nach vorn, die Magier heilen oder verteilen Feuerschaden aus der Deckung, und die Bogenschützen bleiben auf den Türmen, um die Untoten in Schach zu halten. Das war der einzig sinnvolle Weg, um den Drachenkaiser in die Knie zu zwingen. Dafür musste Tom noch nicht mal nachdenken, so offensichtlich war diese Strategie.
Doch leider entschied sich ihr Teamleader Finn gerade für etwas anderes: »Okay, wir ziehen das durch! Magier nach vorne und mit Feuerschaden draufballern!«, tönte Finns Stimme blechern aus Toms Headset. »Die Panzerkrieger kümmern sich um die Zombies und die Bogensch…« Weiter kam er nicht, denn der Levelboss hatte die schutzlosen Magier innerhalb weniger Sekunden in den Staub gehustet, während die schwerfälligen Krieger unter den Zombies förmlich begraben wurden. Die drei Bogenschützen, von denen Tom einer war, versuchten, sich aus der Gefahrenzone zurückzuziehen, wurden aber von einem Erdbebenzauber des Drachenkaisers niedergeworfen, und kurz darauf sahen alle aus der Gilde »Rübenbrei« das Gleiche: Eine Schriftrolle, auf der mit blutroter Tinte Mission failed geschrieben stand. Sie hatten versagt. Schon wieder. In der letzten Quest, die sie alle aufsteigen lassen würde zu Level 90 in World of WerWizards.
Enttäuscht schubste Tom die Computermaus quer über den Schreibtisch. Wieder einmal hatte Finn mit traumwandlerischer Sicherheit die falscheste Strategie ever rausgesucht, und sie alle waren dabei draufgegangen.
Die Enttäuschung war auch den anderen Gildenteilnehmern deutlich anzumerken. Entnervtes Stöhnen sowie diverse »Oh Manns« und »Och nees« tönten aus dem Headset, begleitet von dem ein oder anderen Gepolter. Anscheinend wurden da ganz andere Dinge durch die Gegend geschubst als nur die Computermaus.
»Jetzt müssen wir echt noch mal durch den blöden Abwasserkanal?! Ich pack’s nicht!«, ließ sich Valerie vernehmen. Ihre Figur war eine auf Erdzauber spezialisierte Elbenmagierin, die bei Missionen im Dunkeln immer vorauszulaufen hatte, um mit ihrem Stab den Weg zu erhellen. Das war für die anderen gleichzeitig hilfreich wie nervtötend. Hilfreich, weil man sah, wo es langging, nervtötend, weil Valerie alle halbe Minute ein stöhnendes »Laaaaaangweilig« ins Mikro nölte.
Auch Tom hatte keine große Lust, den einfallslosen Schlauchlevel jetzt ein elftes Mal entlangzustiefeln, nur um dann noch mal vom Drachenkaiser pulverisiert zu werden. Wieder einmal kämpfte er mit sich. Sollte er Finn vielleicht doch einfach mal fragen, ob er selbst … Nur für diesen einen Gegner …
Tom seufzte. So sicher er sich auch war, dass seine Strategie funktionieren würde, so wenig Lust hatte er darauf, derjenige zu sein, auf den danach alle sauer waren. Vor allem jetzt, wo sie es doch schon zehnmal probiert hatten. Wenn Tom nun den elften Versuch in den Sand setzte, war er nicht nur der Depp, sondern dem Depp sein Wurstbrot.
In der Gilde hatten sie nämlich irgendwann mal damit begonnen, Abstufungen für Deppen einzuführen. Das mildeste war der Depp selbst, danach kam dem Depp sein bester Freund, dann sein Berater, sein Chef, sein Spion und ganz am Ende eben stand dem Depp sein Wurstbrot. Weiter runter ging es nicht.
Außer Tom würde alle ein elftes Mal ins Verderben führen. Dann würde die Gilde extra für ihn eine noch beschämendere Stufe einführen. Vielleicht dem Depp sein Depp …
Nein, da hatte Tom wirklich null Komma null Böcke drauf. Lieber rannte er noch mal den ganzen Weg hinterher, um sich im Thronsaal abermals die Rübe rasieren zu lassen.
Ein Seufzer riss ihn aus seinen Überlegungen. »Also, mir reicht’s für heute.« Man konnte förmlich hören, wie Moro beim Sprechen die Augen verdrehte. Ein paar einsilbige »Mir auch, tschau« später waren bis auf Valerie und Tom alle aus dem Gildenchat offline. Finn selbst hatte sich nicht einmal verabschiedet, so peinlich war ihm die Aktion.
Einen kurzen Moment lang war es totenstill im Chat, so als würden sowohl Tom als auch Valerie darauf warten, dass der jeweils andere etwas sagte. Tom war das Schweigen aber schnell unangenehm, also probierte er es mit einem weitestgehend inhaltslosen: »So … tja. Also … hm«.
»Da sagst du was«, hörte er Valerie kichern. »Bis bald, Tom. Aber wirst sehen, beim nächsten Mal schaffen wir es. Nicht. Hihi, tschaui!«
Tom kam nur bis »Tsch…«, da war Valeries Profilbild auch schon grau, und daneben stand »Offline«.
Erst jetzt bemerkte Tom, dass er ziemlich Hunger hatte. Und das wahrscheinlich schon seit geraumer Zeit. Im Eifer des Gefechts hatte er mal wieder gar nicht auf seinen Körper gehört. Entsprechend nachdrücklich machte sich dieser nun bemerkbar. Sein Bauch gluckerte und brummte so laut, dass Tom fast Sorge hatte, die Nachbarn würden sich bald beschweren über diese Ruhestörung. Mit einem etwas zu lauten Stöhnen schälte er sich aus dem bequemen Schreibtischstuhl und schleppte sich hinunter in die Küche.
Tom war verwundert, seine Oma am Küchentisch sitzend anzutreffen. Also, nicht weil Oma generell anwesend war – das war schließlich ihr Haus, und Tom wohnte bei ihr, seit er denken konnte. Seine Eltern hatte er nie kennengelernt. Er war im Alter von zwei Jahren als Waisenkind von Frau Käthe Röschenberg aufgenommen worden, die aufgrund ihres Alters beschlossen hatte, dass »Oma« besser zu ihr passte.
Nein, ungewöhnlich war nur, dass Oma um diese Uhrzeit am Küchentisch saß. Normalerweise verbrachte sie den Nachmittag nämlich im Garten und grub irgendwas ein, aus oder um.
Tom bemerkte sofort, dass irgendwas anders war als sonst, denn Oma sah ihn sehr seltsam an. Vor ihr lag ein Brief, und auf dem Umschlag erkannte Tom einen Aufdruck, der ziemlich offiziell aussah. Als er näher kam, konnte er neben einem imposanten Wappen Rechtsanwälte Feuerflieg & Flugrad als Absender erkennen.
Bevor er sich über die seltsamen Namen wundern konnte, fiel Toms Blick auf das eigentliche Schreiben. Er überflog den Text und runzelte erstaunt die Stirn. »Ich bin eingeladen zu einer … Testamentseröffnung?«, flüsterte Tom, und Oma hob den Blick.
Sie lächelte, aber Tom sah, dass sie feuchte Augen hatte. »Heinrich ist tot. Mein Bruder und somit dein Großonkel. Er hat dir alles vermacht. Alles, was er besaß und … noch ein bisschen mehr.« Dann lachte sie leise in sich hinein und schüttelte den Kopf. »Mein lieber, verrückter, sturer Heinrich. Wem sonst, wem sonst.«
Tom war verwirrt, und das war er eigentlich selten. Meistens hatte er das Gefühl, ziemlich genau zu wissen, was gerade los war. Und er war auch nicht der Typ, der dann minutenlang rumstand, ohne zu wissen, was er jetzt am besten tun oder lassen sollte. Aber jetzt gerade war die Situation so überfordernd und seltsam, dass er eine ganze lange Minute damit verbrachte, zu überlegen, ob er jetzt was sagen, was fragen oder weiter hier in der Küche rumstehen sollte. Schließlich entschloss er sich, nichts davon zu tun, setzte sich stattdessen einfach neben Oma auf die Bank und nahm sie wortlos in die Arme.
Ein paar Minuten saßen die beiden so da, und man hörte nichts außer dem Zwitschern der Vögel im Garten. Schließlich meldete sich Oma unter Toms Pullover etwas unterdrückt: »Vielen Dank, aber ich müffte demnächfft mal wieder atmen.« Sofort öffnete Tom seine Umklammerung und musste dabei lachen. Oma lachte mit und sog die Luft betont genussvoll durch die Nase ein. Doch wenn Tom gedachte hatte, dass er nun mehr über Omas Bruder Heinrich und diese seltsame »Erbschaft« erfahren würde, lag er damit falsch.
Die Türklingel schrillte mit ihrem durchdringenden Fünfzigerjahre-Charme durch das kleine Haus, und Tom öffnete die Tür zum größten Abenteuer seines Lebens.
Kapitel 2: Ein eigentümlicher Fremder
Im Licht der tief stehenden Nachmittagssonne stand ein Mann am Gartentor, der wirkte, als würde er Tom jeden Moment anspringen. Nicht, weil er sich so freute, sondern weil er sich in einer seltsam geduckten Haltung befand, ganz so, als würde er gleich aus dem Stand in irgendeine Richtung hopsen. Und da es wenig Sinn machte, wenn der Mann nun nach rechts in Omas Kirschlorbeer oder nach links rüber zu den Nachbarn in den Sandkasten sprang, nahm Tom an, dass er wohl am ehesten einen Satz nach vorn machen würde. Aber der einzige Satz, den der Mann