Nadia Bolz-Weber

Unheilige Heilige


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vielleicht die einzigen während des ganzen Tages. In diesem Bewusstsein-minus-Ego-Zustand kämpft sich die Wahrheit durch die Schichten aus Essen und Unterhaltung und allen möglichen Ablenkungen hindurch, mit denen ich sie zugeschaufelt habe, und kriecht ungebeten wieder zurück hinauf in meine Gedanken.

      Ob wohl jeder solche Momente hat?, überlegte ich laut, als ich Caitlin gegenübersaß. Vielleicht meinen manche, die Irrtümer in ihrem Leben seien nicht so schlimm, um sich deswegen verrückt zu machen, oder vielleicht haben sie ihr Ego mit so dicken Schutzschichten umgeben, dass es ihnen tatsächlich gelingt, sich jedes Schamgefühl wegen ihrer Geheimnisse vom Leib zu halten. Aber wenn man sich vor sie hinstellen und ihnen wie der Therapeut, den Robin Williams in dem Film Good Will Hunting spielte, grenzenlose und immer wieder neue Gnade anbieten würde, dann würden sie irgendwann genauso zusammenbrechen wie Matt Damons Figur. Nicht, weil sie müssen, sondern weil wir alle das tun. Oder? Denn die hässlichen Dinge, die wir getan haben und immer wieder tun, sind uns doch allen eine Last.

      Bei mir ist es so: Solange ich wach bin, schirmt mein Ego mich wunderbar ab, aber wenn ich kurz davor bin, einzuschlafen, verflüchtigt es sich, und dann kommen die hässlichen Wahrheiten an die Oberfläche gekrochen. Komischerweise fühle ich mich ausgerechnet dann „Gott am nächsten“. Nicht wenn ich auf einem Berggipfel stehe, sondern wenn ich im Halbschlaf im Bett liege und mich schutzlos fühle.

      Aber sobald mein Ego sich wieder einklinkt, ist das Spiel vorbei. Dann komme ich wieder wunderbar zurecht.

      Wenn ich zurückdenke, kann ich sagen, dass meine Sünde gegenüber Larry vielleicht nicht auf derselben Ebene liegt wie die Unterschlagung von Spendengeldern oder ein Schäferstündchen mit dem Chorleiter. Aber wenn jemand in deine Gemeinde kommt und du dich in Ausreden flüchtest, um ihm nicht mit Gnade und Liebe zu dienen, dann ist das trotzdem abscheulich. Und die Tatsache, dass ich aus alldem „gelernt“ und so etwas seither nicht mehr gemacht habe, macht es auch nicht wieder gut, denn wenn ich eine Minute überlegen würde, würden mir zweifellos andere Dinge einfallen, die ich stattdessen getan habe. Und das bedeutet, dass ich ständig auf Gnade angewiesen bin.

      Caitlin hörte sich das alles schweigend an. Dann trank sie einen Schluck Wasser, griff nach meiner Hand und sagte: „Nadia, Jesus ist für unsere Sünden gestorben. Auch für diese.“

      Auch für diese. Auch für jede.

      Es hört sich irgendwie seltsam und abstrakt an, wenn man sagt: „Jesus ist für deine Sünden gestorben.“ Und ich habe schon fässerweise Tinte verbraucht, um gegen den Gedanken zu argumentieren, Gott habe Jesus töten müssen, weil wir so böse waren. Aber als Caitlin mir sagte, Jesus sei für unsere Sünden gestorben, auch für diese, wurde ich wieder daran erinnert, dass es nichts gibt, was wir getan haben, was Gott nicht erlösen könnte. Kleine Verrätereien, große Übertretungen, geringfügige Verstöße. Alles.

      Manche würden sagen, dass es beim Kreuz nicht so sehr darum geht, dass Jesus an unsere Stelle tritt, um sich von Gott die Tracht Prügel verabreichen zu lassen, die für unsere Ungezogenheit fällig wurde (der schlaue theologische Ausdruck dafür lautet „stellvertretende Sühne“), sondern dass am Kreuz ein „heiliges Tauschgeschäft“ vor sich geht. Gott sammelt all unsere Sünden, all den Müll unseres Lebens in sich selbst auf und verwandelt all das Tote in neues Leben. Jesus nimmt unseren Mist und tauscht ihn gegen seine Seligkeit ein.

      Der Gedanke dieses heiligen Tauschgeschäfts hat mir schon immer viel mehr eingeleuchtet. Aber manchmal werden solche Gedanken Wirklichkeit. So war es, als in Larrys Garten ein heiliges Tauschgeschäft vonstatten ging, nachdem ich bei der Trauerfeier für ihn eine kurze Andacht gehalten hatte.

      Ich wünschte, ich könnte sagen, nachdem Caitlin mir die Absolution zugesprochen hatte, sei ich von aller Gewissenslast vollkommen frei gewesen, aber das stimmt nicht ganz. So ganz kam es dazu erst, als eine Frau mittleren Alters, eine Weiße, auf mich zukam und sagte: „Du bist Nadia, nicht wahr?“

      Sie ergriff meine Hände und schaute mir so gerade in die Augen, dass es mich fast erschreckte. „Ich wollte dir für deine Gemeinde danken, in der Larry sich so willkommen fühlte. Er hat immer ganz begeistert von dir und deiner Gemeinde erzählt, und ich weiß, dass es ihm in seinen letzten Monaten viel bedeutet hat, dich als Pastorin zu haben.“

      Da war es, das heilige Tauschgeschäft. Mein Mist gegen Jesu Gnade.

      Ich werde Larry nie wirklich kennen. Ich werde nie erfahren, wie es ist, ihn zu lieben, ihn zu sehen, zu wissen, aus welcher Quelle die Zärtlichkeit gegenüber seiner Frau kam oder woraus er in seinen letzten Tagen seine Kraft schöpfte. Das alles ist mir entgangen. Aber aus irgendeinem Grund war unsere Gemeinde für ihn ein Ort, an dem er Trost fand.

      Manchmal gibt es Dinge, die Gott erledigt haben will, auch wenn ich noch so ein Arschloch bin. Es ist nicht im Entferntesten gerecht, dass Larry so große Stücke auf mich und diese Gemeinde hielt. Aber wenn ich in diesem Leben das bekäme, was ich verdient habe, dann wäre ich geliefert – also nehme ich diese Gnade als das, was sie ist: ein Geschenk.

      Mein Niedrigstes

       für sein Höchstes

      Na dann, Freundin, hast du Lust, mit mir zum Schießstand zu gehen?“, fragte mich Clayton mit einem schelmischen Funkeln in seinen hellbraunen Augen. Beim Stretching vor dem Crossfit-Kurs, den Clayton leitet, hatte ich erwähnt, mir sei kürzlich klar geworden, dass er mein „konservativer Alibifreund“ sei, so wie manche Leute einen „schwarzen Alibifreund“ haben. Seine Reaktion darauf war, dass er mich ausgerechnet zu Schießübungen einlud.

      Während ich meine Fingerspitzen nach meinen Zehen reckte, antwortete mein liberales, immer für schärfere Waffengesetze eintretendes Ich voller Begeisterung: „Im Ernst? Klar habe ich Lust.“ Schließlich sollte die Politik niemals dem Spaß im Weg stehen, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt.

      In derselben Woche wurde George Zimmerman von dem Vorwurf des Mordes an Trayvon Martin freigesprochen.1 Mein Erlebnis mit Clayton war nur eines von mehreren in dieser Woche, die es mir praktisch unmöglich machten, mich auf den Standpunkt der liberalen Empörung und moralischen Überlegenheit zu stellen, den ich später so gerne eingenommen hätte. Manchmal stürzen das Leben und seine Mehrdeutigkeiten unsere Ideale in eine Krise.

      Ein paar Tage nach seinem Angebot sah ich Claytons untersetzte, muskulöse Gestalt auf meine Haustür zukommen. Er hatte eine schwere schwarze Tasche bei sich. Er wollte mir einen Schnellkurs im sicheren Umgang mit Waffen verabreichen, bevor wir zum Schießstand fuhren, denn ich hatte in meinem ganzen Leben noch keine Schusswaffe in der Hand gehabt. Clayton ist Texaner, Republikaner und ein großer Verfechter des zweiten Verfassungszusatzes. Aber da er auch einen Abschluss von der Texas A&M University und einen Teil seines Lebens in Saudi-Arabien verbracht hat, wo sein Vater in der Ölbranche arbeitete, bezeichnet er sich als einen „gebildeten und weitgereisten Hinterwäldler“.

      „Vier Dinge musst du wissen“, begann Clayton meine allererste Lektion in Waffensicherheit. „Erstens, geh immer davon aus, dass jede Waffe, die du in die Hand nimmst, geladen ist. Zweitens, ziele nie mit einer Waffe auf etwas, das du nicht zerstören willst. Drittens, lass den Finger vom Abzug, bis du schussbereit bist. Und viertens, kenne dein Ziel und das, was sich dahinter befindet. Eine Pistole ist im Grunde nichts anderes als ein Briefbeschwerer“, fuhr er fort. „An und für sich ist sie nur gefährlich, wenn jemand sich nicht an diese Regeln hält.“

      Ich weiß nicht genau, was die Statistik über Todesfälle durch pistolenförmige Briefbeschwerer sagt, dachte ich, aber das werde ich auf jeden Fall mal nachschlagen.

      „Okay, fertig?“, fragte Clayton.

      „Keine Ahnung“, erwiderte ich.

      Er legte eine mattschwarze Pistole und eine Schachtel Munition auf unseren Küchentisch. Es fühlte sich ungefähr genauso verboten an, als hätte er gerade ein Kilo Kokain oder einen Stapel Pornozeitschriften auf die Fläche gelegt,