Jürgen Rath

Konstantinopel von unten und andere Schrecklichkeiten


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      Die beiden Bootsleute konnten Heinrich Behrens inzwischen nicht mehr stützen. Da er von selbst keinen Schritt mehr machte, auch kein anderes Lebenszeichen von sich gab, also offensichtlich tot war, schleiften sie ihn hinter sich her.

      Oben im Schutzraum zündeten die Männer den Ofen an und machten Wasser warm. Vormann Tiarks saß gegen die Holzwand gelehnt und beobachtete seine verbliebene Mannschaft, es war nur noch eine Handvoll. Im Geiste zählte er die Verluste auf: Vier Menschen der holländischen Tjalk gestorben, zwei von der Ettina. Und vier seiner Männer waren auf dem Weg über die Sandbank abhanden gekommen, die würde die Flut mitnehmen.

      »Wo ist Heinrich?«, fragte er.

      »Tot«, sagte einer der Bootsleute, »an Unterkühlung gestorben. Er war zu schwer, wir konnten ihn nicht die Leiter hochbekommen. Deshalb haben wir ihn mit seiner Rettungsweste unten an der Bake festgebunden.«

      Sie zogen die nassen Kleider aus, wickelten sich in die Decken und wärmten sich aneinander. Sie tranken das heiße Wasser, dann glitten sie in einen unruhigen Schlaf.

      Vormann Tiarks schlief nicht. Er saß gegen die Wand gelehnt, von Zweifeln geplagt. Was habe ich falsch gemacht, fragte er sich immer wieder, an welcher Stelle hätte ich anders entscheiden müssen? Oder war es von Anfang an zu gefährlich gewesen, hinauszufahren? Er kam zu keinem Ergebnis. Er hatte ein gutes Boot und eine erfahrene Mannschaft, doch in diesem Falle erwiesen sich die Naturgewalten als stärker.

      Dann legte er sich die Worte zurecht, mit denen er Greta Behrens gegenüber treten wollte. Er verwarf sie wieder und überlegte sich einen anderen Beginn. Sie war jetzt Witwe, obwohl sie es noch nicht wusste. Witwe eines Rettungsmanns, der seine letzte Fahrt machen wollte. Seine letzte Fahrt, dachte Tiarks grimmig, wie passend. Die Kerze, die Greta vor dieser Fahrt angezündete hatte, war jetzt Heinrichs Totenkerze.

      Danach ging er die Reihe der anderen Toten durch. Wie viel Hoffnung war noch heute Mittag im Boot gewesen, doch wie schnell war sie in Verzweiflung und schließlich in ein lang anhaltendes Grauen umgeschlagen. Und dann diese Abstufung des Schreckens. Dass man im Boot sterben konnte, war jedem klar, der sich für den Rettungsdienst meldete. Denn sie machten sich immer dorthin auf den Weg, wo die Not am größten war, und auf jeder Fahrt saß ein ungebetener Gast mit im Boot: der schwarze Geselle, der nur auf einen Fehler wartete.

      Dass nicht nur Rettungsmänner, sondern auch Seeleute auf dem Meere zu Tode kamen, war nicht ungewöhnlich, das brachte der Beruf mit sich. Ärgerlich war nur, dass der Tod heute zugegriffen hatte, als sie die Leute bereits im Boot hatten. Dass allerdings auch die Frau und das Kind gestorben waren, bedrückte Tiarks schwer. »Frauen und Kinder zuerst« war das höchste Gebot in einem Seenotfall. Ja, doch, sie hatten die beiden zuerst ins Boot genommen, doch dann waren sie ihm unter den Händen weggestorben. Das Kind zuerst, weil die Mutter es nicht mehr wärmen konnte, und dann die Frau. Was nützen Hoffmannstropfen und Kognac gegen ein verzweifeltes Mutterherz?

      Als der Tag graute, schreckten die Männer aus dem Schlaf hoch. Sie blickten über die Sandbank. Unten an der Leiter hing die Rettungsweste des toten Bootsmanns, doch er selbst war verschwunden, offensichtlich hatte ihn die Flut aus seiner Weste geschwemmt. Auch das Boot mit den Leichen lag nicht mehr am Strand.

      Tiarks Blick wanderte über die Oldeoog-Platte. Kein Boot weit und breit. Doch da, ungefähr 400 Meter entfernt, auf der zweiten Bake, auf der es keinen Schutzraum gab, sah er vier zusammengesunkene Gestalten auf dem Holzgerüst kauern.

      »Die können wir vergessen«, sagte Tiarks dumpf, »die sind erstarrt und erfroren. Aber wir müssen sie herunterholen. Sie sollen ein ordentliches Begräbnis bekommen.«

      »Wie soll das gehen?«, fragte einer der Rettungsmänner. »Wir haben nicht einmal ein Boot, um uns selbst zu retten.«

      »Der Herr ist auf unserer Seite, weil wir Retter sind«, sagte Tiarks mit fester Stimme.

      Die Männer zogen ihre kalte, nasse Kleidung an und marschierten mit schweren Schritten über die Sandbank. Tiarks hangelte an dem Holzgerüst hoch, kletterte auf die Streben hinaus, in denen sich der erste Mann verkeilt hatte, und schaute in die starren Augen des Toten.

      »Was willst du hier?«, flüsterte der Mann kaum hörbar.

      »Ich dachte, du bist tot«, sagte Tiarks erschrocken.

      »Bin ich auch. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Ich fühle nichts mehr. Ich bin tot. Und du bist ein Geist.«

      Auch die anderen drei Männer waren zwar erstarrt, aber noch am Leben. Sie wurden mittels eines Flaschenzugs abgeseilt und zur Rettungsbake getragen.

      Inzwischen hatte die Dampfbarkasse des Kriegsschiffs Kurfürst Friedrich Wilhelm die Oldeoog-Platte erreicht. Das Sanitätspersonal hastete mit Decken und der Medizinkiste über den Sand. Die unterkühlten Männer bekamen trockene Kleidung aus Marinebeständen, dann hauchte man ihnen mit heißen Getränken wieder Leben ein.

      Schließlich wurde die geschundene Rettungsbootsbesatzung und der gerettete Matrose der holländischen Tjalk mit dem Boot des Kriegsschiffs nach Wilhelmshaven gebracht und von dort mit zwei Pferdewagen nach Horumersiel gefahren, wo sie endlich, zweieinhalb Tage nach ihrer Ausfahrt, eintrafen.

      Seinen Bericht über diese Schreckensfahrt beendete Vormann Tiarks mit den Worten:

       »Keiner von uns will hoffen, je eine solche Fahrt wieder mitmachen zu müssen, denn Wetter und See waren unbeschreiblich. Der verstorbene Mann unserer Bootsbesatzung ist der 55-jährige Schumachermeister Heinrich Behrens von hier.«2

       DER TOD DER ALTEN LADY

      Am 5. Oktober 1881 machten sich Schiffer Schütz mit der Brigg Luna von der englischen Südküste aus auf den Weg in die Nordsee. Ziel der Reise war der Hafen Burntisland in Schottland, wo eine volle Ladung Kohlen eingenommen werden sollte.

      Die Reise verlief zunächst erfreulich schnell, denn das Schiff segelte im Ballast, also ohne Ladung. Im englischen Kanal blies der Wind von achtern und als Kapitän Schütz den Kurs an der englischen Ostküste entlang nach Norden änderte, drehte der Wind auf Südwest, so dass die Luna auch dort recht schnell vorwärts kam. Am 10. Oktober war die Brigg nur noch 120 Seemeilen vom Zielhafen entfernt.

      Doch mit einem Mal änderte sich der Wind. Er drehte erst auf West, dann auf Nordnordwest und kam damit genau aus der Richtung, in die das Schiff segeln musste. Das war ungünstig, denn nun blieb der Besatzung nichts anderes übrig, als mühsam aufzukreuzen. Aber das war nun mal so auf einem Segelschiff, das bereitete niemand Sorgen. Viel unangenehmer war, dass der Wind ständig zunahm. Er brauste durch die Takelage, die aufgewühlte See rannte gegen das Schiff an, Gischt spritzte über das Deck. Die Mannschaft enterte in die Masten, um einen Teil der Segel zu bergen.

      In der Kajüte beobachtete der Schiffer mit zunehmender Unruhe, wie das Barometer immer weiter in den Keller sackte. Das sah nach einem kräftigen Sturm, wenn nicht sogar nach einem Orkan aus. Er überlegte einen Augenblick, schaute zur Sicherheit noch einmal in die Karte, dann stieg er die Stufen zum Achterdeck hinauf. »Gehen Sie höher an den Wind, Steuermann«, sagte er, »wir müssen möglichst rasch unter Land kommen, bevor der Wind Orkanstärke erreicht.«

      Wilhelm Kolmorgen, der Steuermann, wiegte bedenklich den Kopf. »Gehen Sie vorsichtig mit der Luna um, Schiffer. Die Brigg ist 40 Jahre alt. Die erträgt nicht mehr so viel wie ein neues Schiff.«

      Schiffer Schütz wischte den Einwand mit einer Handbewegung weg. »Die Luna wurde im letzten Jahr in der Werft überholt. Es sind viele Planken ersetzt worden. Das Schiff ist fast neu.«

      »Wenn Sie meinen«, sagte der Steuermann.

      Es wurden zusätzliche Segel gesetzt und die Luna durch den Sturm geknüppelt, das Schiff schwankte und rollte beängstigend in den hohen Wellen. Im Logis hatten