Harry Kämmerer

Dunkle Seite - Mangfall ermittelt


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Nein, das geht ihn nichts an. Das kann er nicht lösen. Er ist kein Sozialarbeiter. Wie Peter Bruckner. Das erste Opfer des Attentäters.

      „Wohin hat man Andrea gebracht?“, fragt Josef, als Harry wieder in der Quiddestraße eintrifft.

      „Krankenhaus Bogenhausen. Paul will, dass sie in Toms Nähe ist.“

      „War es knapp?“

      „Arschknapp. Offenbar hat sie nach ihm gesucht. Und ihn gefunden. Oder andersrum.“

      „Warum dreht Andrea immer allein diese Dinger?“

      Karl zuckt mit den Schultern. „Das ist nicht ihre Schuld, sag ich mal. Der Typ hätte sie sowieso gekriegt. Wenn nicht da, dann woanders. Die ganzen Fotos in seiner Bude. Er war immer an ihr dran.“

      „Jetzt nicht mehr“, sagt Christine.

      „Ist der Fall mit dem U-Bahnschubser damit abgeschlossen?“, fragt Harry.

      Josef wiegt zweifelnd den Kopf hin und her. „Die Motive liegen völlig im Dunkeln. Auch was zu seinem Tod geführt hat. Das ist kein Unfall, wenn du auf einem Parkplatz mit Vollgas überfahren wirst.“

      „Aber das Motiv?“, fragt Christine.

      „Der Schubser hatte auch keins“, meint Harry.

      „Doch, Geltungssucht“, widerspricht Karl.

      Josef nickt. „Vielleicht sind wir ein bisschen schlauer, wenn wir seinen Laptop gecheckt haben.“

      James Bond

      Paul liegt auf seinem Bett, starrt die Zimmerdecke an. Verkehrte Welt. Er ist doch eigentlich derjenige in der Familie, der immer in unangenehme und gefährliche Situationen reinrutscht, nicht Andrea. Ist das so? Wenn er sich das jetzt genau überlegt, dann stimmt das nicht. Andrea hat einen lebensgefährlichen Job. Weiß er doch. Verdrängt er aber in der Regel. Zum ersten Mal hat er heute echte Verlustängste gehabt. Wirklich große Angst. Diese Geschichte letztens mit der Lawine in den Bergen, als Andrea in der Hütte verschüttet war, das war eher wie bei James Bond. Da ist ihm gar nicht der Gedanke gekommen, dass ihr wirklich etwas passieren könnte, obwohl er die Gefahr doch am eigenen Leib gespürt hat. Er war sich sicher, dass Andrea unverwundbar ist. Unsinn, ist sie nicht. Die Hütte hätte unter der Schneelast einfach zusammenklappen können wie ein Kartenhaus. Und das wäre es gewesen. Kam ihm gar nicht in den Sinn. Aber als er sie vorhin in dem Abbruchhaus gesehen hat, bedeckt mit Staub und Dreck, mit der vollgepinkelten Hose – sie sah fürchterlich aus. Ein Häufchen Elend. Nein, anders – als hätte jemand einen ganzen Berg Elend auf seiner wunderbaren, schönen Schwester abgeladen. Sie ist doch die Starke, die ihn, ihren kleinen Bruder, immer wieder aus der Scheiße raushaut. Ach, Andrea!

      Paul gähnt. Er ist erschöpft, hat zu viele Gefühle verbraucht, sich zu viele Sorgen gemacht. Er muss schlafen. Dringend. Und dann wird er am Nachmittag ins Krankenhaus fahren. Der Arzt hat gemeint, dass sie ein paar Tage zur Beobachtung dableiben soll. Nichts Schlimmes. Aber was weiß der denn? Es geht doch nicht nur um einen messbaren Gesundheitszustand. Wenn diese Erfahrung nicht schlimm war, was ist dann schlimm? So einfach steckt man das nicht weg. Auch Andrea nicht. Hoffentlich hat sie keinen Psychoknacks.

      War’s das?

      Karl ist frustriert. Die Analyse der Laptop-Festplatte des U-Bahnschubsers ergibt rein gar nichts. Viele Musikdateien – House- und Elektrotracks –, ein paar belanglose Mails, keine zwielichtigen Seiten mit Pornos oder Gewalt. Auch nichts, was auf weitere Verbrechen hindeutet, auf Mittäter, auf Motive. Er fährt den Laptop runter, startet Word auf seinem Computer, um einen kurzen Abschlussbericht zu schreiben. War’s das wirklich mit ihrem Serientäter? Ein Problem, das sich von selbst erledigt hat? Nein, nicht wirklich. Es hat sich ja gerade nicht selbst erledigt. Jemand anders hat das getan. Wer hat Vinzenz Krämer umgefahren? Und warum? Vielleicht kann Andrea noch was zu dem Typen erzählen, wenn sie wieder aus dem Krankenhaus zurück ist. Manchmal kommen diese Psychopathen ja plötzlich ins Reden, wenn sie glauben, am Ziel zu sein, die Lage zu beherrschen. Ja, vielleicht kann ihnen Andrea weiterhelfen, um diesen Typen und seine Welt zu verstehen.

      Wie lange wird Andrea in der Klinik sein? Komisch, wenn sie da ist, nervt sie ihn meistens. Jetzt, wenn sie nicht da ist, fehlt sie ihm. Er sieht zu Harry, der sich gerade mal wieder um seine Kakteen kümmert. Spinner! Aber die Aktion in der Siedlung am Innsbrucker Ring war super von ihm und Paul. Guter Instinkt. Gerade noch rechtzeitig. Das hätte böse ausgehen können. Und er selbst hatte sich noch über Andrea lustig gemacht, als sie gemutmaßt hatte, dass sich der Typ da rumtreibt. Sie hatte recht.

      Er sieht zu Christine. Sie ist in irgendeine Recherche vertieft. Josef ist bei Dr. Sommer in der Rechtsmedizin. Wegen der Obduktionsergebnisse. Das wird vermutlich nicht viel bringen. Was soll es schon groß für Spuren geben an der Leiche des U-Bahnschubsers nach so einem Crash? Ein paar Lackpartikel, eventuell Hinweise auf die Automarke, den Autotyp. Wenn es ein Allerweltsmodell ist, haben sie wenig Chancen. Ein konkreter Hinweis auf das Auto wäre gut. Augenzeugen gibt es bis jetzt leider nicht. Karl wundert sich. Da leben in so einem Hochhausviertel so viele Leute auf engstem Raum zusammen, aber sehen tut dann keiner was. Naja, es war tief in der Nacht.

      Karl schaut nach draußen. Es ist schon dunkel. Er tippt die letzten Zeilen seines Berichts, speichert und fährt den Computer runter. Das war’s für heute.

      Der Deal

       Fuck! Der Deal ist durch und jetzt soll ich nochmal hin? Reden. Mit wem? Was gibt es da noch zu reden? Ich bin abgezogen, Auftrag zu Ende. Das hier gefällt mir nicht. Allein, dass ich wieder in Neuperlach bin. Die ganze Aufregung in letzter Zeit wegen der U-Bahn-Sache auf der anderen Seite des Parks. Ich hasse die U-Bahn. Aber heute hab ich sie genommen. Auto wäre zu auffällig. Irgendwer sieht immer was. Und dann dieser Unfall mit Fahrerflucht. Zu viel Aufmerksamkeit für diese Gegend. Gut, dass ich jetzt raus bin aus der Geschichte. Zu gefährlich. Ich muss weg aus München. Der nächste Job dann bitte irgendwo oben im Norden. Weit weg. Lange muss ich eh nicht mehr arbeiten. Wenn die Kohle kommt, bin ich weg. Und die Kohle kommt. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.

       Kein Verkehr. Viertel nach elf. Bin ein bisschen früh dran. Egal. Kann ich wenigstens nachsehen, ob wirklich alles aufgeräumt ist, ob die Wohnung leer ist. Die Wohnblocks – wenn ich in so einem gesichts- losen Mietsilo leben müsste! Die ganze Gegend – nichts los, alles tot. Nur noch über die Straße.

       BSSSOSCHHHTAANGG!

       Ein Blitz! Ein Knall! Ich flieg hoch in die Luft, ich schlag Saltos, seh das ganze Universum, all die Sterne, Spiralnebel, spür die kalte, schneidende Nachtluft. Seh alles wie im Traum. Ganz weit, ganz hoch hinauf, all die Lichtstraßen der großen Stadt, das Flirren der Autoscheinwerfer, die roten Schlangen der Rücklichter, das Farbenspiel der Ampeln, die Blaulichter der Polizeiautos, die Neonwerbe-tafeln, die alles versprechen. Ich versprech auch etwas: dass es vorbei ist mit dem Katz-und-Maus-Spiel, mit der ganzen verrückten Scheiße.

       Die tausend Dinge, die ich noch vorhab, die ich verpasst hab, alles kondensiert in einem Augenaufschlag, einem Knall. Alles explodiert, implodiert, erlischt.

       PLOCK!

       Aufprall. So hart!

       Ah, diese Schmerzen. Alles ein einziger Schmerz. Mein Kopf? Funktioniert noch.

       Was war das? Ein Auto? Da war doch keins? Oder? Ich hab nichts gehört.

       Doch – jetzt Autotüren, Schritte, Stimmen.

      „Boh, voll auf die 1-1-2.“

      „Respekt, hast ihn sauber erwischt.“

      „Ja. Geiler Stunt, der Gute.“

      „Und wir wieder: Bssst – out of the black! Wir haben’s echt drauf.“

      „Und diesmal ist es der Richtige.“

      „Ja,