Hans-Joachim Bittner

Einfach geh'n: Stefan Wiebels Lebensreise


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Stefan Wiebel

      Mit der Kamera unterwegs.

       Der Momentensammler

      Stefans „Gartentürl“steht jedem offen.

      Hauptdarsteller in meinem Buch ist einer, der sich durch nahezu nichts aufhalten ließ und lässt. Dabei trieb er es immer wieder mal zu bunt, wie er selbst sagt. Und der berühmte Strich durch die Rechnung, seinen Lebensweg, kam für ihn mehrfach näher als ihm lieb war. Ein zu risikoreicher Gleitschirmflug und ein hb-Wert von 3,5 (normal wäre bei ihm 14 bis 18) im Frühjahr 1993 beschloss das „Kapitel Stefan Wiebel“ nahezu, beendete fast alles. Aber der Reichenhaller kämpfte, biss sich durch, überlebte und lebte fortan ein anderes Leben. Sicherer, aber nicht minder abenteuer- oder unternehmungsfreudig. Stefan entschied sich auch gegen das Drinnensein. Er muss raus, so oft es geht.

      Geboren am 31. Juli 1970 in Karlstadt am Main („Es passt ihm gar nicht, dass er kein echter Oberbayer ist“, verrät Papa Willi), aufgewachsen in Bad Reichenhall, ist Stefan mehr als ein Globetrotter: Er ist Gleitschirmflieger seit 1987, professioneller Tandempilot mit Deutschem Meistertitel, der jährlich über 100 Flüge absolviert – außer, wenn er, wie in den letzten Jahren, monatelang durch Norwegen, Schweden oder Finnland reist. Er ist erfahrener Höhenbergsteiger, der in seiner Vita auf Touren und Expeditionen im Himalaya, in Tibet, den Anden oder Neuseeland verweisen kann, er ist Faltboot- und Schlauchkanadier-Paddler, Skitourengeher und -wiederabfahrer, Mountainbiker und Hobbyfotograf mit Profi-Ansprüchen und mittlerweile echtem -Können, Multivisionsreferent, examinierter Krankenpfleger und nicht zuletzt, vielleicht sogar in der Hauptsache, „Momentensammler“. Den Song von TV-Moderator und Liedermacher Werner Schmidbauer stellte Stefan 2013/​14 seiner Vortragsreihe „Mit den Gezeiten“ voran. Eine 42-Tage-Reise, die er mit „Spezl“ Stefan Wörz 2012 erlebte – „erleben durfte“, wie er sagt. 2014 waren sie wieder unterwegs, hatten fast nur schlechtes Wetter, so viel Geplantes konnten sie nicht umsetzen, in Lappland. Trotzdem kehrten sie tiefenentspannt und glücklich zurück. Kein Jammern, kein Hadern, kein bisschen. Stattdessen reichlich Gefühl und Tiefe, Staunen, Sehen, Erleben und viel mehr als unvergessliche Augenblicke. Bilder für die Ewigkeit. So geballt.

      Schwer bepackt mit dem Faltboot in Nordnorwegen unterwegs.

      Stefan ist naturverrückt. Im positiven Sinn. Sein Motto: „Wer sich in der Luft ohne Hilfsantrieb fortbewegen kann, benötigt auch zum Reisen keinen Motor.“ Wenn es möglich war, fuhr er mit dem Fahrrad und einem Hänger hinten dran, 50 Kilogramm schwer, zu den Ausgangspunkten zum Klettern und noch viel öfter zum Gleitschirmfliegen.

      Letzte Umarmung: Zwei Monate sahen sich Stefan und Irmi im Frühjahr 2014 nicht.

      Die Geschichte seiner bislang 44 Lebensjahre würde für eine ganze Buchserie reichen. Stefans hervorstechende Momente, glückliche wie die weniger gelungenen – nicht nur einmal hat er sein Dasein übertrieben –, erzählte er mir in monatelanger intensiver Zusammenarbeit. Und ich verspreche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, in den folgenden Kapiteln fast alles, was ein Mensch erleben kann: Lebensmut und -freude, Leidenschaft, Überschwang, Inspiration, Risiko, Abenteuer, Emotion, Trauer, Wut, Verzweiflung und Schmerz – und ganz viel Herzblut. Garniert mit beeindruckenden Bildern aus der wahrhaft ungewöhnlichen Lebensreise eines echten Oberbayern. Denn das ist er trotz seines unterfränkischen Geburtsortes ohne jeden Zweifel.

      Stefan ist mit Irmi verheiratet und lebt mit ihr in Bad Reichenhall im Berchtesgadener Land. Sein Garten bietet den perfekten Rundumblick auf alle seine Flugberge, von denen er immer wieder solo sowie als Tandem-Gleitschirmpilot – mit Irmi oder begeisterten Gästen – abhebt, um seine Heimat von oben zu erleben.

       Kapitel I: Nichts versäumen

      Das Ziel stets klar vor Augen.

      Es geht nicht um Rekorde, es geht um Erleben, in der Natur. Still und sanft. Ruhe aufsaugend, Spannung haltend, Langsamkeit spürend. Körperlich wie seelisch, physisch wie psychisch. Gedankenfrei, wenn möglich. So inspirierend. Stefan braucht das, immer stärker. Immer intensiver. Immer impulsiver, die Kopfgeburt. Das Kribbeln, das Sprudeln in der Magengegend, die Vorfreude, das warme Wohlgefühl des auferlegten Ziels stets vor Augen. Und die Neugierde, den Pulsschlag, das Pochen, das Wissenwollen. Es geht nicht um Rekorde. Nie.

      Monatelange Vorbereitungen. „Denke ich an alles? Bloß nichts übersehen. Was kommt auf mich zu?“ Stefan läuft auf und ab, im Haus. Aufgeregt. Das ausladende Erdgeschoss, die liebevoll her- und eingerichtete Wohnung voller Reiseaccessoires im Reichenhaller Talkessel, reichlich Platz zum Sinnieren. Der Zeigefinger streift am Keramik-Schachbrett entlang, das er in Mexiko beim Spiel gegen Jesus, dem Bruder von Miguel, dem Spezl, gewonnen hatte. „Die müssen dort immer gleich um etwas spielen. Hätte ich verloren, hätte ich nicht gewusst, was ich hätte hergeben können.“ Die frühwinterliche Nachmittagssonne blinzelt durchs Fenster und belichtet ein paar Staubkörner, die tanzend der Schwerkraft trotzen. Stefan ist mit seinen Gedanken ganz weit weg. Im Norden Europas, in Lappland. Bedächtige Schritte. Grübeln. „Was ist noch zu tun?“ Standard-Telefonklingelton. Er muss eine Kundin an einen Kollegen vertrösten. Sie darf seine Empfehlung ruhig verraten, beim konkurrierenden Tandempiloten. Der angefragte Gleitschirmflug im April, wenn die Aufwinde hier in den Voralpen perfekt sind: unmöglich. Warum? Es geht nach Skandinavien. Einmal mehr. Die nächste Tour, der nächste Trip, das nächste Erleben. Der nächste Vortrag, der zweite, ist schon im Kopf, wenngleich noch ohne Drehbuch oder echte Bilder. Bewegte wie starre. Wie sie aussehen könnten, das weiß er bereits vorher. Stefans Vorstellungskraft ist enorm.

      Stefan Wiebel in seinem Element, hier am Rasmustinden (1.224 Meter) über dem Balsfjord in den Lyngenalpen.

      Die Ausrüstung, jene, die „seine“ Bilder produziert und das bereits geschulte Fotografenauge mittels unfassbarer Technik so sagenhaft unterstützt, wurde ausgebaut, sukzessive. „Ich habe mich aus dem Fenster gelehnt. Weit, sehr weit“, seufzt Stefan, der Ungewissheit bewusst. „Lohnt sich das? Das alles?“ Kommt hinten raus ein Plus? Muss es überhaupt ein Plus sein? Er muss es tun, ohnehin. „Ich kann nicht mehr anders.“ Das Kamera-Equipment darf und soll Profi-Ansprüchen genügen. Erst recht bei bis zu minus 20 Grad, bei Eis und Schnee, bei Regen und Wind und zuletzt einem Sturm. Einem Sturm, seinem Leben gleich.

      Stefan gelang es, Chileflamingos am Chiemsee zu fotografieren.

      Viel zu lange spielte die Fotografie eine untergeordnete Rolle: „Damit hab ich mich nie umfassend beschäftigt. Digital schon gar nicht.“ Jetzt bereiten Stefan feinste Pixel und Kontrast aufnahmefähige Sensoren richtig Spaß. Und Unbehagen: „Habe ich alles zusammen, habe ich die für meine Ansprüche bestmögliche Ausrüstung dabei?“ Fotografen-Kollegen verstehen: Hundertprozentig zufrieden sind sie mit ihrer Ausstattung samt Zubehör nie. Stefans Ergebnisse können sich sehen lassen, mehr als das.

      Es gelang ihm, fast als Einzigem vom Wasser aus (= hervorragende