Michael Borgolte

Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte


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die aus der Harmonie mit dem Dao hervorging, verloren war. Der weise Herrscher, an den sich das ‚Daodejing‘ besonders wendet, solle deshalb so regieren, dass das Gemeinwesen zum Dao geführt wird: „Beende Weisheit und verwerfe Klugheit – das Volk wird hundertfachen Nutzen daraus ziehen. Beende Menschlichkeit und verwerfe Rechtlichkeit – das Volk wird zu Kindespietät und elterlicher Fürsorge zurückkehren. Beende Geschicklichkeit und verwerfe Profit – und es wird keine Räuber und Diebe mehr geben.“598

      Das zweite wichtige Grundlagenwerk des Daoismus, das ‚Zhuangzi‘, kann einer historischen Person zugeschrieben werden, dem Zhuang Zhou, der 290 v. u. Z. gestorben ist; allerdings gehen nur die ersten Teile auf ihn selbst als Autor zurück, andere stammen von seinen Schülern und späteren Verfassern.599 Im Unterschied zum ‚Daodejing‘ wendet sich das Buch von „Meister Zhuang“ nicht an den Herrscher, sondern mit Ratschlägen und Geschichten zur rechten Lebensgestaltung an jeden Menschen. Das Dao wird erneut als nicht artikulier- und analysierbar dargestellt. Es geht nicht darum, es zu verstehen, sondern nur, es zu erleben. Ziel muss es sein, das Bewusstsein von allem erlernten Wissen zu befreien und die Distanz zwischen Subjekt und Objekt aufzuheben. In tiefer Versenkung soll das Individuum sich selbst verlieren, um den kosmischen Strom des Dao als eigentliche Wirklichkeit zu erleben. Im ‚Zhuangzi‘ wird dieser erstrebte Zustand exemplarisch beschrieben: „Ich zerschmettere meine Glieder und meinen Leib, vertreibe meine Wahrnehmung und meinen Verstand, werfe die Form fort, entrümpele mich von jedem Verstehen und mache mich selbst eins mit der Großen Durchfahrt.“600 Das vollkommene Selbstvergessen bedeutet, in das Nichtsein des Universums einzutauchen. In diesem Sinne hat ein Kommentator des ‚Zhuangzi‘ im 3. nachchristlichen Jahrhundert über das Vergessen des Selbst geschrieben: „Zuerst vergisst man alle äußeren Dinge, dann vergisst man auch, was diese Dinge hervorgebracht hat. Im Inneren ist man sich nicht bewusst, dass es ein Selbst gibt, im Äußeren weiß man überhaupt nicht, dass es Himmel und Erde gibt. So wird man vollkommen leer und kann sich mit allen Wandlungen vereinen, ohne etwas nicht durchdrungen zu haben.“601 Der individuelle Tod selbst ist in dieser Perspektive nichts als Teil des ewigen und beständigen Wandels des Dao. Konsequent dem Gedanken des Wandels verpflichtet, propagiert das ‚Zhuangzi‘ aber auch die Auffassung, dass das ‚Goldene Zeitalter‘ vergangen ist, also Rückschau nicht lohne, sondern der Einzelne das Leben genießen solle, so lange, wie es dauere. Das Werk konnte durchaus als Einweisung in den Hedonismus gelesen werden, denn universale Harmonie soll am ehesten erreichbar sein, wenn jedermann seine Wünsche erfülle, da alle Wünsche und Sehnsüchte organischer Teil der Natur und des Dao seien. Jede Art und Weise, emotionale und physische Wünsche zu unterdrücken, bedeute hingegen einen Bruch mit der Harmonie der Natur und sei deshalb zu vermeiden.

      Aus den frühen Schriften des Daoismus ergibt sich also eine Tendenz zur Leere und Selbstvergessenheit, die natürlich diametral einer Auffassung vom individuellen Seelenheil entgegensteht, wie dies etwa die monotheistischen Religionen Christentum und Islam anstreben. Andererseits lassen sich ihnen auch Tendenzen der chinesischen Kultur zur Lebensbejahung des Einzelnen ablesen. Als der Daoismus als Religion seine besondere Gestalt gewann,602 das war in der späten Zeit der Han-Dynastie (23–220 u. Z.), konnten deshalb auch gewisse Lehren und Techniken der Lebensverlängerung beziehungsweise des Strebens nach Unsterblichkeit einwurzeln und hier sogar ihre für China stärkste Ausprägung erlangen.603 Begriffe für langes Leben (shou, changsheng) waren schon auf Bronzeinschriften der Zhou-Zeit begegnet; mit ihnen war die Erwartung verbunden, dass menschliche Wesen bei Beachtung bestimmter physikalischer Praktiken ihre volle Lebenskraft entfalten und einen frühen Tod vermeiden können. In der Zeit der ‚Streitenden Reiche‘ (403–221 v. u. Z.) erschien dann der Ausdruck chengxian, „ein Unsterblicher werden“, der eine Transformation des Leibes und den Gewinn einer transzendenten Existenz bezeichnet. ‚Langes Leben‘ und ‚Unsterblichkeit‘ als Ziele chinesischer Lebensgestaltung und Religion müssen also auseinandergehalten werden.604 Die Jünger des Daoismus wollten vor allem die Unsterblichkeit erlangen: „Diese Änderung des Zustandes, diese Transzendenz, wurde gleichgesetzt mit der Erlangung des Dao durch Vereinigung mit ihm.“605

      Die Daoisten gingen für den Gewinn der Unsterblichkeit bei den fangshi, „Meistern der Methoden“, in die Lehre, die neben Astrologie und Wahrsagerei vor allem die Herstellung von Lebenselixieren betrieben.606 Diese Experten der Unsterblichkeit lebten mindestens seit dem 4. vorchristlichen Jahrhundert an der chinesischen Meeresküste; sie wussten von Bergen, wo die „Unsterblichen“ weilten und Kräuter für die Überwindung des Todes heranzogen. Differenzierte Urteile über die verschiedenen Methoden gab der „Meister, der die Einfachheit umarmt“, namens Ge Hong (283–343 u. Z.) ab.607 In seinem Buch ‚Baopu zi‘ ordnete er Divination und Magie als minder wirksame Mittel ein, die Unheil durch Dämonen und Geister nicht zu bannen vermöchten, während Kräuterpillen zur Lebensverlängerung beitrügen. Die verbreiteten Atemtechniken, Gymnastiken und bestimmte Sexualbräuche waren nach Ge Hong der Alchemie und verschiedenen Arten der Meditation unterlegen.608

      Es waren also Praktiken, durch die die Daoisten aller Zeiten das Ziel ihres Lebens zu erreichen suchten. Allerdings darf dieses Streben nicht mit Begriffen des modernen Individualismus missdeutet werden: „Die Theorie des Daoismus akzeptierte keine Dichotomie zwischen dem ‚Selbst‘ und dem ‚Anderen‘. Im Gegensatz zu ihren Kritikern (…) gründete die daoistische Selbstkultivierung niemals in einem Glauben, dass jedes menschliche Wesen ein abgetrenntes, geschlossenes und individualisiertes ‚Selbst‘ ist, das größeren Wert hat und mehr Aufmerksamkeit verdient als das, was sich außerhalb solcher Einheiten befindet. Die Daoisten glaubten vielmehr, dass das ‚Selbst‘ einer Person nicht verstanden oder erfüllt werden kann ohne Bezug auf andere Menschen und ohne den breiteren Rahmen von Wirklichkeiten, in den alle Menschen auf natürliche und geeignete Weise eingefügt sind. Es ist diese grundsätzlich holistische Perspektive, die daoistische Ideen und Praktiken von dem meisten unterscheiden, was in anderen chinesischen Theorien gelehrt wird, ganz zu schweigen von anderen Ländern in Asien oder anderswo.“609

      Wege zur Unsterblichkeit wurden auch durch eine reiche Überlieferung von Biographien der „Unsterblichen“ vermittelt.610 Auf dem Weg zur mystischen und transzendenten Vereinigung mit dem Dao ist der Aufstieg in den Himmel zu Lebzeiten am günstigsten; der so Beglückte wird in die Luft erhoben und verschwindet, oft begleitet von verschiedenen Geistern, in den Wolken. Die zweite Variante besteht in der Befreiung vom Körper und Wiederauferstehung nach einem vermeintlichen Tod; dabei bleiben oft die Kleider im Grab zurück oder der Leib des unsterblich Gewordenen wird durch bestimmte Gegenstände substituiert, etwa einen Talisman, einen Bambusstock oder ein Schwert.611 Dem Unsterblichen wurde die Fähigkeit zugeschrieben, zu fliegen, in die Ferne zu streifen und zu helfen; oft wurden sie mit Bergheiligtümern als Orten ihrer Divination in Verbindung gebracht. Sie konnten für besondere Zwecke den Körper eines Tieres annehmen, bestimmte Gegenstände mit sich in die Lüfte entführen, sich aber auch in verschiedenen Gestalten vervielfältigen oder an mehreren Orten zugleich sein; sie waren in der Lage, Kontrolle über Gegenstände und Lebewesen aller Art auszuüben und besonders die guten und bösen Handlungen von Tieren und Geistern zu beherrschen. Schließlich verfügten sie über Heilkräfte und die Fähigkeit, die Zukunft vorauszusagen. Besonders mit der zuletzt genannten Kunst spielten sie für Herrscher, die ihre Dynastie begründen oder legitimieren wollten, eine wichtige Rolle in Staatsangelegenheiten.612

      Jedem Menschen wohnen nach chinesischem Denken zwei Typen von Lebensenergie inne, die oft als ‚Seelen‘ verstanden werden, hun und po. Hun leuchtet hell und bewegt sich frei in den Lüften, po ist dagegen dunkel und schwer; hun repräsentiert Geist, Bewusstsein und Intelligenz, po steht für physische Natur und körperliche Kraft. Beim natürlichen Tod entweicht hun in den Himmel, po kehrt zur Erde zurück; seit der frühen Zhou-Zeit ist dieser Ort auch als Unterwelt beschrieben. Zuerst errichtete der Adel Schreine für Opfer an die hun; die Gaben dienten dem Wohlergehen der Ahnen ebenso wie dem ihrer lebenden Nachkommen. Das dämonische po dagegen besänftigte man durch aufwendige Begräbnisse und Grabmäler, um es von der Wiederkehr im Diesseits abzuhalten. Bei der späteren Ausbreitung des adligen Kultes für hun und po auf andere Schichten vermehrte sich die Zahl des hun auf drei und des po auf sieben. Die fangshi entwickelten Methoden, um beide Arten der ‚Seelen‘ zu kontrollieren.613

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