für jeden geliebten Menschen, der seit dem letzten Allerheiligenfest gestorben ist, und wir, die Heiligen, die noch auf der Erde sind, ehren all jene, die auch Heilige genannt werden und schon von diesem Leben in das künftige übergegangen sind.
Schon damals, ganz am Anfang, zog es uns zu den uralten Bräuchen der Kirche hin, wie dem Verbrennen von Palmzweigen am Palmsonntag, um die Asche dann am folgenden Aschermittwoch zu verwenden, dem Vergraben der Halleluja-Fahnen am Fest der Verklärung oder dem Singen des Trisagion am Karfreitag.
In jenem ersten Jahr stöberte ich im Internet nach alten oder merkwürdigen Bräuchen rund um Allerheiligen. Ich bin mir sicher, dass ich dabei irgendwo las, wie die Leute in Finnland oder so Heiligenplätzchen backen – kleine Lebkuchen-Männer und -Frauen, die dann im Rahmen der Allerheiligen-Feier verteilt werden. Ich schwöre, so habe ich es in Erinnerung.
Also versammelten sich damals, als wir dabei waren, uns unsere Kirchengemeinde zurechtzubacken, ein paar Leute in meiner Küche, um Lebkuchenfiguren zu backen, in der Meinung, das wäre so üblich.
Irgendwann merkte ich, dass unseren kleinen braunen Heiligenplätzchen etwas fehlte – Heiligenscheine natürlich. Also bemalten wir die runden Köpfe unserer Lebkuchenfiguren mit einem Kranz aus leuchtend gelber Glasur (wodurch sie weniger heilig als vielmehr blond aussahen).
„Wie wär’s mit denen hier?“, fragte Victoria, als sie dazukam, und hielt zwei besonders große Plätzchenformen hoch. Für eine Sozialarbeiterin hatte sie schon immer eine ziemliche Neigung zum Unfug gehabt. Es muss wohl an den roten Haaren liegen. Ehe der Abend vorbei war, zeigte Victoria stolz zwei ganz besondere Heiligenplätzchen vor, die ihre Artgenossen um Haupteslänge überragten. Das eine, eine Frau, trug einen Rock, der von roten und gelben Flammen umzingelt war. Außerdem hatte sie riesige Augen und einen kreisrund geöffneten roten Mund.
„Die heilige Johanna?“, tippte ich zutreffend. Gleich neben Johanna lag ihr Mitheiliger, und der sah aus, als trüge er ein gegürtetes Fell mit einem Schulterträger wie ein Höhlenmensch. Außerdem fehlte ihm der Kopf. „Fred Feuerstein, der Märtyrer?“, riet ich, doch diesmal lag ich falsch.
„Johannes der Täufer“, sagte sie stolz. Natürlich. Victoria erbot sich, den Korb mit den fertigen Heiligenplätzchen am nächsten Tag mitzubringen, um sie nach dem Gottesdienst zu verteilen. Erwartungsgemäß stellte sich heraus, dass sie sich wunderbar dafür eigneten, ein wenig Heiterkeit in eine ansonsten schwermütige Liturgie hineinzubringen.
Inzwischen wissen wir, dass es die Tradition der Heiligenplätzchen nirgendwo gibt außer im House for All Sinners and Saints – zumindest konnte ich nirgends etwas davon finden, als ich später noch einmal im Internet nachschaute. Offenbar hatte ich den ganzen Blödsinn nur geträumt.
Victorias Korb mit Heiligenplätzchen stand ganz am Ende einer langen Reihe weißgedeckter Tische an der Wand, die eine anschauliche Darstellung der Allerheiligenlitanei waren, eines liturgischen Gesangs, bei dem die Namen von Heiligen (entweder eine Liste, die von der Gemeinde aufgestellt wird, oder eine vorgegebene Reihe bekannter Namen) ehrfürchtig gesungen werden, um Gott für die Glaubenshelden zu danken, die uns vorausgegangen sind. Auf jedem Tisch befanden sich Kerzen, Ringelblumen und verschiedene Gegenstände, die an die Toten erinnerten: der abgetragene Overall eines Großvaters, der Bauer gewesen war. Eine Ikone von Maria Magdalena. Eine Ikone von Cesar Chávez. Ein Foto von einer Gruppe von Freunden aus den Achtzigern. Die Krabbeldecke eines Kindes. Ein Schrein, den mein Gemeindeglied Amy Clifford für Vincent van Gogh angefertigt hatte – ein kleines, aufrecht stehendes bemaltes Kästchen, in das sie sein Selbstporträt hineingeklebt hatte. Außen waren zwei Ohren angeklebt. An einem davon fehlte ein Stück.
Abgesehen von denen, die im Krieg gefallen sind, neigen wir Amerikaner dazu, unsere Vorfahren zu vergessen, und wir verbringen so wenig Zeit wie möglich damit, öffentlich um sie zu trauern. Doch in der Kirche tun wir etwas ganz Seltsames: Wir verkündigen, dass die Toten immer noch ein Teil von uns sind, ein Teil unseres Lebens, ja, dass sie sogar eine belebende Präsenz in der Gemeinde sind. Der Apostel Paulus bezeichnet die Heiligen als „eine große Wolke von Zeugen“. Auch wenn sie von uns gegangen sind, halten wir sie immer noch in Ehren und hoffen vielleicht, dass ihre Tugenden – ihre Fähigkeit, im Angesicht eines bedrückenden Regimes, einer verlorenen Ernte oder der Geißel des Krebses, auf Gott zu vertrauen – uns selbst Tugendhaftigkeit und Kraft geben mögen.
Zwei Monate zuvor war ich mit einer Frau aus meiner Gemeinde, Amy Clifford, die Sherman Street in Denver entlanggegangen. Amy ist eine intelligente, leidenschaftliche Frau mit viel Sinn für Kunst, die immer an meiner Seite gewesen war und mitgeholfen hatte, unsere Gemeinde aufzubauen. Bei unserem Spaziergang damals war uns eine Art Denkmal im Hof einer großen, seltsam aussehenden Kirche gegenüber dem Regierungssitz des Staates Colorado aufgefallen.
Das Dach der „Pillar of Fire Church“ ist gekrönt von einem riesigen Logo aus den pinkfarbenen Buchstaben KPOF, die nachts leuchten und das Ganze so aussehen lassen wie das, was es ist: eine Pfingstkirche, die gleichzeitig ein Radiosender ist.
Wir kniffen die Augen zusammen, um die Inschrift auf dem Denkmal zu lesen: „Alma White, Gründerin der Pillar of Fire Church, 1901“. Ich drehte mich zu Amy um und sagte: „Alma? Das ist doch ein Frauenname, oder? Hat etwa eine Frau 1901 in Denver eine Gemeinde gegründet?“
Ich kannte nicht viele Frauen, die sich ganz allein darangemacht hatten, eine Gemeinde zu gründen, und schon gar nicht an der Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert. Insofern konnte ich dringend jemanden brauchen, den ich in die Kategorie „Heldin“ und „Vorbild“ einsortieren konnte (da ich mich auch gerade daranmachte, die weibliche Pastorin einer neuen Gemeinde in Denver zu sein). Also holte ich mein Telefon hervor und googelte Alma White. Meine Begeisterung darüber, eine Heldin entdeckt zu haben, stieg noch mehr, als ich ihren Wikipedia-Eintrag las: „Alma Bridwell White (geboren 1862 – gestorben 1946) war die Gründerin und ‚Bischöfin‘ der Pillar of Fire Church. (Nicht zu fassen! Es stimmt tatsächlich!) 1918 wurde sie die erste ‚weibliche Bischöfin‘ in den Vereinigten Staaten. Sie war bekannt für ihren Feminismus (Ja!) und ihre Verbindung zum (jetzt kommt es …) Ku-Klux-Klan in New Jersey, ihren Anti-Katholizismus, Antisemitismus, Rassismus und ihre Feindseligkeit gegenüber Immigranten.“
Am nächsten Tag rief ich meine Freundin Sara an, die zur Episkopalkirche gehört, und erzählte ihr, wie ich gedacht hatte, ich hätte eine Heldin gefunden, nur, um dann herauszufinden, dass sie nur eine bescheuerte Rassistin war. Saras Antwort? „Schick mir per Mail ihren Namen. Ich setze ihn auf die Heiligenlitanei, zusammen mit allen anderen kaputten Typen Gottes.“
Aber ich wollte Alma White nicht auf der Heiligenlitanei stehen haben. Die Vorstellung fühlte sich falsch an, dass ihr Name dort auf dem Tisch läge, beleuchtet von der Passakerze2 daneben, zusammen mit den Namen des heiligen Franziskus und Cesar Chávez´. Ich will, dass Rassisten in ihrer „Rassistenschublade“ bleiben. Wenn sie anfangen, sich in die „Heiligenschublade“ hinüberzuschleichen, macht mich das nervös. Aber so läuft das nun einmal. An Allerheiligen bekomme ich es mit kniffligen Widersprüchlichkeiten zu tun, mit Heiligen, die böse waren, und Sündern, die gut waren.
Ich persönlich finde es irgendwie wichtig, den Unterschied zwischen einem Rassisten und einem Heiligen zu kennen. Aber wenn Jesus immer wieder so Sachen sagt wie, die Letzten werden die Ersten sein, und die Ersten werden die Letzten sein, und die Armen sind glücklich, und die Reichen sind verflucht, und Prostituierte sind willkommene Gäste beim Abendessen, dann muss ich mich fragen, ob unser Bedürfnis danach, Schwarz und Weiß säuberlich voneinander zu trennen, vielleicht gar nicht dem Glauben entspricht, sondern sogar eine Sünde ist. Wenn wir wissen, in welche Kategorie Schierling gehört, dann hilft uns das sicher, zu entscheiden, ob wir gefahrlos davon trinken können oder nicht. Aber zu wissen, in welche Kategorie wir uns selbst und andere einsortieren sollten, hilft uns überhaupt nicht dabei, Gott so gut kennenzulernen, wie die Kirche ihn oft zu kennen behauptet.
Und überhaupt habe ich die Erfahrung gemacht, dass nicht unsere eigene Fähigkeit, heilig zu leben, uns zu den Heiligen Gottes macht, sondern Gottes Fähigkeit, durch Sünder zu wirken. Der Titel „Heiliger“ wird immer verliehen, niemals verdient. Oder um es mit dem Apostel Paulus