Hans-Joachim Bittner

Einfach geh'n: Stefan Wiebels Lebensreise


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Bergsteiger-Legende Reinhold Messer rieb sich, ehe er irgendwann allein oder mit Partnern seiner Wahl loszog und sein Tun selbst bestimmte, allzu oft an heroischen Expeditionsleitern auf. Freilich polarisierte er später selbst stark und wurde mitunter für Begleiter anstrengend. Für Stefan ärgerlich: „Ich war damals Landschaftsgärtner, verdiente nicht viel, verlor aber viel Geld bei derart unnützen, weil erfolglosen Unterfangen.“

       Frühreif

      Die Tendenz ging ganz klar Richtung „allein reisen“. Schon wieder quält Stefan, wenn er erzählt, die Frage, ob er dabei zu sehr an sich denkt, zu egozentrisch handelt. Doch wenn er allein unterwegs war, konnte, durfte und wollte er keinen anderen mit in seine Gefahr ziehen. Das war ihm klar. Und: Er war viel zu lange viel zu risikobereit. Schon mit 16 fuhr Stefan das erste Mal ohne Eltern in den Urlaub, trampte zum Klettern an die französische Adriaküste. Er wusste früh, was er wollte. Die Ziele klar vor Augen, die möglichen Konsequenzen nicht. „Hätte ich die damals einkalkuliert, hätte ich das alles womöglich nie gemacht.“ So ist er froh, bei allem was passiert ist, und das war nicht unbedingt wenig, vorab nicht so sehr daran gedacht zu haben, welchem Wahnsinn er da teilweise frönte. Letztlich machte es einen reifen Mann aus ihm, der heute wieder mit Begleitung reisen kann und auf größtmögliche Sicherheit umfangreichen Wert legt. Die Spannung dennoch nie verlierend.

      Das war alles: Nur mit einem Rucksack und seinem Fahrrad, zerlegt in einem Karton, brach Stefan nach Mexiko auf.

      Mit VHS-Spanisch – also nicht mehr als ein paar Brocken – ging es 1991 nach Mexiko. Da war er gerade 21. Allein, das Rad zerlegt in einer großen Schachtel. „Eigentlich mein bester Trip“, sagt Stefan heute. Er wollte radeln, im Land der Tortillas, Sombreros und des Tequilas sowie der Vulkane. Wollte von einem Feuerberg zum nächsten rollen und von ihnen springen. Und rein ins arme Guatemala, vielleicht runter bis in das so farbenfrohe Costa Rica. Nach dem Zivildienst, als Rettungssanitäter, hatte er Zeit und Möglichkeit aus- und aufzubrechen. Zurück in den Beruf, als Landschaftsgärtner, wollte er längst nicht mehr.

      Im Moloch Mexiko Citys trat Stefan vor den riesigen Airport-Komplex. Staub, Smog und Lärm dominierten und erschlugen ihn im ersten Moment. Der immer gleichmäßige Rhythmus, der immer gleiche Takt, Motoren- und Maschinen-Monotonie tagein, tagaus. Ohne Pause. Ohne Durchatmen. Er, der Takt, bebte in seinen Ohren.

      „Hinterm Flughafen hab ich mein Rad zusammengebaut, warf die Satteltaschen drüber und bin losgeradelt.“ Den Gleitschirm der Mutter im Rucksack. Mit 17, also vier Jahre zuvor, hatte er begonnen zu fliegen. Ohne Schein, schwarz, verjährte „Sünden“. Stefan wusste ein 10.000-D-Mark-Budget im Rücken, das durfte er selbstauferlegt verprassen. „Das musste weg.“ Er wollte es nicht aufheben. „Wozu“? Bei der Bank brachte es ihm nichts, so dachte er damals. Und so denkt er irgendwie noch heute.

       Porentief rein

      Naiv radelte Stefan dahin, zu wenig Flüssigkeit dabei. Er trocknete aus. Ein netter Lkw-Chauffeur hatte Cola geladen. Der war mit seinem Gefährt im Graben gelandet und half dem jungen Deutschen: „Da hab ich fünf bis sechs Flaschen auf einmal ausgetrunken.“ Danach hatte er noch mehr Durst.

      Mit dem Rad allein in Mexiko unterwegs: Am Paso de Cortés, 3.700 Meter über dem Meer.

      Bei Bauern fand er Unterschlupf, in Hütten Möglichkeiten zum Übernachten. Auch mal in einem billigen Hostel, so oft verdreckt, versifft regelrecht. Deshalb mal im Freien, weil sauberer, ruhiger und erholsamer als mit Dach überm Kopf. Nicht nur einmal landete Stefan unbewusst in einem Stundenhotel. „Von außen erkannte ich das nicht.“ Erstmal drin war rasch klar, was hier „gespielt“ wurde. Irgendwann war’s ihm egal. Es sind die „besseren Unterkünfte“: porentief rein, weil desinfiziert.

      Mit dem Mountainbike, einem Shimano Longus Competition 2000, ging’s zum ersten Vulkan. Den ist er einfach raufgestiegen, kerzengerade da kein Weg, und wieder runtergeflogen. Er tat das, was er wollte. Ohne Fragen zu stellen, ohne sich irgendetwas dabei zu denken. So frei, so 100 Prozent Leben, so mittendrin im Leben statt nur dabei.

      Und doch kam für den Wegbleiber so schnell und so unvermittelt alles wieder ganz anders …

      Xalapa am Citlaltépetl (Pico de Orizaba).

       Kapitel III: Der unfreundliche Vulkan – Absturz I – Mexiko

      Der Vulkan ließ ihn liegen. Zeigte kein Mitleid mit seinem Schicksal. Ließ ihn allein, in seinem Elend. Das zerfetzte Sprunggelenk, rechts unten, tobte und pochte.

      Stefan verlor sich fast in der weiten Landschaft unter dem Orizaba, der ihm so unfreundlich begegnete.

      Dezember 1991: Ein Gringo steigt auf einen Berg. Oben Eis und Schnee, wie am Kilimandscharo. Das ganze Jahr. Keine Erhebung wie gewohnt, in den heimischen, oberbayerischen oder Salzburger Bergen. Schwarz das poröse Gestein, rau und scharfkantig die erkaltete Lava. Keine Wege, kaum Pfade. Geröll und Schutt stellen sich hartnäckig in den Weg, hier und da lästiger Schwefelgeruch. Wie auf dem Popocatépetl, dem Berühmten, wenige Wochen zuvor. Dort, auf fast 5.300 Metern, ging alles gut. Jetzt ist Stefan auf dem Citlaltépetl (auch Pico de Orizaba) unterwegs. Mit 5.636 Metern (Mexiko preist ihn natürlich mit 5.700 Metern an) der höchste Vulkan Nordamerikas und damit gleichzeitig der Berg-König Mexikos. Die jüngste bekannte Eruption datiert aus dem Jahr 1846. Im letzten 1991-Monat bewegt sich ein großer farbenfroher Rucksack langsam nach oben, schwer, bedächtig fast, aber stetig an Höhe gewinnend. Ein paar Bauern staunen. Das machte hier bislang niemand sonst, zwischen den Bundesstaaten Puebla und Veracruz.

      Kurz vor dem Absturz: Start am Pico de Orizaba.

      Es war Winter. Kalt auch in Mexiko, aber trocken. Niederschläge sah er noch nicht. Und er war allein. Der Himmel wirkte fahl, in blasses Blau gehüllt. Stefan atmete tief, der Puls arbeitete schlagkräftig im Schläfen- und Halsbereich, pumpte den Lebenssaft im Eiltempo durch seinen Körper. Kopfschmerzen. Trockene Kehle. Ein Brennen, irgendwo zwischen Hals und Bauch. Er trank zu wenig, hatte kaum Wasser dabei. Der Schichtvulkan forderte ihn, forderte sein ganzes Ich, außen und innen, die gesamten 182 Zentimeter Stefan Wiebel. Er packte es, kam an, wo es nicht mehr weiterging. Gipfelglück ohne Kreuz. Er legte ihn aus, seinen Schirm, ausgeliehen von der Mama, so leuchtend, so Gelb, so Rot, ein wenig Lila und Blau war dabei. Für die fantastische Aussicht hatte er keine Muse, so frei, so grenzenlos rundherum. Er ordnete die Leinen, 100 Meter unter dem Höhepunkt, prüfte nochmal alle Gurte, ein kurzer Blick zurück, minimale Routine, wenig Vorsicht, ganz viel Risiko. Das wusste er nicht, ahnte es nicht, dachte nicht daran. Der Stoff lag gut, wartete hinter ihm. Ein paar ausladende Schritte, in seinem knallroten Bergwacht-Anzug, auf einem grauen Schotterfeld, große Steine, kleine Steine, Kies und Sand – weg war er, der Wiebei, und der Bodenkontakt. Der Vulkan verlor ihn. Gleißend schien es ihm ins Gesicht, leichter Wind blies erfolgreich gegen jegliche Versuche der Sonne an, ein wenig Wärme in Erdnähe zu erzeugen.

      Stefan haute sich raus, mit jedem Gramm, das er hatte. Er war schmächtig. Schlagartig nur noch eisige Luft um ihn. Er sank sofort, mit seinem bunten 927er-Nylon. Bedrohlich schnell. Es ging bergab, zu rasant. Rasch wurde ihm klar: Das ist kein Sinken, es ist ein Abstürzen. Die 23 Kammern reichten nicht, nie und nimmer. Schlagartig kam die Gewissheit: Es geht nur noch ums Überleben. Später, lange nach dem Absturz, folgte die Erkenntnis: Stefan war zu Beginn der 1990er-Jahre mit einem Gleitschirm aus den ersten Paraglider-Generationen