Also musste er andere Worte finden. Nach einem Moment räusperte er sich. »Weil es mir wehtut, wenn du mich nicht an deinem Leben teilhaben lässt.«
Mia lächelte. »Das ist alles?«, fragte sie dann. »Deswegen machst du hier so einen Aufstand?« Sie lachte leise. Dann fiel sie ihm um den Hals. »Wenn es dir so wichtig ist, dann werde ich dich von nun an mit meinen Sorgen überschütten.«
»Ich freue mich darauf«, raunte er ihr ins Ohr und zog sie noch fester in seine Arme. Triumph funkelte in seinen Augen, als er Ou’mars Zimmertür mit einem letzten Blick streifte, bevor er Mia auf seine Arme hob und sie in ihr gemeinsames Zimmer brachte.
Exposition
Das war der Anfang vom Ende gewesen, erinnert sich Mia, als sie mit ihren Fingern ihren Hals entlang fährt. Eigentlich sollte sie jetzt, nach dem Einstimmen, hell erklingen, doch scheint ein Schatten über ihrer Klangfarbe zu liegen, die alles in Moll taucht. Das 3-D-Rauschen reagiert darauf, es zieht sich in den Hintergrund zurück, wird tiefer und dunkler noch als ohnehin. Wie wird das Publikum darauf reagieren? Ihre Hände stocken in der Bewegung, die Tonfolge bricht ab. Panik steigt in Mia hoch. Soll sie abbrechen und fliehen? Oder sich stellen? Wem oder was stellen? Sie schluckt gegen die trockene Kehle an, holt zitternd Luft und ballt die Fäuste. Ein dissonantes Lärmen antwortet. Erschrocken hebt sie die Hand an die linke Schläfe, schon will sie die Funkverbindung unterbrechen, da ist ihr, als stünde Zidat direkt vor ihr, mit missbilligendem, tadelndem Blick. Sie reagiert erst mit Unwillen. Die Dissonanz schrillt auf, doch dann beruhigen sich die Töne. Sie setzen sich einzeln voneinander ab. Mia wird wieder ruhiger, lässt die Hand sinken. Sie starrt immer noch den imaginären Zidat an, während sich der Ärger in ihr zur Trauer formt. Und Mia begreift allmählich, während die tiefen Töne von ihrer Haut tropfen. Endlich hat sie die wahrhaftige Emotion in sich gefunden. Das Gefühl, das sie sich ein Jahr lang nicht eingestehen konnte.
Mia dreht sich langsam zum Publikum herum. Sie wird die Menschen an ihrem Leben teilhaben lassen, an ihrem Kummer. Doch um sie zu erreichen, muss sie ehrlich sein. Schluss mit aller Imitation. Mit einer fließenden Bewegung öffnet sie den Reißverschluss ihres Catsuits und streift die mitternachtsblaue Hülle von ihrem Körper. Man hört vereinzeltes Seufzen, ein Raunen geht durch die Reihen. Endlich ist Mia wieder Mia, so wie man sie kennt. Die Atmosphäre verändert sich, wird dichter und wärmer. Mia fühlt sich willkommen. Endlich kann sie loslassen.
Und so fängt sie an, den Menschen von ihrer Liebe zu erzählen. Das tut auf einmal gar nicht weh, nicht wie in all den Monaten vorher. Nein, diese Liebe ist heiter, flirrend, ein Lachen auf dem Sprung, ein Sonnenstrahl, der die Nasenspitze kitzelt. Mia wiegt sich mit geschlossenen Augen, fängt an zu tanzen, zu springen. Dann kommt Zidat ins Spiel der Erinnerung und die Liebe wird anders, verzehrt sich. Die Töne werden dunkler, die Bewegungen hektischer. Da blitzt Leidenschaft auf, ein aggressiver Unterton, der vorher nicht mitklang. Mia birgt das Gesicht in ihren Händen, bevor diese über ihren Körper gleiten. Diesmal allerdings hungrig zupackend, bar aller Zärtlichkeit. Mia gehört nicht länger sich selber, sie wird zum Objekt unter diesen Händen, die nicht mehr die ihren sind – doch sie lässt es zu, ist biegsam unter dem Griff, versucht immer noch die Harmonie herzustellen und das hört man auch. Die Menschen bleiben von diesem Ringen nicht unberührt. Manch einer der Männer ballt die Faust im Zorn, als rote Striemen auf Mias Haut sichtbar werden. Manch eine Frau blickt den Mann an ihrer Seite an, nachdenklich, sinnierend, erschrocken. Man erkennt sich wieder in dem Gerangel und nicht jeder weiß, wie er darauf reagieren soll.
Doch Mia gibt ihnen eine Antwort. Sie befreit sich schließlich von Zidat, von seiner Liebe – sie löst die Hände von sich und alles wird still. Nur das Rauschen im Hintergrund läuft weiter.
Mia hockt auf dem Boden, alle Blicke ruhen auf ihrem misshandelten Körper. Und alle folgen ihr in die Stille hinein.
Intermezzo
Zidat hatte ihr also verboten, zu Ou’mar zu gehen. Und sie war seinem Gebot gefolgt, weil sie ihn liebte und es ihm recht machen wollte. Es zahlte sich aus, Zidat erschien gelöster, selbstsicherer. Es ging ihm gut und damit ging es auch ihr gut. Ou’mar erzählte sie nichts von dem Vorfall. Sie verbrachte die Fahrten nun ständig auf dem Rücksitz neben Zidat, oder blieb allein dort zurück, während Zidat auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, um mit Ou’mar über anstehende Termine zu sprechen. Wenn Ou’mar ihren Blick im Rückspiegel suchte, lächelte sie ihm munter zu, schlug aber sofort den Blick nieder, alles, um Zidat zu zeigen, dass er niemanden neben sich fürchten musste.
Das verschob das Gleichgewicht zwischen den Parteien, doch Ou’mar ließ sich nichts anmerken. Alles ging weiter wie bisher. Die Konzerte waren grandios, die Erfolge überwältigend. Mia strahlte wie die Sonne, sie badete im Applaus und in den Blicken der Menschen, wenn sie sich am Ende vor ihnen verneigte. Natürlich fiel ihr auf, dass Zidat sie immer schneller in einen Umhang hüllte, dass er sie den Menschen entzog. Aber sie dachte sich nichts dabei.
Bis er sie eines Tages, kaum war der letzte Ton verklungen, mit dem Tuch verhüllte, das er zum Anfang des Konzertes von ihr herunterschob. Als die Menschen den Raum verlassen hatten, hatte sie das Tuch von sich gezogen und war vom Tisch gesprungen.
»Was sollte das, Zidat?«
»Es soll dich keiner so sehen.«
Mia blieb der Mund offen stehen. »Bitte, was?« Sie sah an sich hinunter, schüttelte den Kopf ungläubig und blickte wieder zu Zidat hoch. »Man sieht mich den ganzen Abend nackt! Wo ist denn das Problem?«
Zidat starrte sie einen Moment stumm an, dann drehte er sich um und verschwand Richtung Garderobe. Ou’mar hatte dem Ganzen wortlos beigewohnt.
»So geht das nicht weiter, Mia«, sagte er schließlich. »Wenn du nicht mit ihm sprichst, dann muss ich es tun.«
»Und was willst du ihm sagen?« Mia hielt den Atem an.
»Entweder er reißt sich zusammen oder er muss gehen.«
Mia schlang die Arme um sich. »Was wird dann mit mir?«
»Du hast immer einen Platz bei mir, das weißt du. Du musst dich aber entscheiden.« Ou’mar machte einen Schritt auf sie zu. Mia wich unwillkürlich zurück. Die Distanz hatte sich in den letzten Monaten eingeprägt. Ou’mar sah es. »Geh und such nach ihm. Ich brauche eure Entscheidung morgen früh.«
Damit wandte er sich der Ausrüstung zu. Mia lief zur Garderobe. Dort angekommen zog sie sofort ihren weißen Anzug an, setzte sich vor den Spiegel – doch anstatt der vergangenen Musik nachzuhorchen, starrte sie sich in die müden Augen und suchte dort nach einer Antwort. Sie hatte sie noch nicht gefunden, als die Tür leise klappte und Zidat eintrat. Er zog sie in seine Arme, sie ließ es zu. Er bat um Verzeihung, sie gewährte sie ihm. Er küsste sie, sie reagierte auf ihn. Am Schluss lagen sie keuchend vereint auf dem Boden.
»Du gehörst mir«, murmelte er in ihr Haar. »Ich ertrage es nicht, wenn dich andere Männer begaffen.«
»Sie sehen nicht mich«, flüsterte sie. »Sie sehen nur das Instrument.«
Zidat lachte leise auf. »Nein«, erwiderte er dann scharf. »Wir sehen immer das Fleisch.«
Mia verbarg das Gesicht an seiner Schulter.
Am nächsten Morgen packten sie ihre Koffer. Ou’mar zog Mia in seine Arme. »Ich wünsche dir das Beste«, sagte er. Und: »Pass auf dich auf.« Und er schob ihr seine Karte in die Hand. Danach trennten sich die Wege.
Zidat brachte Mia zu seinen Eltern. Dort wohnten sie einen Monat lang, bevor sie etwas Eigenes fanden. Zidats Eltern führten ein Restaurant, das genügend Arbeit und Lohn für die ganze Familie abwarf. Mia war dieses Leben nicht gewohnt, aber sie fügte sich ein, so gut es eben ging. Zidat wurde als stellvertretender Geschäftsführer eingesetzt und blühte unter dieser Verantwortung auf. Mia half überall aus, wo sie gebraucht wurde.
Anfänglich ging sie in ihrer neuen Rolle auf, genoss das Provinzielle ihres neuen Lebens. Zidat wiederum gefiel sich in der Rolle des Ernährers, des Fürsorgers.