Gabriele Behrend

DIE LIEBESMASCHINE


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Schuld. Sie hatte sich abgewandt von der Bühne, hatte freiwillig ihr Leben aufgegeben, sie hatte es nicht besser verdient. So dachte sie und fühlte sie und so verkümmerte sie allmählich, verlor ihren Glanz und ihre Besonderheit. Grau wurde sie, unsichtbar.

      Zidat fing an, sie zu übersehen. Er suchte neue Reviere auf, erkundete neue Körper, kostete neues Fleisch. Mias großäugige Sehnsucht, ihr stilles Betteln, ihre stumme Selbstaufgabe, alles das hingegen wurde ihm lästig.

      Eines Abends, als Mia versuchte ihn zu umarmen und zu küssen – kalt war ihre Welt geworden, so ganz ohne ihn –, da schob er sie auf Armeslänge von sich und musterte sie stumm. Sein Blick wanderte über verschwitzte Haarsträhnen, müde Augen mit tiefen Ringen darunter, die Haut war grau und fleckig geworden. Er stieß sie von sich, griff in seine Hosentasche und zog ein Bündel Geldscheine heraus. Er drückte es ihr in die Hand. Dann drehte er sich herum. »Wenn ich morgen wiederkomme, bist du verschwunden. Verstanden?«

      Mia starrte erst die Scheine, dann ihn an. Ihr fehlten die Worte. Stumm bewegten sich ihre Lippen, die über zu viele Fragen stolperten. Schließlich brachte sie ein einziges »Warum?« hervor.

      Er hatte die Hand schon auf der Türklinke liegen. »Es läuft schon seit einiger Zeit nicht mehr rund, das merkst du doch selber. Warum sich also noch länger etwas vormachen?«

      Dann blickte er doch über seine Schulter zu ihr hin. »Vielleicht nimmt dich ja der Alte zurück.« Er musterte sie ein letztes Mal, dann schüttelte er den Kopf, stieß die Tür auf und verschwand.

      Das war das letzte Mal, dass sie Zidat sah.

      Requiem

      Mia kniet noch immer auf dem Boden, die Hände mit den Elektroden auf den Handinnenflächen weit von sich gestreckt. Alles ist still, bis auf das Hintergrundrauschen. Die Menschen um sie herum beginnen sich fragend anzusehen. Was soll das? War das schon alles?

      Da wandern die Hände wieder zu Mias schmerzverzerrtem Gesicht. Die Fingerkuppen streichen über die Augenlider, wischen über die tiefen Sorgenfalten auf der Stirn. Die Elektroden funken die Veränderungen des Hautwiderstandes an den Rechner, jetzt wo der Kontakt wieder hergestellt ist. Die Töne erklingen neu, formieren sich zu einem Requiem. Und da fließen Tränen, echte Tränen, die auf ihre Weise Zwischentöne produzieren, die die Musik erheben. Aus Schein wird Sein. Mias Trauer greift um sich, lässt niemanden im Raum unberührt. Die Hände wandern wieder tiefer, sie schlingt die Arme um sich, Halt suchend. Es ist niemand mehr da, der sie beschützt. Das muss sie von nun an selber übernehmen.

      Im Publikum halten sich die Paare an den Händen, als ob sie damit Mias Schicksal von sich abwenden könnten. Es würde sie vielleicht sonst infizieren.

      Mia streckt sich auf dem Boden aus, dreht sich auf die Seite und rollt sich ein. Ihre Hände streichen weiterhin über ihre Haut, ganz sanft. Die Töne tropfen bedächtig in die Luft hinein. Das Schluchzen ebbt ab.

      Intermezzo

      Als Mia ihre Sachen gepackt hatte, war ihr die Karte von Ou’mar wieder in die Hände gefallen. Vielleicht hatte Zidat ja recht, vielleicht nahm Ou’mar sie zurück. Hatte er nicht gesagt, er sei immer für sie da? Sie wählte seine Nummer.

      Es klingelte, niemand hob ab. Stattdessen ertönte eine Jungmädchenstimme, die auf die aktuellen Tourdaten hinwies, inklusive der Zusatzkonzerte aufgrund der hohen Nachfrage. Mia legte auf. Ou’mar hatte also längst ein neues, unverbrauchtes Instrument entdeckt. Da gab es keinen Platz für sie.

      Mia wusste nicht mehr genau, wie sie die nächste Zeit überstand. Sie verhärtete sich gegenüber der Welt, verschloss ihr Herz vor allem und jedem, am meisten aber vor sich selbst. Irgendwie musste sie die Dinge zusammenhalten, ins Laufen bringen, jetzt ging es ums Überleben. Und das gelang ihr irgendwie – tagsüber.

      In den Nächten aber kamen die Albträume. Sie sah von oben auf eine Bühne herab, auf einen Tisch, auf dem sie selber lag, so wie früher. Das Instrument, das bereit war, bespielt zu werden. Sie sah gesichtslose Menschen um sie herum, Menschen, die sie berührten. Sie antwortete mit Musik, aber die Menschen hörten sie nicht. Wilder wurden die Gesichtslosen, rauer, grobschlächtiger. Sie fielen über sie her, spalteten sie mit ihren Zungen und Geschlechtern, zerrissen sie auf der Bahre, bis schließlich der letzte Ton von ihrer Haut tropfte, so wie der letzte Tropfen Blut.

      Mia lag dann schweißgebadet im Bett. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in die Nacht hinein und spürte das Herz bis zum Hals schlagen. Sie wagte nicht wieder einzuschlafen, aus Angst vor den Bildern, die sie erwarteten.

      Erst als sie sich zaghaft selber berührte, fand sie wieder zu sich. Also überließ sie sich ihren Händen, zögernd erst, dann immer mutiger, bis sie sich aufbäumte, tief Luft holte, und eine Mattigkeit ihren Körper erfüllte, die sie aus glücklichen Tagen kannte.

      Die Sehnsucht nach der Musik erwachte in ihr. Für Schuldgedanken gab es schon bald keinen Platz mehr in ihrem Denken und Wünschen. Und so setzte sie den Rest ihrer Barschaft auf eine Karte. Kaufte die Ausrüstung. Übte die Handgriffe. Lief sich die Hacken wund, bis ein Club sie auf den Veranstaltungsplan setzte …

      Rondo

      Mia dreht sich mit geschlossenen Augen auf den Rücken, streckt sich langsam und sehr achtsam. Das linke Bein winkelt sie ab. Dann lässt sie ihre Hände erneut über sich gleiten. Ihre linke Hand liebkost ihre Wange, ihren Hals. Die Rechte streichelt über ihre Brust, gleitet über den Bauch, wandert tiefer noch. Ihre Hände erwecken ihren Körper wieder zur Musik. Und wieder verändern sich Ton und Klangfarbe. Die Trauer wandelt sich in einen Auferstehungsmarsch. Die Töne reihen sich kraftvoll aneinander. Mia windet sich unter ihren Fingerspitzen, vergisst sich und alles was hinter ihr liegt, gibt sich der Musik hin und wird auf diese Weise wieder zu dem reinen Instrument, das sie einst war. Doch diesmal ist sie ihr eigener Spieler und sie kennt sich ganz genau. Sie weiß, welche Geschichten unter ihrer Haut lauern, sie hat etwas zu erzählen. Und die Menschen hören ihr zu.

      Die Zeit der Albträume ist vorbei. Mia spielt sich zurück in ihre Welt. Jede Kadenz, jede Sequenz, jede Tonfolge bringt sie ihrem alten Ich näher. Doch wo vorher das allzu Helle tirilierte, dominieren jetzt die warmen, reifen Töne. Sie ist samtiger geworden, dabei aber kraftvoller als in den Jahren, die sie mit Ou’mar verbrachte. Das Publikum erkennt es, goutiert es. Folgt dem Lauf ihrer Töne mit angehaltenem Atem.

      Als sie sich schließlich unter ihren Händen aufbäumt und zitternd zur Ruhe kommt, kann sie nicht ehrlicher sein, zu sich, zu ihrem Publikum, das diese Ehrlichkeit mit wildem Applaus belohnt. Dann richtet sich Mia auf, schnellt auf ihre Füße, hebt die Hände an die Schläfen und schaltet die Funkübertragung aus. Ihr Körper schweigt still, das Hintergrundrauschen ist verstummt.

      Für einen Moment herrscht Ruhe – dann rollt der Schlussapplaus in Wellen über Mia hinweg, reißt sie mit sich und treibt ihr Tränen der Dankbarkeit in die Augen. Sie fühlt sich dizzy und frei und losgelöst von aller Erdenschwere.

      Sie ist wieder da.

      Und sie wird bleiben.

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