Roman Sandgruber

Traumzeit für Millionäre


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des Ersten Weltkrieges wurde das Werk in Floridsdorf wesentlich erweitert. Im Jahr 1916 wurde das 500. Lohner-Flugzeug gefertigt. Bis zum Ende Krieges kamen noch 185 weitere dazu.178 Bis 1910 konnte Lohner den Umsatz von etwa 500.000 auf 800.000 Kronen heben, ein Niveau, das die Firma schon Mitte der 1890er Jahre am Höhepunkt des Kutschenbaus erzielt hatte. Mit Einsetzen des Flugzeugbaus verdoppelte sich Lohners Umsatz bis 1913 auf etwa 2 Mio. Kronen.

      Österreichs Texas oder Arabien lag im Osten. Die galizischen Erdölbarone waren vor dem Ersten Weltkrieg zu einem Begriff geworden. Die Habsburgermonarchie belegte Rang fünf in der weltweiten Erdölförderung. Allerdings darf das nicht überschätzt werden. Es waren höchstens fünf Prozent der damaligen Weltproduktion. Und diese war verglichen zu heute lächerlich niedrig. Die Hindernisse der Pionierzeit waren groß. Es war nicht nur schwierig, erfahrene Bohrtechniker zu rekrutieren und den Abtransport und die Verarbeitung des Öls zu organisieren, sondern auch die nötige Nachfrage für das Produkt zu haben. Denn vorerst waren die Petroleumlampen die größten Verbraucher. Und das Petroleumlicht erhielt immer mehr Konkurrenz durch Leuchtgas und Elektrizität. Und am Land brannten immer noch die Kerzen und Kienspäne. Doch im ausgehenden 19. Jahrhundert hatte sich für den Mineralöl- und Petroleumsektor eine ganz neue Perspektive eröffnet: Mit dem Automobil entstand ein neuer Energieverbraucher, der eine völlig neue Nachfrage schuf, aber auch eine ganz andere Vertriebsorganisation benötigte.

      Die galizische Mineralölindustrie hatte vor dem Ersten Weltkrieg bereits eine äußerst turbulente Entwicklung hinter sich. Der Ölboom, der im galizischen Borysław in den späten 1850er Jahren ausgebrochen war, brachte für die gesamte Region einen Industrialisierungsschub. Die Pioniere wurden reich, darunter die legendären Brüder Lazar und Moses Gartenberg und der Kanadier William Henry McGarvey. Dieser brachte 1883 das kanadische Bohrsystem nach Österreich. Er blieb im Land und gründete die Galizische Karpathen-Petroleum AG, vormals Bergheim & McGarvey. Durch seine Erfindung, den Exzentrik-Bohrmeißel, waren erstmals größere Bohrtiefen erreichbar.179 1911 gab es 329 Erdölbaue mit 7.000 Arbeitern und 82 Raffinerien mit 8.000 Beschäftigten. Die Rohölförderung war mit 1,4 Millionen t aus heutiger Sicht eine Quantité negligeable. Die Raffinerien produzierten 800.000 t, davon drei Viertel Petroleum, ein Viertel Schmieröl. 1907 zerbrach das Rohöl- und Raffineriekartell. 1911 gab es wieder ein Kartell. Inzwischen hatte sich die Situation grundlegend geändert.

      Im Erdölgeschäft brauchte es hemdsärmelige Typen. David Fanto hatte als Lehrling bei einem Wiener Petroleumhändler begonnen, begründete die erste Österreichische Raffinerie, brachte es zu Ölfeldern in Galizien, Rumänien und Polen und war an Bohrungen im Orient beteiligt. 1889/​90 errichtete er eine Raffinierie in Pardubitz. Das verarbeitete Öl stammte zuerst aus der Kaukasusregion, dann aus Galizien. Um 1900 beschäftigte Fanto etwa 500 Leute mit einem Vertriebsnetz über ganz Europa. 1907 wurde das Unternehmen in eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Wien umgewandelt. 1916 kaufte er das Schloss Pottenbrunn, 1917 ließ er sich von Ernst von Gotthilf-Miskolczy und Alexander Neumann ein imposantes Palais am Schwarzenbergplatz 6 errichten.180

       Erster Schallplattenstar: Selma Kurz-Halban. Foto: Nathaniel Rothschild

      Insgesamt war das Ölgeschäft noch eine sehr kleine Sparte. Erdöl war noch kein konstituierender Bestandteil der chemischen Industrie. Diese war in Österreich zwar nicht unbedeutend, aber sehr zersplittert, so dass kein dominierender Konzern mit wirklich innovativen Entwicklungen entstehen konnte, weder in der Schwerchemie oder im Düngemittelbereich noch in der Farbenchemie. Aber die Gewinne, die gemacht wurden, waren auch in Österreich sehr respektabel. Alfred Kraus machte sein Vermögen im Handel mit Ultrama- rin und leitete die Vereinigten Papier- und Ultramarin-Fabriken Jacob Kraus. Sein Bruder Karl Kraus kritisierte den Rückstand der Chemiewissenschaft an der Wiener Technischen Hochschule, deren Professoren die Farbchemie für einen „reichsdeutschen Schwindel“ halten würden.181 Johann Medinger sen. errichtete 1850 in Gumpoldskirchen eine Mühle zum Zermahlen von Farbholzgattungen, aus der eine wichtige Farbenfabrik entstand. Wilhelm Neuber wandelte eine Farbwarenhandlung in einen Handels- und Produktionsbetrieb um und begann mit der Extraktion des gerbstoffreichen und färbenden Kernholzes der Catechu-Akazie. Die Mainzer Lackfabrik von Carl Ludwig Marx war vor dem Ersten Weltkrieg unter dem Enkel des Firmengründers zur bedeutendsten Lackfabrik in Europa herangewachsen. Das Zweigwerk in Gaaden bei Wien war 1873 begründet worden. Den Anstoß gaben die Harz liefernden Föhrenwälder im südlichen Wienerwald. Daraus entstand ein rechtlich selbständiges Unternehmen, das seinerseits Zweigwerke in Milkendorf (Moravskoslezsky Kraj), Domzale (Slowenien) und Budapest eröffnete. Mit dem Bedarf für den neuen Sektor Schallplatte entstand für die Lackindustrie ein völlig neues Produktsegment, das sich schon deutlich in den Einkommen nicht nur der Materialerzeuger, sondern auch der Sänger, etwa von Selma Kurz-Halban oder Leo Slezak, niederschlug.182

       Mit Reifen zu Reichtum: 1910 stellen die zwei Linien der Firma Reithoffer bereits eine Reihe von Millionären.

      Egal, ob man die Zündholzbranche nun der Holzindustrie oder der chemischen Industrie zuordnet, für Österreich im 19. Jahrhundert war sie eine wichtige Branche. Eine chemieindustrielle Wachstumsbranche, die gar nicht so neu war, war die Kautschukverarbeitung. Der Aufstieg der Familie Reithoffer war dem aus Feldsberg gebürtigen Schneider Johann Nepomuk Reithoffer zu verdanken, der 1824 ein Privileg auf wasserdichte Stoffe und später auch für elastische Bänder erhalten hatte und die Kautschukfabrik in Wimpassing begründete. 1832 begann auch sein Cousin Josef Reithoffer mit einem Unternehmen zur Herstellung von Gummiwaren, dessen Hauptsitz sich im späten 19. Jahrhundert nach Steyr verlagerte. Die zwei Linien der Familie Reithoffer sind 1910 mit einer Reihe von Millionären vertreten. Mit der Reifenerzeugung eröffnete sich für sie ein ganz neues Feld. Der Konzentrationsprozess führte dazu, dass in der Zwischenkriegszeit alle Reithoffer-Betriebe im Semperit-Konzern vereint wurden. Neue Produkte entwickelte auch Emanuel Grab v. Hermannswörth mit seiner Ledertuch-, Wachstuch-, Fußtapeten und Gummistoff-Fabrik in Prag-Lieben und Györ. Auch Heilpern & Haas war von Beginn an ein sehr innovatives Unternehmen und wusste den Aufschwung des beginnenden 20. Jahrhunderts mit Gummi- und Asbestwaren, Linoleum, Kautschuk, Zelluloid, Kunstharz und Kunstharzwaren mit etwa 50 Zweigstellen im In- und Ausland zu nutzen. Auf den hinteren Millionärsrängen findet man auch Johann Zacherl, der ein Naturprodukt, die Chrysantheme, zu seinem Insektenpulver verarbeitete, aber in den 1920er Jahren den Anschluss an die neue Pestizidchemie verpasste und ebenfalls der Wirtschaftskrise zum Opfer fiel.

      Die Industriellen stellten etwa ein Drittel der Millionäre Wiens. Das war viel und wenig zugleich. Über Beteiligungen und persönlichen Netzwerke kontrollierten die österreichischen Banken große Teile der Industrie. Bankiers sind mehr an Zinsen als an Dividenden und mehr an Krediten als Innovationen interessiert. Es wurden hohe Ausschüttungen verlangt, aber wenig Investitionen getätigt. Auch fehlte es Österreichs Industrie bei allem Bemühen immer noch am Zugang zum Weltmarkt. Konzerne mit weltweiten Netzwerken waren nur spärlich vertreten, was sich auf die Erträge auswirkte. Der jüdische Anteil war unter den Industriellen zwar deutlich geringer als unter den Bankiers. Dennoch wirkte sich der Antisemitismus im Industriebereich stärker aus als im Bankbereich. Ein Beispiel ist etwa die Elektroindustrie, die naturgemäß von öffentlichen Aufträgen in hohem Maße abhängig war. Der deutsche Siemens-Konzern konnte gegenüber den Firmen Johann Kremenezkys oder Bela Eggers gerade deswegen Aufträge an sich ziehen und seine bis heute dominierende Stellung in Österreich festigen.

      Unter den Industriemillionären dominierten im Unterschied zu den Bankiers immer noch ganz eindeutig die Eigentümer-Unternehmer. Nur ausnahmsweise konnten Manager und Direktoren in derartige Einkommenshöhen aufschließen. Als man Isidor Mautner einmal als Herrn Generaldirektor ansprach, soll er lachend erwidert haben: Ich bin kein Generaldirektor – ich halte mir welche.183

      Die Interessen der Industrie waren sehr unterschiedlich, ob Konsumgüter oder Investitionsgüter, ob am Binnen- oder Weltmarkt orientiert, ob Rohstoffe oder Finalprodukte. Eine gemeinsame