Hans-Joachim Bittner

Einfach geh'n: Stefan Wiebels Lebensreise


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liebsten im Schnee.

      Heimat ist Stefan wichtig. Bei all dem Drang, raus zu müssen, in die Welt, weiß er sein Zuhause zu schätzen. In der Ferne daheim, daheim zu Hause. Abfahren, ankommen, dortbleiben, abfahren, ankommen, daheim sein, bleiben, … – das immer gleiche Spiel. Für immer weg bleiben? Noch nicht sein Ding. „Ich bin kein Auswanderer.“ Lange wegbleiben ja, vielleicht sogar mal ein ganzes Jahr, das schon. Aber für immer? Noch nicht. Die Träumereien von einer Blockhütte aus massiven Alaska-Stämmen im rauen Norden Nordamerikas sind legitim. Autark als Selbstversorger, Jäger und Fischer leben, eins mit der Natur werden, sein und bleiben. Jene Träume, niemand kann sie rauben.

      Mit einer guten Freundin aus Zivi-Sani-Zeiten bestieg er Ende der 1980er-Jahre zum ersten Mal ein Flugzeug. Es brachte sie nach Zentralamerika. Die erste große Reise, sein Knackpunkt. Costa Rica und Guatemala infizierten ihn, mit einem Fieber der besonderen Art: Fernweh, dafür gibt es kein Rezept, dagegen keine Pillen. Bus und Bahn beförderten den Gringo und die Blonde („blonder geht’s nicht“), durchs Land. „Da bekamen die Latinos große Augen, mein lieber Mann.“

      Dort, wo Stefan wohnt, ist zu erkennen, welche Länder er bereits bereist hat.

      Voller Erinnerungen kommt er heim, von seinen Reisen, einige Mitbringsel im Gepäck. Das ist Usus. „Die will ich daheim aufhängen, um mich zu erinnern und noch so lange wie möglich vom Unterwegssein zu zehren.“ Doch allzu schnell, zu rasant für ihn, überholt Stefan der routinierte Alltag. „Daheim wird das lockere, beschwingte, ja befreite und total relaxte Schlendern durch die Straßen, die Fußgängerzone oft schnell ausgebremst.“ Die Gegenwart – der Stress und die Hektik der Menschen, das geschäftige Treiben, die teils schlechte Stimmung, hervorgerufen durch Negativ-Nachrichten in den Medien – greift nach ihm. Schneller als ihm lieb ist. „Arbeit ist auch wichtig, klar.“ Die Vorfreude auf das Zuhause, die selbst er, der Wegbleiber, stark in sich trägt, verpufft zu rasch: „Weil man wieder von all dem Wahnsinn in der Welt hört, vom Wahnsinn daheim, den Nachbarschaftsstreitereien, den lokalen Schwierigkeiten, Unfällen, Neid und Missgunst, Lug und Betrug – so viele Verrückte laufen bei uns rum.“ Die Mordnacht von Bad Reichenhall, kurz nachdem Deutschland zum vierten Mal Fußball-Weltmeister geworden war, ist ein trauriges Beispiel. Ein älterer Mann starb, ein 17-jähriges Mädchen wurde schwer verletzt.

      Das Elchgeweih über der Eingangstür, der skandinavische Grill oder die echt-nordländischen Gartenmöbel können das unvermeidliche „ins normale Leben driften“ auf Dauer nicht kompensieren. Nicht für Stefan. Das Land „drumrum“ ist ein anderes, in Good Old Germany, in dem weder alles golden glänzt noch alles schlecht ist, beileibe nicht.

       Zwei Bayern auf Rügen

      Als Stefan und Irmi – sie war fünf Wochen später nach Norwegen geflogen und Stefan Wörz bereits zurück in Bayern, da sein Urlaub zu Ende war – wieder in Deutschland ankamen und die Fähre sie vom schwedischen Trelleborg in gut vier Stunden nach Sassnitz auf der größten deutschen Insel brachte, fanden sie einen nahe gelegenen Pinienwald. In einer kleinen Rügener Parkbucht wurde ihnen das Verweilen mit dem Wohnmobil per Tafel mit rotem Rand verweigert. Erst recht das Übernachten. Sie machten es trotzdem, waren müde, wollten einfach nur schlafen, und Stefan, vor allem er, war Verbotsschilder nicht mehr gewöhnt. Er wollte und will sich wehren, gegen ein durch und durch „vorgeschriebenes Leben“. Es war bereits Nacht. Sie blieben, ruhten gut, und brunchten noch besser am nächsten Morgen am menschenleeren, flach in die Ostsee abtauchenden Sandstrand, nur ein paar Meter von der Parkbucht. Prompt klemmte bei ihrer Rückkehr zum Fahrzeug ein kleiner weißer Strafzettel unterm Scheibenwischer. „Deutschland hatte uns wieder, willkommen daheim.“ Sie hatten niemanden gestört, die Umwelt in keinerlei Weise belastet, und hatten nun, nach nur wenigen Stunden, einen ersten unguten Heimat-Groll. „Natürlich leben wir hier sehr gut und wir dürfen nicht alles verteufeln. Wir haben alles, wir jammern auf hohem Niveau, logisch. Aber wir ersticken halt auch in Verboten, Vorschriften und Regeln.“ Der Strafzettel kam ihnen vor wie eine saftige Watsch’n, die sie – kaum zurück – unsanft und schmerzhaft empfing.

      Sie blieben immer noch, auf diesem Parkplatz, hier war es gemütlich, hier war es ruhig, hier dufteten die Pinien und die Kiefern und vermittelten noch ein wenig Urlaubsstimmung, so kurz vor dem Wiederein- und Abtauchen in den (deutschen) Alltag. Und Stefan hatte so überhaupt keine Lust, sich unmittelbar wieder verbiegen zu lassen. Der Ordnungshüter schaute erneut vorbei, zur Mittagsstund schlug’s bereits, das silbergraue Wohnmobil mit dem BGL-Kennzeichen stand immer noch da. Er klopfte vehement an die Campingtür und drohte unbarmherzig mit dem zweiten Knöllchen, Zornesröte im schwitzenden Antlitz. Sie verstrickten sich, viele Worte, wenig Ertrag, kein Ergebnis. Der Uniformierte beharrte auf „seinem Recht“ und der Wiebei verschaffte „seinem Unmut“ darüber Luft. „Irrsinnige Schilder mit rotem Rand.“ Es ging hin und her. Ungut zuerst, auf einmal sachlicher, ruhiger, besser. Sie versprachen, bald zu fahren, wollten keinen größeren Ärger, und der sukzessiv auftauende und irgendwann einsichtige Strafzettelmann, der nur seinen Job gewissenhaft erledigen wollte, zerriss sein kleines Mandat. Das zweite. Und plötzlich sogar das erste, samt Fotobeweis. Sie kamen nochmals davon, konsequenzlos freigesprochen, die zwei Bayern auf Rügen.

      In Skandinavien begegneten ihnen auch Vorschriften, natürlich. Doch nie mit dem erhobenen Zeigefinger. „Es sind eher Verhaltensregeln, die an den gesunden Menschenverstand appellieren – und ihn voraussetzen.“ Am Eingang eines Nationalparks werden die wichtigen Gebote einmal aufgelistet. „Das muss reichen, und es reicht.“ Im Naturschutzgebiet selbst darf der Flora-und-Fauna-Freund verbotsschildfrei wandern und genießen. Ich habe den – freilich keineswegs repräsentativen – Vergleichstest gemacht. Subjektives und unbestätigtes Resultat: Am Thumsee, „Biotop“ und Idyll nur wenige Fahrminuten oberhalb Bad Reichenhalls, meiner Heimatstadt, ein Areal von gerade einem Kilometer Länge und 140 Metern Breite im Schnitt, mit über- und unterirdischen Zuflüssen, begegnen dem aufmerksamen Spaziergänger sage und schreibe 32 verschiedene (!) Verbots- oder Gebots- sowie „Hinweisschilder bezüglich richtigen Verhaltens“ … – ja, sie schlagen ihm förmlich ins Gesicht.

       Inspirierende Jugendzeit

      Schon als Kind bewunderte Stefan die heimischen Kraxler, wenn sie wieder eine Erstbegehung in den Berchtesgadener Alpen in den hellen Kalkfels zauberten. Seitenweise verschlang er die Geschichten der tollkühnen, mutigen Kletter-Alpinisten, fand so viel Inspiration in den sagenhaften Bergbüchern unzähliger, oft vergessener Pioniere. Menschen mit unermesslichem Tatendrang, Mut, nicht zu bändigender Abenteuerlust. Selbst war er so intensiv mit den Eltern in den Bergen unterwegs, ganz ohne Brechstange lernte er das Leben in Tälern, auf den Almen und Gipfeln kennen. „Diese Zeit hat mich ganz stark geprägt“, weiß er heute. Und er weiß das alles zu schätzen. Papa Willi durfte er oft begleiten. Der arbeitete in einer sozialpädagogischen Erlebnisschule. Sie gingen klettern, absolvierten Kajakkurse, unternahmen mehrtägige Bergtouren, versorgten sich selbst. Hier spürte Stefan früh, welch Eigendynamik eine Gruppe entwickeln kann. Erst zwölf Jahre alt, war er voll und ganz im Teamwork integriert. Er lernte Könner und Laien kennen, echte Freaks, einige Verrückte, doch vor allem viele Bergführer aus der ganzen Welt. Und er eiferte ihnen nach, wusste bald eine Antwort auf die so oft gestellte Frage, was er denn mal werden wolle? Unumstößlich, ja nahezu in Stein gemeißelt: „Bergführer“. So klar wie der soeben beschriebene Thumsee, in dem er sich so oft nach heißen Sommertagen abgekühlt hatte. An späten Nachmittagen, als der Touristentrubel nachließ und die Einheimischen kamen, erfrischte er sich und genoss die lauen Abende am Ufer.

      „Ist es egoistisch?“, fragt Stefan. Er meint sein Tun. Und dass er macht, was er sich vornimmt. Macht, was er sich erträumt. So viele schwierige Reisen hat er hinter sich. Alphatiere hatten das Sagen, für ihn so schwierige Charaktere, die ihm das Wegsein erschwerten. Aufgrund diverser persönlicher Aversionen wurden so viele Ziele verfehlt. „Je mehr Leute zusammen unterwegs sind, desto mehr Zu- und Eingeständnisse muss jedes Teammitglied machen.“ Die Reisen avancierten rasch zu dauerhaften Kompromissen. Das war (ihm) zu anstrengend, das Unterwegssein verlor seinen Reiz, den Genuss, das Erleben. Die eigenen Ansprüche, Ziele und Wünsche zurückschrauben,