Michael Borgolte

Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte


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Eberhard F. Bruck bildete die Erhaltung des Totenkults „das wichtigste oder jedenfalls ein treibendes Motiv“ für das römische Stiftungswesen.70 Ebenso wie im Hellenismus am Beginn des 3. Jahrhunderts v. u. Z. lasse sich in Rom um 100 u. Z. der Wandel zu einer individualistischen Einstellung im Verhältnis zum Leben nach dem Tode feststellen.71 Wie sich in Griechenland die alten Verbände der Familien und Geschlechter auflösten, sei vier Jahrhunderte später in den großen Familien der späten Republik der freiwillige Totenkult zunehmend vernachlässigt worden; der Aufstieg neuer Stände, so der equites („Ritter“), habe auch das Bedürfnis eines eigenen Totenkultes mit sich gebracht.72 Um die Familienpietät zu sichern, seien neue rechtliche Formen nötig geworden. Das Misstrauen gegen die Erben, die einst den Totenkult als wichtigste Pflicht gegenüber Eltern und Vorfahren verrichtet hätten, habe überhaupt erst zur weiten Verbreitung der Stiftungen geführt.73

      Rezente Forschungen haben dieser Rekonstruktion teilweise den Boden entzogen.74 So wurde gezeigt, dass römische Stiftungen schon ins frühe erste nachchristliche Jahrhundert zurückgehen und sich nur wenige Stifter aus der senatorischen Oberschicht nachweisen lassen. Auch handele es sich bei diesen Fällen gar nicht um Totenkultstiftungen.75 Trotzdem hat eine jüngere Autorin ihre Monographie über Stiftungen der augusteischen Zeit wiederum mit „Sehnsucht nach Ewigkeit“ als leitendem Motiv überschrieben.76 Sogar bis in die Zeit der späten Republik (also bis 30 v. u. Z.) reichten Grabstiftungen nach dieser Untersuchung zurück; charakteristische Initianten und Träger waren Freigelassene.77 Die ehemaligen Sklaven erwarben zwar das Bürgerrecht, konnten jedoch keine Ämter übernehmen und nicht in den Militärdienst eintreten. „Als Bürgern zweiter Klasse waren den Freigelassenen also wichtige Wege zu Ruhm und Ansehen – den Voraussetzungen für ein Weiterleben im Andenken der Nachwelt – versperrt.“78 Um den eigenen Namen über den Tod hinaus vor dem Vergessen zu bewahren, boten sich ihnen Grabmonumente mit Stifterinschriften an, die mit ‚Grabgärten‘ ausgestattet sein konnten. Diese mochten Blumen für die Erinnerungsfeiern oder andere Naturprodukte für die Totenmähler hervorbringen. Die Weitergabe des Namens unter den folgenden Generationen wurde dadurch bewirkt, dass die Freigelassenen ihrerseits Sklaven freiließen, die den Namen ihres Patrons trugen. Auch der Geburt nach freie Bürger wie der Stifter aus Langres bedienten sich dieses Instruments einer Memorialstiftung mit Hilfe von Freigelassenen. Der Konstruktion kam der unter Augustus rechtsverbindlich gewordene Fideikommiss entgegen;79 das Stiftungsgut wurde den Freigelassenen und deren eigenen Nachfolgern auf Treu und Glauben zur Umsetzung des Grab- und Erinnerungskultes übergeben.80 Belohnt werden konnten diese, indem ihnen ebenfalls das Bestattungsrecht am Grab ihres Patrons zuerkannt wurde.

      Stiftungen für die Götter und die Ahnen waren Produkte einer Auffassung des Daseins und der ‚Welt‘, in der Lebende und Tote ihren Platz in der Einheit des Kosmos fanden; um vom Diesseits zum Jenseits zu gelangen, waren die Menschen noch nicht auf göttliche Hilfe oder eigene Leistung angewiesen. Zwar waren die Einzelnen in ihren Familien, Ständen und örtlichen Lebensgemeinschaften in Solidarität verbunden, aber eine ethische Verpflichtung zur Hilfe der Fremden kannte man so wenig wie das Mitgefühl. Die Zäsur, mit der dieses anders wurde, wird nach Karl Jaspers die ‚Achsenzeit‘ genannt. Nach Jaspers habe die „Achse der Weltgeschichte“, der „tiefste Einschnitt der Geschichte“, zwischen 800 und 200 vor Christus gelegen; er schrieb dazu: „In dieser Zeit drängt sich Außerordentliches zusammen. In China lebten Konfuzius und Laotse, entstanden alle Richtungen der chinesischen Philosophie, dachten Mo-Ti, Tschuang-Tse, Lie-Tse und ungezählte andere, – in Indien entstanden die Upanischaden, lebte Buddha, wurden alle philosophischen Möglichkeiten bis zur Skepsis und bis zum Materialismus, bis zur Sophistik und zum Nihilismus, wie in China, entwickelt, – in Iran lehrte Zarathustra das fordernde Weltbild des Kampfes zwischen Gut und Böse, – in Palästina traten die Propheten auf von Elias über Jesaja und Jeremias bis zu Deuterojesaja, – Griechenland sah Homer, die Philosophen – Parmenides, Heraklit, Plato – und die Tragiker, Thukydides und Archimedes. Alles, was durch solche Namen nur angedeutet ist, erwuchs in diesen wenigen Jahrhunderten annähernd gleichzeitig in China, Indien und dem Abendland, ohne dass sie gegenseitig voneinander wussten.“81 Im Zentrum des gleichartigen Durchbruchs habe die Entdeckung der Transzendenz gestanden, die das Weltbild der Menschen fundamental veränderte. Die Vorstellung vom Kosmos, die Menschen- und Götterwelt als Einheit auffasste, wurde verdrängt durch die Trennung von Diesseits und Jenseits, das Heilige wurde entrückt und die Welt, mit Max Weber gesprochen, ‚entzaubert‘.82 Der Einzelne war nicht länger eingebunden in eine kosmische Kultgemeinschaft, sondern musste die entstandene Kluft zwischen dem Hier und Dort selbst überwinden. Mit der Entdeckung der Transzendenz auf sich selbst verwiesen, erfuhr er sich als Subjekt, Persönlichkeit oder Individuum, also als ein je anderer zu seinen Mitlebenden.83 Da sich die Sinnsuche keineswegs auf ein Jenseits ausrichten musste, das mit oder ohne göttliches Wesen radikal verschieden vom Diesseits sein sollte, konnte sie auch in der Selbsttranszendenz liegen, also in der Überwindung der Selbstsucht.84 Entschieden betont wurden dementsprechend noch unlängst die ethischen Anforderungen der Achsenzeit: „Ins Zentrum des spirituellen Lebens rückte nun die Moral. Der einzige Weg, dem zu begegnen, was sie ‚Gott‘, ‚Nirwana‘, ‚Brahman‘ oder den ‚Weg‘ nannten, war es, ein Leben im Zeichen des Mitgefühls zu führen.“85 Andererseits konnte der Einzelne die diesseitige Welt als wandelbar erkennen, Utopien entwickeln und soziale Veränderungen bewusst herbeiführen. So war die sogenannte Achsenzeit auch die Geburtsstunde des Intellektuellen.86

      Jaspers’ Anregungen sind vor allem von Sozial- und Religionswissenschaftlern aufgegriffen worden;87 statt auf achsenzeitliche Durchbrüche konzentriert man sich in jüngerer Zeit häufig auf die Typologie axialer Kulturen und versucht, die Wiederentdeckung axialer Eigenschaften in der Geschichte einzufangen. Gelegentlich ist auch von sekundären Durchbrüchen die Rede, zu denen etwa das Christentum im Verhältnis zur Religion Israels zählte, oder man dehnt die Achsenzeit von ca. 500 v. u. Z. bis zum Aufstieg des Islams, das heißt bis zum 7. Jahrhundert, aus.88 Andererseits haben Historiker darüber nachgedacht, ob spätere Austauschbeziehungen zwischen Achsenzeiterfindungen zur Ausbildung einer ‚Weltkultur‘ beigetragen haben.89 Auch für die Weltgeschichte der Stiftungen bedeutete die ‚Achsenzeit‘ einen signifikanten Einschnitt, den wichtigsten von allgemeiner Bedeutung.

      Das zeigte sich zuerst im Alten Ägypten. Rein chronologisch betrachtet, stößt man dabei in noch frühere Perioden der Menschheitsgeschichte zurück, aber typologisch handelt es sich doch um die Ebene der ‚Achsenzeit‘. Es ist das Verdienst von Jan Assmann, das Alte Ägypten, das Jaspers fremd geblieben war,90 in diesen Zusammenhang gerückt zu haben. Nach Assmann war die sogenannte 1. Zwischenzeit nach dem Alten und vor dem Mittleren Reich, etwa zwischen dem 22. und 20. vorchristlichen Jahrhundert, die ägyptische Achsenzeit.91 Entscheidend sei ein epochaler religiöser Wandel gewesen. Während im Alten Reich jede menschliche Existenz, besonders die des Beamten, ihren Sinn nur aus der Mitwirkung am Handeln des Königs bezogen hatte,92 erodierte die zentrale Stellung des Monarchen gegen Ende der 6. Dynastie zugunsten des Individuums, das seine eigene Leistung jetzt stolz hervorhebt. Nicht mehr die treue Beachtung der königlichen Befehle, sondern eigenverantwortliches Handeln, weitsichtige Planung und unablässige Sorge machen ein Leben fortan erinnerungswürdig und geben ihm Sinn.93

      Andererseits brach sich eine neue Ethik Bahn. Das solidarische Aneinander-Denken und Füreinander-Handeln wird im Mittleren Reich zugleich in einen Vergeltungszusammenhang gerückt.94 In einer Schrift der Zeit wird der Einzelne aufgefordert: „Verhülle dein Angesicht nicht gegenüber dem, den du gekannt hast, sei nicht blind gegenüber dem, auf den du geblickt hast, stoße nicht zurück den, der sich bittend an dich wendet, sondern lass ab von diesem Zögern, deinen Ausspruch hören zu lassen. Handle für den, der für dich handelt!“95 Als Remuneration konnte der Wohltäter, neben dem König besonders der Beamte, die Fortdauer seines Namens im Diesseits erwarten; der unvergleichliche Aufwand, den die Alten Ägypter für ihre Grabmäler trieben, gründete in der Erwartung, unter den Nachlebenden nicht vergessen und mit ihren Taten gerühmt zu werden.96 Eine Inschrift der 5. oder 6. Dynastie ist dafür exemplarisch: „Ich bin aus meiner