na ja‹, dachte Thea beleidigt, ›mein Haar ist wirklich nicht schön, dicht und fest wie Stroh und von einer Farbe, ein komisches, dreckiges Blond, eben straßenköterblond!‹ Ob eine Tönung helfen würde? Unsinn, wozu? Nun war das sowieso egal. Sie würde Maik nicht heiraten, niemals.

      Langsam schlenderte sie zu ihrem Auto zurück. Sie musste an ihren Vater denken. Sie hatte ihn geliebt. Es schmerzte sie heute noch, wenn sie daran dachte, dass er nie mehr den Arm um ihre Schultern legen und aufmunternd ihr Haar streicheln würde. Er hatte spitzbübisch gegrinst und sie aufgemuntert, wenn sie mit sich nicht zufrieden war:

      »Komm, Prinzessin, mach nicht so ein Gesicht! Bald wird ein junger Mann kommen und dich mir wegnehmen. Ich bin schon jetzt eifersüchtig. Hoffentlich vergisst du deinen alten Vater dann nicht ganz!«

      Das war kurz vor seinem Unfall gewesen. Ihr Vater hatte ihr immer das Gefühl gegeben, etwas Besonderes zu sein.

      »Ach, Papa«, wisperte Thea, »was soll ich nur tun?«

      Erneut kamen ihr die Tränen. Es hatte keinen Zweck, an alte Zeiten zu denken. Sie musste sich der Realität stellen und Tränen machten alles nur noch schlimmer. Sie wischte sich übers Gesicht und ging zu ihrem Auto. Sie hatte den Wagen nah an den Holunderstrauch gefahren. Jetzt bemerkte sie unter dem Strauch ein Haufen dreckiger Kleider.

      ›Tja, da hat mal wieder jemand seinen Müll abgeladen‹, dachte sie und wollte einsteigen. Dann schrak sie zusammen. Unter dem Kleiderbündel schaute ein Schuh heraus, nein, nicht nur ein Schuh, ein Fuß steckte in dem Schuh! Ihr wurde ein wenig mulmig zumute. Behutsam trat sie näher.

      »He«, sagte sie laut und stieß leicht an den Schuh. Sofort wurde der Schuh eingezogen und ein schmutziges Gesicht tauche aus dem Strauch auf.

      »Lass mich in Ruhe!«, knurrte der Mann sie an und rollte sich mit angezogenen Beinen wieder unter die dichten Blätter.

      »He, Sie können doch hier nicht so liegen bleiben. Sind Sie verletzt?«

      Theas Herz klopfte vor Angst. Sie schüttelte den Mann leicht. Stöhnend kroch er unter dem Laub hervor. Er war nicht alt, vielleicht dreißig. Seine Kleidung bestand nur aus einem mit Flecken übersäten Pullover und einer speckigen Jeans. Sein Gesicht war ebenfalls nicht gerade sauber zu nennen und sein Haar blutverklebt. Vorsichtig tastete er sich hoch.

      »Was? Wer sind Sie?«, fragte er unsicher.

      Jetzt hatte Thea das Gefühl, der Mann sei betrunken, und der Anflug von Angst war urplötzlich verschwunden. In ihr wuchs eine Wut auf den Mann vor ihr, auf alle Männer, der ganze Ärger dieses Morgens entlud sich auf die arme Kreatur vor ihren Füßen:

      »Sie unverschämter Kerl! Sie sollten sich schämen, hier im Dreck zu liegen. Fast hätte ich meinen Wagen auf ihre Füße gestellt. Sie … Sie Idiot. Alter Säufer! Sie … Sie … Straßendreck, Sie!«

      Sie verlor den Faden und hielt abrupt inne. Der Mann hatte sich aufgesetzt und starrte sie an. Er hatte große braune Augen mit kleinen, gelben Tupfen darin.

      Erschrocken über ihren Wutausbruch senkte Thea den Kopf und schwieg. Langsam und wankend erhob sich der Mann. Er war fast einen ganzen Kopf größer als Thea. Unter dem Schmutz war sein Gesicht kalkweiß geworden. Seine Hände zitterten. Er versuchte eine knappe Verbeugung, die aussah, als suche er irgendwo Halt und sagte:

      »Ich, äh ich wollte Sie nicht erschrecken. Würden Sie … könnten Sie mich bis zum nächsten Gasthof mitnehmen?«

      Thea betrachtete ihn stirnrunzelnd. ›Na, der muss ja gebechert haben‹, dachte sie. Wie er wohl hierhergekommen war? Was ging sie das an?! Aber mitnehmen? Stets hatte Onkel Franz sie beschworen, nur ja keine Anhalter mitzunehmen. Und nun? Der Mann brauchte Hilfe. Wie ein Verbrecher sah er eigentlich nicht aus. Obwohl man sich da natürlich sehr täuschen kann, dachte sie mit dem Anflug eines Lächelns. Der Mann hatte sich nun etwas gefangen und deutete ihr Lächeln als Zustimmung.

      »Ich würde Sie selbstverständlich bezahlen«, beteuerte er.

      Sie musterte ihn erstaunt und meinte sarkastisch: »Wenn Sie Geld hätten, ganz bestimmt!«

      Dann ging sie ohne weitere