kein Wind – nichts – Totenstille. Dann erschienen diese drei Frauen vor der Hütte. Wie aus dem Boden gewachsen standen sie plötzlich dort, drei Frauen ohne Alter, ohne ein wirkliches Gesicht, dunkle Tücher über den Köpfen. Mir wurde es unheimlich, wie noch nie in meinem Leben und ich war doch nie ein Angsthase gewesen.“
Bei Alvitur letzten Worten wurde es so leise in der Hütte, dass Hilda das Holz der Wände knacken hörte. Wie gebannt hing sie an Alviturs Mund. Es ging ja auch um ihr Schicksal.
Alvitur fuhr fort: „Plötzlich begannen die Drei Weiber zu wispern. Sie sprachen, ohne den Mund aufzumachen und da wusste ich, wer sie waren.“
Hilda und Sölvi vergaßen fast das Atmen und warteten mit, vor Neugier geweiteten Augen, auf Alviturs nächste Worte.
Jedes seiner Worte klang wie ein dumpfer Hammerschlag in Hildas Seele. Jetzt war es ihr auch klar, dass das alles für sie wichtig war. Sölvi schaute drein, als ob er eine anstrengende Arbeit verrichtete und Fifilla nickte wissend.
Alvitur fuhr fort: „Da wusste ich wer diese Frauen waren, die mich, unter ihren schwarzen Tüchern hervor, mit Fischglotzaugen ansahen und zu mir sprachen, ohne den Mund zu bewegen. Alle drei sangen sie einen monotonen Singsang. Es waren die drei Nornen, die Schicksalsfrauen. Ihre Namen sind Urd, Verdandi und Skuld22. Ihr kennt sie aus unseren alten Geschichten, aber ich weiß jetzt, dass es sie wirklich gibt. Ihr Singsang ging mir direkt in den Kopf und irgendwann verstand ich ihre Worte, aber sie waren in so merkwürdiger Aussprache, dass ich Mühe hatte, ihren Sinn zu begreifen. Sie malten mit ihren Händen Figuren in die Luft und dann hatten sie plötzlich wieder dicke Stricke in den Händen, die sie gemeinsam verflochten. Es war einfach so absonderlich, dass mir ein Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte. Aus all ihrem Singsang verstand ich folgendes“ – und Alvitur nahm eine, in Runenschrift geschriebene, Schriftrolle zur Hand:
„Djarfur, Djarfur,
sei Alvitur,
zeige Zweien einen Weg,
unendlich Zeit, ihr Privileg.
Für die Götter 1000 Jahre
begleiten sie drei Augenpaare.
Der Erste ihnen Zeit bemisst,
damit ihn Fenriswolf nicht frisst.
Kraft schöpfen aus dem eignen Blut.
Es stirbt zu viel ohn’ der zwei Mut.
Mit gleichem Namen sei ein Kind,
das sie zu ihrem Ende find’.“
Im Halbschlaf gingen mir immer wider die Worte dieses Singsangs durch den Kopf, doch dann wurde alles verdrängt von einem Wort: Ragnarök!
Als ich erwachte, wusste nicht mehr wo ich war, bis Leif mich rüttelte und mir Einurd in die Arme schob.“ ‚Mach ihr etwas zum Essen‚
sagte er und schaute mich dabei sehr merkwürdig an. Ich nahm Einurd in die Arme und wusste plötzlich wieder, dass ich lebte, leben wollte und dass sie mich brauchte. Es war schon merkwürdig, aber als ihre Hände mein Gesicht streichelten und sie mich mit dem Worten, Papa, ich habe Hunger, ansprach, da durchfuhr mich wieder Liebe und Lebenskraft mit so ungeheurer Wucht, dass ich erschauerte. Ja, für sie lohnte es sich zu leben; leben wir doch in unseren Kindern fort. Aber Leifs Gesicht war mir ein Rätsel. Er stand vor mir, schaute mich an, als ob ich zwei Köpfe hätte, und ich fragte, warum er mich so entgeistert ansieht. Er antwortete zögernd, dass er einen seltsamen Traum hatte und schilderte mir fast das Gleiche, das ich geträumt hatte. Als ich Leif sagte, dass sein Traum dem meinen aufs Haar gleichen würde, schaute er noch entsetzter drein und flüsterte: ‚Wo sind wir denn hier gelandet? Ist das Hel? Ich wollte von Leif wissen, was die Frauen zu ihm gesagt hätten. Er meinte, dass er sie schlecht verstehen konnte, aber glaubte, dann doch etwas vom Sinn ihrer Worte verstanden zu haben; wir sollen wieder wegfahren, nach Hause und er hätte die Pflicht jemanden zu bringen, oder so ähnlich. Wir saßen beide noch eine Weile herum und hingen unseren Gedanken nach, bis Leif sagte, dass er einen Raben krächzen gehört hatte. Was denn, ein Rabe so weit vom Land entfernt, das konnte ja nicht sein. Leif dreht nach dem Traum noch durch, dachte ich bei mir. Doch dann hörte ich auch einen Vogelschrei, aber es war diesmal eine Möwe und ich sprang auf, ließ Einurd stehen und rannte hinaus. Keine gewöhnliche Möwe, ein großer Eissturmvogel kreiste zwischen der Hütte und dem Ufer. Ich rief Leif, der schon wieder ein Gesicht machte, als ob die Welt ins Meer stürzen würde: „Kommt, packt alles zusammen! Der Eissturmvogel, das ist ein Zeichen zum Aufbruch, schnell, lass uns fahren!“ Wir stiegen Hals über Kopf in unser Boot und das Segel fasste sogar gleich Wind, der plötzlich aus dem Nichts da war. Als wir eine kurze Strecke durch den Nebel zurückgelegt hatten, war er hinter uns einfach verschwunden und mit ihm auch die Insel. Ich dachte noch, ob mir das jemals jemand glauben würde? Dann hatten wir aber günstigen Wind und weil wir nur schnell weg wollten, ruderten wir noch zusätzlich, als wenn ein Feuer speiender Drache hinter uns her wäre. Das Schiff flog nur so über die Wellen und gegen Abend sahen wir unseren Fjord und das Ufer von Björkendal.“Alvitur schnaufte leise und schaute plötzlich traurig drein: „Wisst ihr, was das für ein Gefühl ist, nach so vielen Jahren die Heimat wieder zu sehen? Als ich die Füße auf den Strand setzte, bekam ich weiche Knie. Hätte ich nicht Einurd an der Hand gehabt, ich hätte mich der Länge nach auf den Strand geworfen, aber sie gab mir Kraft, aufrecht zu bleiben. Ich sog meine Lungen voll Luft und atmete unseren Fjord regelrecht ein. Ein paar Schritte weiter griff ich in den Boden, nahm eine Handvoll Erde, roch daran und ich spürte — Glück. Mein Herz pochte, wie im Pferdegalopp. Ich war wieder zu Hause, nach so langer Reise durch eine faszinierende Welt, die aber so ganz anders war, als unsere. Leute waren plötzlich um mich, alte Bekannte, die damals junge Fifilla, Sigudur und viele neue, junge Gesichter, wie deine Eltern, Hilda. Sie waren noch Kinder, als ich wegfuhr, nun waren sie ein Paar. So, nun wisst ihr alles, und ihr seid die Ersten, denen ich diese Geschichte vollständig erzählt habe. Ich erzählte sie euch, weil ich so viel von der Welt außerhalb unseres Lebens gesehen habe und weiß, dass diese andere Welt unerbittlich nach uns greift. Ihr neue Gott und ihre Könige greifen nach uns und durch diese Prophezeiung, die Worte der Nornen, glaube ich, dass wir Ragnarök aufhalten können, nämlich das Sterben unserer Götter und unserer Welt.“
Alvitur machte eine kleine Pause und lächelte Hilda an. „Hilda schau nicht so entgeistert drein. Niemand im Dorf wird dich jetzt anders ansehen. Alles wird so sein, wie es hier jeden Tag ist, nur du wirst in der nächsten Zeit öfter nachdenken müssen, aber das wird für dein späteres Leben nur nützlich sein. Irgendwann wird dir das Schicksal deutlich machen, welche Aufgabe es dir zugedacht hat, damit unsere Welt und unsere Art zu leben erhalten bleiben.“
Alvitur lehnte sich entspannt zurück, griff wieder nach seinem Trinkbecher und nahm genussvoll einen großen Schluck von seinem Lebenselixier.
Bei Hilda merkte man, das sie kurz vor dem Zerplatzen war. „Alvitur, ich verstehe im Moment nur wenig von dieser Prophezeiung der Nornen, aber ist das alles wirklich war und für mich wichtig? Was ist, wenn ich das nicht wissen will und einfach so tue, als ob ich es nicht wüsste? Dann ist da noch etwas Komisches. Wie soll man aus dem eigenen Blut Kraft schöpfen? Das Blut ist doch immer in mir, ob ich will oder nicht und was hat der Fenriswolf mit mir zu tun? Das ist doch eine alte Legende. Wieso schützen uns unsere Götter nicht vor dem anderen Gott und dieser anderen Welt?“
Sölvi drehte aufgeregt seinen Trinkbecher in den Händen hin und her, dann schaute er mit großen Augen auf Hilda und nickte mehrfach. Fifilla hielt ihren Kopf in beide Hände gestützt und grübelte.
Alvitur griff nach Hildas Hand: „Hilda, ich kann dir deine Fragen nicht so einfach beantworten, aber du kennst die Geschichten um Ragnarök, und ich möchte nicht mehr Alvitur heißen, wenn das hier nichts damit zu tun hat. Diese andere Welt, mit ihren Königen und ihrer bösartigen