Unterwegs in Lateinamerika.
Kapitel IV: Schon wieder ein Leben kaputt
Er wollte Spanisch lernen. So richtig, mit allem drum und dran. Jetzt, auf der Stelle. In Guatemala, einem landschaftlich einzigartigen Land, das nach vielen Bürgerkriegen in Korruption und Armut versank. Die Sprachschule war in Quetzaltenango, auf 2.234 Meereshöhenmetern. Für einen Monat schrieb sich Stefan ein. Er wohnte drei Wochen bei einer Familie, und er lernte Spanisch, in einer Stadt, die für ihre Sprachschulen bekannt ist und eine Partnerschaft mit dem norwegischen Tromsø pflegt, der nördlichsten Universitätsstadt der Welt. Jener Metropole im so weit entfernt liegenden Europa, etwas nördlich des Polarkreises, zu der Stefan sehr viel später ebenfalls eine Verbindung aufbauen sollte. Heute spricht er fließend Castellano. Es hat sich gelohnt, die Mühe in Lateinamerika. Manchmal fallen ihm die deutschen Begriffe für spanische nicht ein, wenn er erzählt.
Nach seinem Sprachkurs wollte Stefan wieder „rumdeifen“ („rumteufeln“ – eine hochdeutsche Erklärung für „rumdeifen“ ist schwierig. Ich beschreibe es mal mit „frei und ungezwungen umherreisen und bleiben wo man will“, also sowohl spontan, am Ende aber auch durchaus zielgerichtet/Anmerkung des Autors). Er spürte es ja schon lange, dass das Reisen „sein Ding“ ist. Er ging durchs Dorf, abends, ging spazieren. Voller Gedanken, voller Pläne und Träume, Gefühlswirrwarr durch und durch. Plötzlich eine leichte Berührung, im Gesicht, von hinten: „Es war der Schorsch“. Unglaublich, ein alter Bekannter aus Bad Reichenhall, sie kannten sich vom Gleitschirmfliegen. „Georg?“ Tatsächlich, der Schorsch. „Wahnsinn …“. Stefan war platt, sprachlos zuerst, so ein Zufall. Der BWL-Student, fünf Jahre älter als der Wiebei, wusste, dass der gerade in Lateinamerika unterwegs war. In seinen Semesterferien flog er einfach hin. Die Wahrscheinlichkeit, den Stefan tatsächlich zu finden, in einem riesigen Gebiet, tendierte gegen Null – wenngleich nahezu alle Gringos auf dem gleichen Trail unterwegs waren. Er traf ihn, seinen „alten“ Spezl, das Unmögliche klappte.
Der Schorsch hatte sechs Wochen Zeit zum „rumdeifen“. Aber Stefan musste noch seine Schule abschließen. Da lieh sich Georg Wiebels Rad und fuhr los. Beide hatte längst die Reiseleidenschaft gepackt. Am Lago di Atitlán trafen sie sich wieder, dem zweitgrößten See Guatemalas auf 1.560 Metern. Sie reisten weiter, radelten in den Norden, sahen das Land, fühlten es, erlebten es. Sie schauten sich Ruinen an. Tikal beispielsweise, eine antike Stadt der Maya in den Regenwäldern des gleichnamigen Nationalparks mit bemerkenswerten Stufentempeln. Sie war eine der bedeutendsten Städte der klassischen Maya-Periode (3. bis 9. Jahrhundert) und ist eine der am besten erforschten. In diesem kleinen mittelamerikanischen Land gefiel es Stefan. Mit allen Sinnen bereicherten die beiden ihr Empfinden. Sie reisten viel und intensiv, der Georg und der Stefan. Unter anderem mit dem Bus. Und sie besuchten einen Ausgewanderten aus der Heimat …
Guatemala: Warnung vor einer 200 Meter langen Glatteiszone – bei über 30 Grad im Schatten.
Stefan nannte ihn den „J.R. von Guatemala City“, der dort mit seiner Frau lebte, die ebenfalls aus seiner Heimat stammte. Die feierten, feierten feudal, feierten viel, fast unentwegt. Und wenn der Alkoholpegel einen gewissen Grad erreicht und/oder überschritten hatte, fingen sie an, mit ihren Karabinern und Westernpistolen auf die Palmen im Garten zu schießen, die Reichen der Stadt, der kleine Prozentsatz der Bevölkerung mit Geld. Jene also, die das Land regieren, anschaffen, sich aushalten lassen. Sie stachelten sich in ihrer gegenseitigen Arroganz an, wer die größeren Kugeln hätte und rissen riesige Löcher in die dicken, knallgrünen Blätter. „Leichte Mädchen“ vergnügten sich derweil kitschig „aufgebrezelt“ (hochdeutsch: zu stark geschminkt) am und im Pool und wurden später dazu gerufen. Zu den Waffennarren, den Mächtigen, den Hochnäsigen, den so oft Übergewichtigen. Irgendwann verschwanden sie. In geheimen Zimmern der Lodges. Immer zwei, mal drei. Abgeschlossen. Die braven Ehefrauen warteten daheim, hielten Haus und Hof in Schuss, zogen die meist recht umfangreiche Kinderschar groß – und ahnten bestenfalls, was bei den Partys so alles vor sich ging.
„Die waren nur noch deppert“, erinnert sich Stefan. Die Aktionen „J.R.’s“, der schon mal mit einer Cessna zum Kaffeetrinken an den Golfplatz flog, hielt er für „voll banana“. Wie die Feten am Pool. Er hatte bislang nur den (oberflächlichen) Straßeneinblick bekommen, ahnte nicht, was sich in einigen Gassen und vor allem hinter den Fassaden so alles abspielte. Jetzt erlebte er einmal kurz diese Glitzerwelt und wusste sofort, dass er weg musste. Mal wieder. Mal wieder schnell. Wie hätte er reagieren sollen, fragte er sich, auf den Umgang mit Alkohol und Mädchen, auf die sinnlose Ballerei auf Palmen, das sorglose Hantieren mit Waffen, als wäre es Spielzeug – er, der Kriegsdienstverweigerer.
Cowboystiefelzeit
Hand aufs Herz, Stefan: Wehrdienstverweigerer, da gab es zu Hause, beim Papa, dem Heeresbergführer, schon so manche Diskussion, oder?
Erstaunlicherweise nicht im Geringsten. Ich war bei der Musterung in Traunstein. Es waren die 80er-Jahre, Cowboystiefelzeit. Wir saßen im Flur, in Unterhosen (!) und unseren Angeber-Schuhen. Verrückt. Und ich wurde als „Zweier“ mit sage und schreibe elf Einschränkungen eingestuft. Das Kreiswehrersatzamt diagnostizierte krumme Beine und ein schiefes Kreuz bei mir. Da musste ich lachen. Ich kletterte im 8. Grad – und die bewerteten mich als gebirgsuntauglich (Stefan schüttelt noch heute den Kopf darüber/Anmerkung des Autors).
Sie bescheinigten dir tatsächlich Gebirgsuntauglichkeit?
Ja, das muss man sich mal vorstellen. Und Höhenuntauglichkeit obendrein. Obwohl ich schon mit 17 Gleitschirmflieger war. Ich gebe zu: Da war ich eingeschnappt und habe prompt verweigert. Eigentlich hatte ich mich bereits mit dem Gedanken angefreundet, in den Skizug zu gehen: Bergsteigen, Skitouren gehen, Skifahren, eine richtig gute Gebirgsausbildung, draußen sein. Der Dienst an der Waffe war für mich nie ein Thema, darum dachte ich mir: Wenn schon Bundeswehr, dann in einer Gebirgstruppe, die kraxelt, Ski fährt, in Bewegung ist. Das war nun schlagartig erledigt, aber in Ordnung. Ich musste mich nicht besonders damit abfinden. Ich machte Zivildienst bei den Sanitätern, das ebnete mir meinen späteren beruflichen Weg. Heute habe ich eine noch viel klarere Vorstellung von der Bundeswehr und würde auf jeden Fall verweigern.
In einem Dorf mit ausnahmslos dunkelhäutigen Bewohnern kauften Stefan und Georg einen Einbaum und stachen ohne Vorbereitung kurze Zeit drauf unbedarft in „See“ – die Mangrovensümpfe zwischen dem Rio Dulce („Süßer Fluss“) und dem Lago de Izabal, dem größten See Guatemalas, südlich von Livingston am Golf von Honduras, lagen vor ihnen. Nach wenigen Metern ging das Ding unter, es war viel zu klein, trug die beiden nicht. Stefan schaute seinen Spezl, den selbsternannten Einbaum-Spezialisten, fragend an. Der war verdutzt. Ein neuer, größerer Einbaum musste her. Er wurde geschnitzt, von Einheimischen, extra für sie, die beiden Oberbayern. „Ein echtes Gringo-Boot“, erinnert sich Stefan lebhaft.
Verpaddelt
Langsam tasteten sie sich vor, auf der spiegelglatt gespannten Oberfläche. Einer riesigen Glasscheibe gleich. Eine dünne Spur zeugte hinter ihnen von den bedächtigen Paddelzügen. Ist es so ruhig, wird auch der Reisende ganz still, bedächtig fast. Mückenalarm hin und wieder, drückende Schwüle, gewaltige Schweißperlen auf der schon sonnengegerbten Haut, sie tropften ihnen in die Augen. Übernachten in Hängematten, einmal ohne festes Land, zwischen zwei Bäumen, die im Wasser wachsen. Selbstverpflegung, kein Mensch weit und breit. Das Ziel: El Estor im Westen des 48 Kilometer langen und 20 Kilometer breiten, mächtigen und doch so friedlichen Gewässers.
Sie verpaddelten sich recht ordentlich, in der Einsamkeit, und gerieten