Jürgen Rath

Konstantinopel von unten und andere Schrecklichkeiten


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der Matrosen lauschte auf das Knarren und Ächzen der Schiffsverbände. »Dass wir die little old Lady so quälen müssen«, sagte er und schüttelte verwundert den Kopf, »so einen Höllenritt hält sie sicherlich nicht lange durch.«

      Einen Tag später, am Nachmittag des 11. Oktober, gingen die Leute bei Wachwechsel an die Pumpen, wie immer zu dieser Zeit. War das Schiff für gewöhnlich recht schnell lenz, so wollte jetzt das Wasser, das die Pumpen aus dem Laderaum holten, überhaupt nicht weniger werden. Die Seeleute schauten sich erschrocken an.

      »Wir haben Wasser im Schiff«, meldete der Zimmermann.

      Der Schiffer gab sich gelassen. »Das ist normal. Jedes Holzschiff macht im Sturm etwas mehr Wasser.«

      Am Abend waren sie noch 90 Seemeilen von Burntisland entfernt, das mühsame Aufkreuzen hatte nur wenig Fortschritt gebracht. Wieder drehten die Matrosen an den Pumprädern, wieder wollte das Wasser kein Ende nehmen. Mit einem Mal verfärbte es sich schwarz, die Pumpen förderte kleine Kohlenstücke an Deck, dann versiegte der Wasserstrahl.

      »Wir haben das Schiff lenz bekommen«, triumphierte der Schiffer.

      »Nein«, widersprach der Steuermann, »die Pumpen sind verstopft.«

      Schiffer Schütz stieg mit dem Steuermann in den Laderaum hinunter. Er hatte zusätzlich den Zimmermann mitgenommen, der die unumschränkte Autorität an Bord in Sachen Holzschiffbau war. Bereits auf der Leiter hörten sie das Wasser von einer Seite des Raums zur anderen rauschen. Unten im Laderaum stand es zwar nur eine Handbreit hoch, doch schon alleine das Geräusch des schwappenden Wassers ließ den Steuermann erschaudern. Mit der Petroleumlampe leuchteten sie die Bordwand ab. Durch unzählige Ritzen sickerte Wasser herein, Schiffer Schütz und der Zimmermann blickten sich betroffen an.

      »Können wir die Leckage abdichten?«, fragte der Schiffsführer.

      Der Zimmermann prüfte die Plankengänge und tastete im Wasser auf dem Schiffboden herum. Schließlich erstattete er Bericht. »Überall auf dem Schiff gibt es kleinere Leckagen. Auf dem Schiffsboden, an den Seitenwänden und sogar im Deck. Wir müssten das gesamte Unterwasserschiff andichten, Schiffer. Das ist mit Bordmitteln nicht zu schaffen. Und an die undichten Stellen hinter den Spanten kommen wir ohnehin nicht heran.«

      Während sich der Schiffer und der Steuermann berieten, machte sich der Zimmermann zu einem weiteren Kontrollgang auf. »Hier!«, rief er plötzlich. »Der Kohlenvorrat für die Kombüse ist in die Bilge gerutscht und hat die Pumpe verstopft.«

      Abwechselnd legten sich nun die Matrosen in die schwarze Brühe und versuchten, die Saugkörbe der Pumpe freizuräumen. Doch all die Mühe brachte nichts, denn es hatten sich Kohlenstücke weit oben in den Rohren festgesetzt, an die nicht heranzukommen war. So musste die Besatzung tatenlos zusehen, wie an den undichten Stellen das Wasser ins Schiff plätscherte und der Pegelstand im Raum zunahm.

      »Vielleicht können wir das Wasser mit Eimern aus dem Raum holen«, schlug der Steuermann vor.

      Schiffer Schütz blickte über die See. Gerade wieder hatte eine Welle das Schiff getroffen. Die Luna neigte sich zur Seite, eine See kam über die Reling und setzte das Deck unter Wasser. »Das bringt überhaupt nichts«, sagte er. »Dazu müssten wir die Luke öffnen, doch dann schlägt mehr Wasser in den Raum, als wir herausschöpfen können.«

      Im Stillen musste Steuermann Kolmorgen seinem Vorgesetzten Recht geben.

      Am 12. Oktober stand das Wasser bereits kniehoch. Der Schiffer und der Steuermann zogen sich zur Beratung in die Kajüte zurück, während der Zimmermann und die Matrosen wieder einmal erfolglos versuchten, die Pumpe in Betrieb zu nehmen.

      »Das viele Wasser im Laderaum macht der Luna schwer zu schaffen«, sagte der Steuermann, »sie lässt sich kaum noch steuern.«

      Der Schiffer nickte.

      »Und der Wind hat noch einmal zugelegt. Wir haben jetzt 11 Beaufort, in Böen 12. Wir treiben zurück, weg von der Küste.«

      Wieder nickte der Schiffer.

      Die beiden Männer horchten auf das Brausen des Orkans, das Dröhnen der Brecher an der Bordwand, das Rauschen des Wassers im Laderaum, das Ächzen und Stöhnen der Schiffsverbände. Schiffer Schütz trat an den Kajüttisch und blickte lange in die Seekarte. »Wir ändern den Kurs«, sagte er schließlich. »Wir segeln über die Nordsee mit Wind von achtern. Wir werden einen norwegischen Hafen ansteuern und das Schiff dort reparieren lassen.«

      Steuermann Kolmorgen schreckte vor dieser ungeheuren Ankündigung zurück. Es grenzte an Wahnsinn, mit diesem leckenden Kahn quer über die Nordsee zu fahren. Da brauchte nur der Wind zu wechseln – und schon trieben sie hilflos mitten im Meer, bis ihnen das Wasser bis zum Hals stand. Andererseits gab es wohl keine Alternative, sosehr der Steuermann auch danach suchte.

      Die Fahrt vor Wind und Wellen entlastete das Schiff zwar etwas, doch ungeachtet dessen stieg das Wasser im Laderaum weiter an.

      »Ob wir es noch schaffen?«, fragte einer der Matrosen im Logis.

      Die anderen zuckten hilflos mit den Schultern.

      Steuermann Kolmorgen ging auf dem Achterdeck auf und ab, wie immer auf Wache. Ein paar Schritte nach vorne, Segelstellung prüfen, dann nach achtern mit einem Blick auf das Kielwasser. Doch bei diesem Sturm war kein Kielwasser zu sehen. Hohe Brecher rauschten heran, der Wind zerrte an den Wellenköpfen und zerfaserte sie im Wind. Die Wellen waren schneller als das mit Wasser vollgelaufene Schiff, sie rauschten rechts und links vorbei, der Rudergänger musste höllisch aufpassen, dass die Brigg nicht querschlug. Wie es wohl ist, zu ertrinken, dachte Wilhelm Kolmorgen. Er konnte es sich nicht richtig vorstellen, wollte es auch nicht. Er hatte so viel Geld und Zeit in seine Ausbildung gesteckt, und jetzt, wo er endlich Steuermann geworden war, sollte er ertrinken? Er blickte auf die kleine Nussschale am Heck des Schiffes, das einzige Rettungsboot. Sicherlich, es war groß genug für die kleine Besatzung, doch konnte es auch diesen hohen Wellen trotzen? Nein, sagte sich Wilhelm Kolmorgen, ich ertrinke nicht. Ich bin noch zu jung, es ist zu früh zum Sterben. Ich kenne die See seit meiner Kindheit, ich werde sie genau beobachten. Und dann werde ich für mich entscheiden, wann es Zeit ist, ins Boot zu steigen. Ich ganz alleine!

      Am Abend des 14. Oktober sichtete die Besatzung der Luna das starke Feuer von Lindesnes an der norwegischen Küste, Hoffnung zeichnete sich in den Gesichtern der Seeleute ab.

      »Wird auch Zeit«, brummte der Schiffer, »das Wasser im Raum steht schon zwei Meter hoch.«

      »Ich wundere mich schon lange, warum die Luna noch schwimmt«, sagte der Steuermann.

      Sie waren nur noch drei Seemeilen vom Hafen entfernt, da sprang der Wind plötzlich auf Nordost um. Er kam damit von vorne und trieb die Brigg von der Küste weg. Mit einem Schlag waren alle Hoffnungen zunichte gemacht. Die Männer standen schweigend an der Reling, sie waren unfähig, ihre Verzweiflung in Worte zu fassen.

      Schiffer Schütz versammelte die Besatzung um sich.

      »Männer!«, rief er, »wir können Lindesnes nicht mehr erreichen. Der Wind lässt es nicht zu und die Luna gehorcht kaum noch dem Ruder. Deshalb werden wir unseren Plan ändern. Wir segeln nach Süden durch das Skagerrak. Morgen früh setzen wir die Brigg an der dänischen Küste auf den Strand.«

      Am Vormittag des 15. Oktober kam die dänische Küste in Sicht, doch angesichts der hohen Wellen entschloss sich der Schiffer, erst einmal in sicherer Entfernung zum Land weiter nach Süden zu segeln. Allerdings erfüllte sich seine Hoffnung auf eine ruhigere See nicht. Der Sturm heulte unentwegt in gleicher Stärke, die Wellen gingen hoch, und überall an der Küste stand die gleiche tödliche Brandung. Um 2.00 Uhr nachmittags lag die Luna so tief, dass jeden Augenblick mit dem Sinken des Schiffes gerechnet werden musste.

      »Es bringt nichts, weiter zu segeln«, sagte der Steuermann.

      Schiffer Schütz nickte. »Wir werden jetzt auf Land zusteuern. Wenn wir viel Glück haben, hebt uns eine See über die Brandung hinweg an den Strand. Dann ist das Schiff zwar verloren, aber die