Hans-Joachim Bittner

Einfach geh'n: Stefan Wiebels Lebensreise


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Ansonsten gehört die Saalach oder der Luftraum über dem Berchtesgadener und Salzburger Land zu seinen Kamera-Jagdgebieten.

      Stefan hat sich mit der Zeit zu einem echten Profi an der Kamera entwickelt …

      Das Unterwegssein stachelt an, so stark, so unverzeihlich, so bebend. Vom „höher, schneller, weiter“ längst getrennt. „Was bringt mir das?“ Die Fragen wiederholen sich. Er will erleben, nicht hetzen, will sehen und nichts versäumen, von den Großartigkeiten der verschwenderisch-verführenden, der faszinationsschwangeren Landschaften. Immer wieder, immer mehr. Er denkt nicht an Rekorde. Körperlich stehenbleiben ja, geistig nie. Gehen, einfach geh’n … Vorankommen. In klarer Luft. Einatmen. Für ewig abgespeichert. So tief. Die Kraft der smogfreien Polarluft. Aufsaugen. Und mit nach Hause nehmen. Die Inspiration, das Schweben auf Wasser, das Gleiten auf Schnee, die unfassbare Stille. Das Knirschen der Schneeschuhe auf Eisboden, der eigene Atem, das Außer-Atem-Sein, die Erschöpfung – die am Ende ein so wohliges Gefühl vom Kopf bis in alle zehn Zehenspitzen zaubert. Letztlich wieder Wärme. Er paddelt, er zeltet und steigt auf (Schnee-)Berge, mit Skiern, fährt wieder elegant ab, klettert, auch mal im Eis. Und er fliegt, immer noch … – all das hat er längst und das andere vorerst für sich entdeckt.

      Früher bewegte sich Stefan im Spitzensportbereich: Einmal Deutscher Meister, zu zweit an 20 neonbunten Nylonschnüren hängend, unter einem 26-Quadratmeter-Schirm. Sechsmal beim Dolomiten-Mann dabei, in Lienz, Osttirol, westliches Österreich. Als Paraglider, als Gleitschirmstürmer. Genuss war’s keiner, eher eine Hatz, eine gefährliche. Wie so oft. Das Vergnügen kam danach, am Siegerpodest, zu kurz: zweimal Zweiter mit jenem Schirm, einmal Gesamtdritter im Zwei-Disziplinen-Team, mit Anderl Hartmann, dem inspirierenden Freund und hilfreichen Ideengeber, dem seit 2013 Profi-Mountainbiker, der gute, der immer besser werdende … – von nebenan, aus Bad Reichenhall. Mit ihm er trainiert schon mal, am Hochschwarzeck, Berchtesgadener Land, in tiefen Tälern und auf hohen Bergen.

      Profi-Mountainbiker Anderl Hartmann (rechts mit der Startnummer 20).

      Die Lyngenalpen.

       Kapitel II: Der Wegbleiber

      Er wollte es schon immer: Unterwegs sein. Es lag im Blut. Stefan musste immer früh raus, nicht erst beim ersten Sonnenstrahl, denn da ist er längst da. Auch der letzte hat seinen ganz besonderen Reiz für ihn, er bleibt bis zum Schluss des Tages, bis zum letzten Lichtschein. Aber er kommt wieder. Zurück, nach Hause, ins Gewohnte, scheinbar Sichere, Geborgene und Warme.

      Stefan, gerade fünf geworden.

      Hügelig ist’s dort, wo er diese Erde betrat. Maingegend, Weingegend, Fachwerkgegend. Würzburg ganz nah. Karlstadt-Wiesenfeld, der Main gleich nebenan. Unterfranken, Bayern, gerade noch. Heimat der Mutter. Und mal Soldaten-Station des Vaters. Die lernten sich beim Klettern kennen und bald lieben. Aber es ging rasch zurück in die nähere Heimat von Papa Willi, der in Rankham bei Bad Endorf zur Welt kam und später am Bodensee lebte. Sein Vater war schon bei der Bundeswehr und wurde viel versetzt. Über Reit im Winkl und den Chiemsee, dort verbrachte Willi Wiebel den Großteil seiner Jugend, erreichten sie später Bad Reichenhall. Hier kam knapp ein Jahr nach der Geburt Stefans, also im Juni 1971, seine Schwester Simone zur Welt. Beide wuchsen in der Kurstadt auf, im „richtigen Bayern“, wie Stefan sagt. In Oberbayern, mehr Freistaat geht nicht. Richtige Berge, nicht nur Hügel wie am Main, die Felsen schroff und steil, so imposant, so hell der Kalkstein. Er fand das alles immer faszinierend und anziehend. Von Anfang an. Es lag im Blut. Sein Vater war bis 1980 Heeresbergführer bei den Gebirgsjägern, stationiert in der deutschen Hauptstadt des Salzes. Stefan ist ein Reichenhaller: „Ja, ich fühl' mich so, ohne Wenn und Aber“. Seine Schwester Simone lebt heute in Berchtesgaden.

      Klettern war schon immer seine Sache.

      Die Schule war ihm immer ein Dorn im Auge: „der blanke Horror“. Zwischen den Bänken saß er und schaute aus dem Fenster, träumte von fernen Ländern. Und vom Ende der letzten Stunde: War die geschafft, ging’s sofort raus in die Natur, zum „Staffabrucka Stoabruch“, gefährliche Kletterspiele über der Saalach, zum Streunen und Lausbuben-Geschichten aushecken, im Wald über dem Strailach-Weg – und mit erst zwölf Jahren und Papa Willi das erste Mal durch die berüchtigte Watzmann-Ostwand. Dort, wo Jahr für Jahr mindestens ein Kletterer sein Leben lässt. Nicht nur in der Göll-Westwand ging’s später ordentlich zur Sache, die Schwierigkeitsgrade stiegen. An den Gleitschirm hingen sie ihn (zu) früh, 14 oder 15 war er gerade einmal: Am Haiderhof bei Schneizlreuth landete Stefan prompt in einem Apfelbaum. Das erschreckte ihn und seine Eltern. Aber nur kurz. Er wurde aufs Leben vorbereitet, mit allen „Aufs und Abs“.

       Aufklärende Lieder

      Als 14-Jähriger einen Sommer am Berg.

      Die kompletten Sommerferien 1984 verbrachte Stefan in primitivsten Verhältnissen: Ferienjob auf 2.941 Metern, in einer Biwakschachtel am Hochkönig. Das heutige Franz-Eduard-Matras-Haus wurde gebaut, denn das Schutzhaus, bereits 1898 errichtet, fiel am 4. Mai 1982 einem Brand zum Opfer. Das Wiedereröffnungsfest stieg am 1. September 1985. Stefan half Hüttenwirt Hermann Hinterhölzl und den Handwerkern, die sich die Bergklinke in die Hand gaben: Maurer, Installateure, Dachdecker, Maler. Er kochte: „Na ja, ich wärmte Dosenfutter auf, jeden Tag die gleiche Pampe mit Tomaten, Reis, Paprika und Hackfleisch“, schmunzelt er heute. Es gab eine spezielle Dosenpresse, das erleichterte die Sache ein wenig. Stefan putzte die Unterkunft und wusch die Wäsche der Arbeiter. Erstaunliches Selbstbewusstsein, erstaunliche Selbstständigkeit, erstaunliches Durchsetzungs- und Durchhaltevermögen eines Jungen, der schon immer wusste, was er wollte, was er tat, und der seine Ziele anpackte ohne vorab großartig zu lamentieren. Am Hochkönig genoss Stefan schon damals, als Heranwachsender, den Ausblick auf über 200 Dreitausender, vom Toten Gebirge über den Großglockner bis zur Zugspitze, erlebte sagenhafte Sonnenauf- und -untergänge. Er fühlte sich von Anfang an gut dort oben aufgehoben. Am Abend sangen sie Lieder, die handwerkenden Feuchtfröhlichen. Keineswegs jugendfreie Songs. „Da ging’s irgendwie immer um Frauen und ihre ‚Ausstattung‘ – das war ziemlich heftig“, lacht Stefan heute. „Ich glaube, ich wurde damals aufgeklärt, ziemlich unbewusst“.

      Ein anderer Ferienjob brachte das Kontrastprogramm: Jeden Samstag um halb drei Uhr nachts aufstehen, um eine halbe Stunde später bei einem Bäcker ganz in der Nähe auszuhelfen: Semmeln und Brezen sortieren und fürs Liefern herrichten, ausfahren, putzen und was sonst noch so alles anfiel. Am Abend stand er dann auf einer großen Matte in Gelb, Rot und Blau und hat gekämpft. Beim Athletikclub Bad Reichenhall, als Schüler- und später als Jugend-Ringer. Einmal, da war er erst 14 oder 15, sogar gegen Olympia-Medaillengewinner Markus Scherer: „Der hat sich in der ersten Runde mit mir gespielt, danach hob er mich aus und feierte seinen üblichen Schultersieg. Der hatte wenig Fingerspitzengefühl, gegen einen Grünschnabel wie mich“, ärgert sich der Wiebei noch heute darüber, wenn er sich erinnert. Er musste aushelfen, weil die leichteste Gewichtsklasse bis 48 Kilogramm für die meisten Erwachsenen „zu leicht“ war. Nach zehn Jahren war Schluss, mit dem Ringsport, Mama Germana atmete durch: „Das gefiel mir gar nicht, das mit dem Rangeln“.

       Noch kein Auswanderer