Hans-Joachim Bittner

Einfach geh'n: Stefan Wiebels Lebensreise


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weinte: „Schon wieder ein Leben kaputt.“ Kein Studium mehr möglich, für Nadia, keine Schule, kein grüner Zweig, kein Leben. Sie schimpfte auf die Scheiß-Männer, drei Wochen lang, und beruhigte sich wieder. Aufgewühlt und müde. Jetzt musste nüchtern gedacht und gehandelt werden. Die beiden anderen Töchter, die gleichfalls hübschen, fragten Stefan, ob ihm Nadia gefalle. Plingplings Charme wirkte …

       Zwillinge

      Sie gefiel ihm, nach wie vor. So wie das Leben in Ciudad Serdan, bei der Mutter, Nadia, ihrem Bruder und dem ganzen Clan. „Dass ich mit gerade mal 21 das alles erleben durfte, war schon bewegend. Sie nahmen mich auf wie einen Sohn.“ Er hatte tagtäglich Mini-Highlights, und eigentlich hatte er ganz andere Pläne, war voller Tatendrang. Der Traum des Bergführer-Jobs wurde schwächer. „Mit ihr zieh ich es durch“, reiften die Gedanken, ganz langsam: Familie. Und schon kamen die sorgenreichen Fragen: „Bin ich zu jung? Bin ich reif genug? Für ein Kind. Ohnehin nicht von mir. Ich bin nur Landschaftsgärtner. Ich muss heim.“ Er kannte das, dieses Gefühlschaos, es begleitete ihn seit etlichen Jahren.

      Sie landeten in München, Nadia und er. Schnurstracks ging es in seine 38-Quadratmeter-Intimsphäre in Jechling, Gemeinde Anger. In der Zeit, als er weg war, wohnte eine Röntgenassistentin dort. Er hatte sie rechtzeitig von seiner Rückkehr informiert. Sie zog aus, wie vereinbart.

      Da standen sie plötzlich: Stefan, voller Erlebnisse, Eindrücke und Emotionen nach seiner ersten langen Reise, mit erst 21. Und Nadia, so jung, gerade 18, hochschwanger, eine feurige Mexikanerin mitten in einem kleinen Dorf im tiefsten Oberbayern. Beim Nitzinger-Bauern holte sie unbedarft frische Milch und war schlagartig Gesprächsthema Nummer 1, im Ort. Das Kleinbürgertum hatte alles im Griff.

      Stefan bürgte für sie, am Flughafen, damit sie nach drei Monaten nicht zurück musste. Ihr Touristenvisum galt nicht ewig. In München hatten sie ihn auseinandergenommen. Nach Strich und Faden. Knallharte Einwanderungsbehörde, ohne Gnade. Es erwischte ihn wie eine Lawine, total unvorbereitet: „Ich war ja so grün hinter den Ohren, so naiv. Ich dachte: Na ja, setze ich mich halt mal eine halbe Stunde hin.“ Sie filzten ihn rigoros, von Kopf bis Fuß und nach mehr. Nach Drogen, Alkohol, Schmuggelware. Stundenlang. Sie vermuteten alles bei ihm. Sogar Zuhälterei. Aber keinen harmlosen bayerischen Gringo, der einfach nur ein braver Familienpapa werden wollte. Sie fanden nicht mal Geld bei ihm, so blank kam er zurück. Sie ließen ihn gehen und blieben skeptisch zurück.

      Stefan verstand das alles nicht. Er brachte doch nur seine Freundin mit. Hochschwanger. Das war freilich das „Sahnehäubchen“. Er brachte sie mit, in einen völlig neuen Kulturkreis, ein Schock für die junge Frau. Er rief seine Eltern an und teilte ihnen mit, dass er wieder hier sei und sie Hunger hätten. Die Eltern verwirrte die Wir-Form, in der ihr Sohn sprach. Sie brachten zwei Pizzen mit, sicherheitshalber. Und sahen die Überraschung, als sie in Stefans Wohnung kamen. „Sie waren erstaunt, klar, schlossen Nadia aber sofort in ihr Herz.“ Er klärte sie auf: Dass es gar nicht seine Kinder seien, die im Bauch seiner Freundin heranwuchsen. Kinder? Er wusste nun, dass es Zwillinge werden würden …

      „Die Leute sehen ohnehin nur das, was sie sehen wollen.“ Nadia war es sehr wichtig, dass er nach Außen der leibliche Vater sei. Und so war er der Vater. Punkt. Auf dem Papier wurde er das mit der Heirat im August 1992, amtlich beglaubigt, standesamtlich eingetragen in Anger, im Rathaus beim Bürgermeister Graßl, gleich neben der Pfarrkirche Maria Himmelfahrt. Zur Party fuhren sie – er jetzt „schon“ 22 – nach oben, zum „Deifei“ (Baamhacke) am Högl, wenige hundert Meter über dem Ort, in eine Art Dorf-Disco. Der Aufenthalt bis in die frühen Morgenstunden war dort gesichert und mit dem Trauschein Nadias Aufenthaltsgenehmigung. Später holten sie die kirchliche Zeremonie nach, in Mexiko, 25 Leute waren dabei, vom Gleitschirmclub Albatros aus Bad Reichenhall. Drei Tage und drei Nächte feierten sie. Durch. Sogar Opa Willi, schon fast 70 damals, war live dabei, Anfang November 1993. Stefan noch im Krankenstand, Rehaphase, neun Monate nach seinem Absturz am Bischling (siehe nächstes Kapitel „Das Leben kollabierte – Absturz II – Österreich“), extrem abgemagert und schwach auf den Rippen. Die Krankenkasse gab dennoch ihr Einverständnis. „Beim Hinflug ging’s mir brutal schlecht.“ In Mexiko wurde es besser. „Dort ging es mir irgendwie immer gut.“

       So sind sie, die Guatemalteken

      Nach der Feier ist er mit seinen Eltern „illegal“ über die Grenze nach Guatemala. Der Strom fiel aus, alles war dunkel, sie hätten warten müssen, wollten aber nicht. „Selbst schuld, wenn da keiner ist“, dachte sich Stefan. Er holte sein Rad, das er gut ein Jahr zuvor in Guatemala City ließ. Mit einem befreundeten Arzt – Dr. Ralf-Martin Kaukewitsch aus Freilassing – drehte Stefan im Anschluss noch eine Runde, zentrales Lateinamerika, das Fluggerät im Gepäck. Es ging wieder. Germana und Willi, Stefans Eltern, wollten noch nach Belize, mit dem Bus, und wurden gefilzt, regelrecht auseinandergenommen. Die entsprechenden Ein- und Ausreisestempel in den Pässen fehlten aufgrund der Nacht- und Nebelaktion zuvor an der Grenze. „Da hab ich meine Eltern ganz schön in die Bredouille gebracht“, sagt Stefan heute. Irgendwie schafften sie es aber doch, so wie er, der sich eines nachts zurück über die gestrenge Grenze nach Mexiko schleichen wollte. Doch die Guatemalteken erwischten ihn, löcherten ihn drei Stunden, filzten ihn wie zuvor seine Eltern und wollten 100 Dollar für jeden Tag, den er in „ihrem heiligen“ Land war. Sonst würden sie ihn für längere Zeit in einen üblen Knast werfen. Horrorszenarien türmten sich in seinem Kopf. Stefan dachte in diesem Moment nicht daran, dass er hätte behaupten können, er wäre nur zwei Tage (statt der tatsächlichen drei Wochen) in Guatemala gewesen. Er hätte bezahlt und alles wäre gut gewesen. „So weit kam ich in dieser prekären Situation aber nicht“, zu viele Gedanken flogen durch ihn. „Ich hab stattdessen völlig durchgedreht und einen Riesenaufstand gemacht. Spanisch konnte ich ja mittlerweile perfekt. Das wurde denen irgendwann zu blöd und sie rieten mir, mich rasch aus dem Staub zu machen.“ Das war das Beste, was ihm passieren konnte. Stefan schlich über eine große Grenzbrücke, rüber nach Mexiko: „Ich hatte total Schiss, dass die mich jetzt gleich rücklings erschießen würden.“ Er schaffte es. Auf der anderen Seite wurde er sofort freundlich in Empfang genommen. „Die Mexikaner wollten genau wissen, was da drüben los war, aus reiner Neugierde.“ Er erzählte ihnen alles. Sie lachten nur: „Ja, ja, so sind sie da drüben, in Guatemala. Schlimm.“

      Übrigens: die Guatemalteken bezeichnen sich selbst als Chapines, was so viel wie Latschen heißt. So wurden sie früher von ihren Nachbarn in Zentralamerika etwas spöttisch betitelt. Erst später erhielt das Wort Chapines seine heute positiv Bedeutung, ja bisweilen liebevolle Bezeichnung.

       Die schlaue Großmutter

      Kurz nach der „Deifei“-Fete im Sommer 1992 besuchten Stefan und Nadia die Oma am Chiemsee. Nadias schon kugelrunden Bauch hatten sie kaschiert so gut es ging. Nicht gut genug. Die lebenserfahrene Großmutter sah sofort, was los war, sie hatte sich in einem langen Leben das richtige Gespür für exakt solche „Fälle“ angeeignet: Und sie las ihrem Stefan die Leviten. Wehe, er würde Frau und Kind sitzenlassen. „Dann raucht’s“, drohte Oma Anni liebevoll, aber durchaus mit erhobenem Zeigefinger. Seine kluge Großmutter, die mehrere Kinder großgezogen hatte, hatte gesprochen, und er nahm es sich zu Herzen. Er wusste: „Ich darf keinen Mist bauen.“

      Seine Eltern freuten sich, das erleichterte es ihm, sie waren aufgeregt und strahlten: „Wir werden Oma und Opa.“ Die Geburt rückte näher, am 5. Oktober war es soweit: Es kamen gleich zwei Babys, zwei hübsche Burschen, gesund und munter. Das junge Paar wusste es vorher, seine Eltern auch. Für alle anderen war es eine große Überraschung. Dr. Horst Borgolte, Internist im Reichenhaller Krankenhaus, deutete „etwas“ an. Dass „da mehr Beine als üblich sind, und dass das kontrolliert gehört.“ Er vermittelte die junge Frau an einen Kollegen. Die Untersuchungen blieben dennoch sporadisch. Nadia hatte keine (Kranken)-Versicherung. Der Gynäkologe gab ihr einen Mutterpass und löcherte ihn, den vermeintlichen Vater: „Werden Sie die Kinder ausreichend versorgen? Was haben Sie vor?“

      „Es waren meine zwei Buben, ohne Wenn und Aber. Es war klar, dass ich voll und ganz für sie da sein würde.“ In seiner Heimat war er fortan „der Wiebei mit der hübschen Mexikanerin