Nadia Bolz-Weber

Unheilige Heilige


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      Mein Kaffee war schon alle, als Larry endlich zu unserer Verabredung erschien. Dass er ein paar Minuten zu spät kam, war nicht so schlimm, aber es bedeutete, dass ich, als wir uns auf das Ledersofa im Untergeschoss meines Lieblingscafés in Denver setzten, nichts mehr zu trinken hatte, womit ich mich von diesem Gespräch, vor dem mir ziemlich graute, hätte ablenken können.

      „Cooler Laden!“, sagte er und ließ seinen Blick durch das Café schweifen, das aussieht wie eine Mischung aus einem Bordell und einer Bibliothek. „Ich habe nur ein bisschen länger hierhergebraucht, als ich dachte. Aber ich bin froh, dass ich hier bin. Ich hab mich riesig darauf gefreut, mit dir Kaffee zu trinken!“

      „Ich auch!“, log ich.

      Von wegen gefreut. Ich fühlte mich total unwohl. Am vergangenen Sonntag war Larry zum ersten Mal in unserem Gottesdienst gewesen und hatte mich gleich angesprochen. Er hatte mich am Arm gepackt, mich unangenehm lange mit seinen glasigen Augen fixiert und angefangen, davon zu reden, wie toll ihm meine Predigt in Red Rocks1 gefallen habe und wie begeistert er gewesen war, als er herausfand, dass er sogar in meine Gemeinde kommen konnte.

      Er redete viel über Roosevelt und die Demokratische Partei – zwei seiner Leidenschaften. Viel mehr habe ich von diesem Treffen nicht mehr in Erinnerung, außer dass ich keine Ahnung hatte, was ich sagen sollte.

      Ich wusste nie, was ich zu Larry sagen sollte. Es kam mir vor, als käme er nur in die Gemeinde, weil er den Kontakt zu mir suchte, nicht, weil er hoffte, Verbindung zu Gott und zu anderen Menschen zu finden. Mag durchaus sein, dass ich im Blick auf seine Motive falschlag, aber so etwas ist mir unangenehm, ob es nun real ist oder nicht. Außerdem mochte ich ihn einfach nicht. Und das nicht einmal aus interessanten Gründen: Es waren bloß das Alter, das Geschlecht, die Postleitzahl, der Atem, die Hosenbundweite. Eben all die blöden Kriterien, derentwegen miese Charaktere sich über ganz normale nette Leute echauffieren, weil wir einfach elende Mistkerle sind. Also hielt ich mir Larry auf Armeslänge vom Leib und gab mir nie viel Mühe, einen Zugang zu ihm zu finden oder ihm zu helfen, mit anderen in Kontakt zu kommen. Aber bald würde es zu spät sein.

      „Hallo?“ Gott sei Dank war Caitlin gleich am Telefon.

      „Können wir uns zur Beichte und Absolution treffen? Möglichst jetzt gleich?“ Ich wünschte mir eines dieser alten Telefonkabel, die man sich um die Hand wickeln konnte. Manchmal lässt sich das Zittern aus der Stimme in die Finger ableiten, wenn man etwas hat, womit man herumfummeln kann.

      Caitlin und ich hatten uns in einem Seminar kennengelernt. Sie war genau wie ich in der Church of Christ aufgewachsen und hatte das Luthertum erst später im Leben während der Pastorenausbildung entdeckt. Aber damit erschöpfen sich die Ähnlichkeiten auch schon. Vor ein paar Jahren, als wir beide die Partys für unseren vierzigsten Geburtstag planten – ich mietete dazu eine Rollschuhbahn für eine Rollschuh-Disco-Party an, während sie mit einer kleinen Gruppe enger Freunde auf einem Hügel über der Stadt den Sonnenaufgang betrachtete –, machte ich die Bemerkung, dass der Unterschied zwischen unseren Geburtstagsfeiern ein bezeichnendes Licht auf den Unterschied zwischen unseren beiden Persönlichkeiten warf. Sie hat so viele liebenswerte Charaktereigenschaften, die mir einfach fehlen. Sie entgegnete: „Die hast du natürlich auch, Nadia, es sind bloß nicht deine Lieblingseigenschaften.“

      So ist Caitlin, und deshalb ist sie auch meine „Beichtmutter“. Sie kennt mich. Richtig gut. Und sie ist von meiner Sünde überhaupt nicht beeindruckt. Ich habe ihr schon Dinge erzählt, über die ich mit keinem anderen Menschen gesprochen habe, und sie will trotzdem noch meine Freundin sein. Nicht, weil sie so großzügig ist, sondern weil sie an die Kraft der Vergebung und der Gnade Gottes glaubt. Man könnte meinen, dass das für alle Geistlichen gilt, aber glaub mir, das tut es nicht.

      „Ein Mann aus meiner Gemeinde ist heute gestorben“, sagte ich ihr, „und ich kann nicht hingehen, um seine Frau zu trösten, bevor ich etwas richtig Ekliges gebeichtet habe.“

      „Komm rüber“, sagte sie.

      Als ich eine Stunde später in ihr Büro trat, witzelte sie: „Moment mal. Du hast ihn doch wohl nicht umgebracht, oder?“

      Nein. Umgebracht hatte ich ihn nicht. Ich hatte ihn bloß nicht leiden können, obwohl er im Gegensatz zu mir ein richtig netter Kerl war. Und jetzt war er tot, und ich musste seine Witwe trösten und wusste doch genau, dass ich überhaupt nicht imstande war, ihr in ihrer Trauer zu begegnen, solange ich nur daran denken konnte, wie blöde und unfreundlich ich ihn kürzlich behandelt hatte.

      Es war eine Sache, von der nie jemand erfahren würde, aber ich musste sie einfach bekennen und mich davon freisprechen lassen: Ich hatte eine Rundmail verschickt, um Leute daran zu erinnern, sich für die Frühjahrsfreizeit anzumelden, und dabei absichtlich Larrys Adresse weggelassen. Im Ernst. Wer tut so etwas? Das hatte seither schwer auf mir gelastet, auch wenn es in der großen Welt des Verbrechens und des Verrats schlimmstenfalls ein kleines Vergehen sein mochte.

      Es ist ein furchtbares Gefühl, wenn bei einem Menschen, den man liebt, ein Hirntumor festgestellt wird. Aber noch furchtbarer ist es, wenn die Diagnose jemanden trifft, von dem man schlecht gedacht hat – jemanden, der eigentlich ein richtig netter Kerl ist, aber man selbst ist ein Arschloch und hat versucht, dafür zu sorgen, dass er mit seinen viel zu weiten Hosen und seinem Mundgeruch nicht mit zur Gemeindefreizeit kommt. Es lastete schwer auf meinem Gewissen, und ich hätte mich in Grund und Boden geschämt, wenn irgendjemand anderes davon gewusst hätte. Das heißt, eigentlich schämte ich mich auch so in Grund und Boden, obwohl ich die Einzige war, die es wusste. Aber wir haben alle Dinge, die wir für uns behalten – wie wir unserem Kind einen viel zu festen Klaps auf den Hintern gegeben haben, wie oft wir schon unseren Browser-Verlauf löschen mussten, wie wir damals geschwindelt haben, um einen Job zu bekommen, oder der Online-Flirt, von dem unser Ehepartner nichts weiß. Was auch immer, wir alle haben unsere Geheimnisse. Die alten Kettenraucher in meinem Zwölf-Schritte-Programm sagen immer: „Du bist immer nur so krank wie deine Geheimnisse, Mädchen.“ Deshalb musste ich Caitlin von meiner Sünde gegen Larry erzählen, bevor ich mit reinem Gewissen zu seiner Frau gehen konnte, um sie zu trösten.

      Okay, na schön, da gab es noch etwas, was ich Larry angetan hatte. Kaum der Rede wert …

      Eine Woche, nachdem der Hirntumor bei Larry festgestellt worden war, hatte er mir eine E-Mail geschickt. Seine Freundin und er hätten Angst, dass er sterben würde, schrieb er, und deshalb wollten sie in der folgenden Woche heiraten. Ob ich sie trauen würde? Zum Glück hatte ich eine Ausrede. Wie ich Caitlin in ihrem Büro erklärte, war es mein Prinzip, immer zuerst eine Reihe von Ehevorbereitungsgesprächen zu führen, bevor ich ein Paar traute. Also sagte ich, es täte mir leid, ich könne das nicht machen. Letzten Endes konnten sie einen Schamanen, der ein Freund seiner Braut war, dazu bewegen, sie zu trauen.

      Tatsache ist aber, dass ich keinen Herzschlag lang gezögert hätte, wenn meine langjährigen Gemeindeglieder Jim und Stuart von einer tödlichen Krankheit betroffen wären und auf der Stelle heiraten wollten – oder irgendein anderes Paar, das ich gut leiden kann. Nur zu dieser Trauung hatte ich einfach keine Lust. Also schob ich die Sache mit den Ehevorbereitungsgesprächen vor und ließ das sogar noch von meinem Bischof mit unterschreiben.

      Caitlin hörte mir freundlich zu. Ich redete mich in Fahrt.

      Natürlich ist es nicht direkt gelogen, räumte ich ein, wenn man sich hinter einem „legitimeren“ Vorwand als „Ich habe keine Lust“ versteckt, aber es ändert nichts an der Wahrheit. Das ist eine verbreitete Angewohnheit. Wir gebrauchen faule Ausreden, um Verpflichtungen zu entrinnen, oder wir geben anderen Leuten die Schuld dafür, dass wir nicht zur Stelle sein können. Aber manchmal verwenden wir diese Verschleierungstaktik auch, um von Dingen abzulenken, die wir wirklich falsch gemacht haben und mit denen wir uns nicht auseinandersetzen wollen. Also lenken wir die ganze Aufmerksamkeit auf etwas, was jemand anderes getan hat. Oft führen wir uns mit diesen Ausreden selbst hinters Licht, aber bisweilen lässt uns die Wahrheit nicht los. Natürlich kann ich es vermeiden, dass andere mir auf die Schliche kommen, indem ich immer wieder jedem, der mir zuhört, meine geflunkerte Seite der Geschichte erzähle. Aber ich kenne die Wahrheit. Und manchmal holt sie mich