Nadia Bolz-Weber

Unheilige Heilige


Скачать книгу

      „Das ist eine Vierziger.“ Als ob ich auch nur die leiseste Ahnung hätte, was das bedeutete.

      „Was ist eine Neun-Millimeter? Von denen habe ich schon öfter gehört.“

      „Das hier.“ Er hob sein T-Shirt an und zeigte mir seine versteckte Pistole.

      „Mann, du trägst dieses Ding doch wohl nicht dauernd bei dir, oder?“

      Er lächelte. „Wenn ich nicht gerade in Turnhosen oder im Schlafanzug herumlaufe, doch.“

      Später auf dem Parkplatz des Schießstandes, auf dem fast nur Pick-ups herumstanden, machte ich die scharfsinnige Bemerkung: „Nicht ein einziger Obama-Aufkleber.“

      „Komisch, was?“, grinste er.

      Wenn ich irgendwo an einem coolen Ort bin, sagen wir, in einer alten Kathedrale oder einer angesagten Eisdiele, poste ich das immer auf Facebook. Aber nicht hier. Teils, weil es Montagmorgen war und Clayton unsere Verabredung für diese Schießübung als „Arbeitstreffen“ eingetragen hatte, aber auch, weil ich keinen Ärger mit meinen Freunden oder Gemeindegliedern – fast alles Liberale – haben wollte, die mich bestimmt gefragt hätten, ob ich den Verstand verloren hätte oder von irgendwelchen Rednecks entführt worden sei.

      Als wir den Schießstand betraten, dessen Fußboden mit Patronenhülsen übersät und mit einem schwarzen Gummibelag ausgelegt war, wurden mir mehrere wichtige Punkte bewusst. Erstens: Unsere Pistolen waren geladen, und wir beabsichtigten, die Papierzielscheibe vor uns zu zerstören. Zweitens: Ich sollte meinen Finger nur dann an den Abzug legen, wenn ich vorhatte, zu schießen. Drittens: Hinter meinem Ziel befand sich eine Wand aus Gummi und Beton. Und viertens: Ich schwitzte.

      Ich hatte schon in meiner Nachbarschaft Schüsse gehört und wusste daher, dass Pistolen laut sind. Und aus Filmen wusste ich, dass es einen „Rückstoß“ gibt, wenn eine Schusswaffe abgefeuert wird. Aber heiliger Strohsack, ich hatte ja keine Ahnung, wie laut es tatsächlich war und wie es einen durchschüttelte, wenn man mit einer Pistole feuerte. Oder wie viel Spaß das macht.

      Wir ballerten ungefähr eine Stunde lang, und als wir fertig waren, sagte mir Clayton, fürs erste Mal hätte ich meine Sache ziemlich gut gemacht. (Außer, als mir eine heiße Patronenhülse in den Ausschnitt fiel und ich so blindwütig herumzappelte, dass er meinen Arm packen und die geladene Pistole in meiner Hand wieder aufs Ziel richten musste, wobei ich mir natürlich wie ein Volltrottel vorkam. Ein ausgesprochen gefährlicher Volltrottel.)

      Aber ich fand es herrlich. Ich fand es so herrlich wie eine Runde auf der Achterbahn oder mit dem Motorrad: nichts, was ich dauernd machen wollte, aber eine Aktivität, die ab und zu durchaus Spaß macht und mir das Gefühl gibt, lebendig und ein kleines bisschen lebensgefährlich zu sein.

      „Können wir das nächste Mal Skeet schießen?“, fragte ich begierig, als wir uns an dem mit Tarnmuster bemalten Fronttresen unsere Ausweise abholten. Der ganze Laden sah aus wie ein Jagdunterstand. So, als ob die jungen Pickelgesichter, die dort arbeiten, eine Deckung brauchten, falls irgendetwas Gefährliches oder Schmackhaftes zur Tür hereinkam, damit sie es gefahrlos abknallen könnten.

      Auf dem Weg zurück zu mir nach Hause schlug ich vor, anzuhalten und uns ein paar Papusas zu holen (gefüllte salvadorianische Maiskuchen), damit wir beide an diesem Montag eine neue Erfahrung machen würden.

      Wir setzten uns auf zwei der fünf Hocker am Fenster bei Tacos Acapulco – mit Blick hinaus auf die Wechselstuben und die mexikanischen Panaderias am East Colfax Boulevard –, und ich nutzte die Gelegenheit, um eine Frage zu stellen, die mir unter den Nägeln brannte: „Sag mal, warum in aller Welt willst du die ganze Zeit eine Pistole mit dir herumtragen?“ Ich war noch nie bewusst einem Knarrenträger so nah gewesen und sah meine Chance, nach etwas zu fragen, worauf ich schon immer neugierig gewesen war. Ich konnte nur hoffen, dass er meine Frage nicht so empfand, wie es unsere schwarze Freundin Shayla empfindet, wenn Leute sie fragen, ob sie mal ihren Afro berühren dürfen.

      Während er versuchte, mit seiner Gabel den geschmolzenen Käse zu bändigen, der sich partout nicht von der Papusas lösen lassen wollte, sagte er: „Um mich verteidigen zu können und aus Stolz auf mein Land. Wir haben dieses Recht, also sollten wir es auch ausüben. Und wenn jemand uns etwas tun wollte, während wir hier sitzen, könnte ich ihn unschädlich machen.“

      Es war für mich eine völlig fremde Weltsicht: dass Leute bei jedem Schritt mit der Möglichkeit rechnen, dass jemand versuchen könnte, ihnen etwas anzutun, und sich deswegen eine Pistole umschnallen und damit durch Denver ziehen. Ich konnte das weder verstehen noch gutheißen. Aber Clayton ist nun mal mein konservativer Alibifreund. Ich kann ihn gut leiden, und schließlich hatte er sich die Mühe gemacht, mit mir auf den Schießstand zu gehen. Also beließ ich es dabei.

      In derselben Woche, in der ich mit Clayton Schießen übte, feierten meine Mutter und meine Schwester ihren siebzigsten bzw. fünfzigsten Geburtstag. Es war ein Krimi-Dinner. So saß ich fünf Tage, nachdem ich auf dem Schießstand mit Clayton auf Papierzielscheiben geballert hatte, auf der Terrasse des Hauses meiner Eltern in einem Vorort von Denver und schlüpfte für ein ausgedachtes Drama in die Rolle einer Hippie-Winzerin. Normalerweise hält mich meine natürliche Misanthropie davon ab, an derlei peinlichem Unsinn teilzunehmen, aber bald fiel mir ein, wie oft ich mich schon freiwillig verkleidet und eine Rolle in anderen ausgedachten Dramen gespielt hatte, zu denen es noch nicht einmal ein Vier-Gänge-Menü oder nette Gesellschaft gab (wie etwa in dem Jahr, in dem ich versuchte, ein Deadhead zu sein). Also ließ ich mich zwei Frauen zuliebe, die mir sehr am Herzen liegen, auf das Krimi-Dinner ein. Für meine Rolle waren ein langer, weiter Rock, eine Trachtenbluse und Blumen im Haar vorgesehen – alles Sachen, die ich nicht besitze und nicht für Geld und gute Worte anziehen würde. Also mussten ein Nachthemd und jede Menge bunter Perlen genügen.

      Den ganzen höchst vergnüglichen Abend über sah ich meine Mutter aus dem Mundwinkel mit meinem Bruder reden, so, wie sie es früher getan hatte, als wir noch klein waren, wenn sie meinem Vater etwas sagen wollte, was wir nicht mitbekommen sollten. Ich beobachtete meine Mutter und merkte gar nicht, wie sich am Rand der ausgedachten Geschichte, für die ich mir Blumen in meinen Stoppelhaarschnitt hätte stecken sollen, noch ein anderes, ungeschriebenes Drama abspielte.

      Als ich mich einmal in die Küche schlich, um nach neuen Nachrichten auf meinem Handy zu schauen, folgte mir mein Vater, um mich darüber aufzuklären, was los war. Wie sich herausstellte, ging es bei dem Geflüster meiner Mutter aus dem Mundwinkel um eine ernste Sache. Meine Mutter hatte Drohungen von einer psychisch labilen (und angeblich bewaffneten) Frau bekommen, die ihr die Schuld an einem Verlust gab, den sie erlitten hatte. Meine Mutter hatte mit diesem Verlust überhaupt nichts zu tun, aber das hielt diese Frau nicht davon ab, ihr die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben. Und sie wusste, wo meine Mutter sonntags in den Gottesdienst ging.

      „Dadurch ist es jetzt immer ziemlich stressig für uns, in der Gemeinde zu sein“, sagte mir mein Vater.

      Mein älterer Bruder Gary, der Vollzugsbeamter in einem Bundesgefängnis ist und mit seiner Frau und seinen drei Kindern in dieselbe Gemeinde geht wie meine Eltern, kam in der Küche an meinem Vater und mir vorbei und sagte: „Furchtbar, oder? Ich gehe seit drei Wochen mit einer Waffe unter der Jacke in den Gottesdienst, für den Fall, dass sie auftaucht und irgendetwas versucht.“

      Sofort musste ich an Clayton und seine Weltsicht denken, die mir bisher so fremd gewesen war. Jetzt war ich plötzlich instinktiv froh, dass mein Bruder gewappnet war für den Fall, dass eine Verrückte versuchte, unserer Mutter etwas anzutun. Gleichzeitig kam es mir wie der schiere Wahnsinn vor, dass ich froh darüber war, dass jemand eine Schusswaffe mit in den Gottesdienst nahm. Aber so ist das mit meinen Wertvorstellungen: Manchmal stoßen sie mit der Wirklichkeit zusammen, und wenn das passiert, kann es sein, dass ich sie über Bord werfen muss. Oder aber ich ignoriere die Wirklichkeit. Bei mir sind es meistens eher die Wertvorstellungen, die weichen müssen.

      Meine Bauchreaktion auf die Bewaffnung meines Bruders erschreckte mich, aber das war noch gar nichts dagegen, wie sie mich am nächsten Morgen erschrecken würde.

      Am Abend der Geburtstagsparty