Tommy Krappweis

Ghostsitter


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und darum konnte er nicht anders, als die Antwort zu geben, die sich nun aufdrängte: »Wer will das wissen.«

      Er fühlte sich auch ziemlich cool dabei und bereute es, keinen Zahnstocher aus der Küche mitgenommen zu haben. Damit hätte es bestimmt noch ein bisschen cooler gewirkt und … AAAH!

      Tom war zusammengezuckt wie noch nie in seinem Leben, als der geheimnisvolle Mann urplötzlich vor ihm stand. So schnell hatten sich noch nicht einmal die Geisterninjas in World of WerWizards bewegt, verdammt.

      Nun konnte Tom auch das Gesicht des Mannes besser erkennen. Er hatte schwarze Haare mit ungewöhnlich regelmäßigen grauen Strähnen, so als hätte man ihm einen grau gefärbten Kamm von der Stirn bis in den Nacken durchgezogen. Außerdem trug er einen Dreitagebart bis knapp unter die scharf geschnittenen Wangenknochen, und die Augen blitzten unter dichten, schwarzen Augenbrauen hervor wie zwei winzige, stahlblaue Sonnen. Ein Holzfällerhemd, dessen Ärmel ziemlich ungleichmäßig aufgerollt waren, spannte sich über einen breiten Brustkorb. Dazu trug er fleckige Jeans, die unten mehrfach umgekrempelt waren und so den Blick auf abgewetzte Cowboystiefel mit Absätzen freigaben, die durch die O-Beine schon arg schief geschliffen waren. Tom konnte es nicht fassen! Vor ihm stand tatsächlich …

      »Hugh Jackman!? Wie krass ist das denn!«

      Für ein paar Sekunden war nur das Zwitschern der Vögel zu hören. Diesmal klangen sie aber nicht beruhigend wie eben noch in der Küche, sondern irgendwie lärmig. Als würden sie alle schreien: »Tom, du Depp! Hihi, Depp, du Depp, du Depp, du depperter Depp, du!«

      Der Mann, der ganz offensichtlich nicht der australische Schauspieler Hugh Jackman war und somit auch nicht Wolverine in den X-Men-Filmen verkörperte, wirkte nicht gerade so, als hielte er diese Verwechslung für ein Kompliment. Stattdessen musterte er Tom einen quälenden Moment lang, bevor er sich zu ihm hinunterbeugte.

      Dann erst sprach er sehr leise mit einer rauen Stimme, die klang, als würde man einen Felsbrocken über die Straße zerren: »Ich bin nicht Hugh Jackman, und ich bin auch nicht dieser Typ aus dem Comic mit dem Klappmesser in den Knöcheln, okay?«

      »Okay«, hörte sich Tom sagen. Und dann etwas leiser: »Schade, aber okay.«

      Der Mann funkelte ihn wütend an, und fast dachte Tom, dass er ihn nun packen und quer über die Straße schleudern würde. Doch dann verzog sich das Gesicht des Mannes zu einem breiten Grinsen. Tom starrte auf perlweiße Zähne, deren Eckzähne bei genauerer Betrachtung doch ziemlich ausgeprägt daherkamen. Und plötzlich erbebte der muskulöse Brustkorb des Mannes von einer heiseren Lachsalve, die Tom mindestens genauso überraschte wie vorhin die Geschwindigkeit des Fremden.

      »Haha, du hast Mumm in den Knochen, Junge. Das gefällt mir! Und das wirst du auch brauchen, haha!« Und damit klopfte er Tom zweimal so heftig auf die Schulter, dass der schon dachte, er würde an Ort und Stelle in den Boden gehämmert. Nichts dergleichen geschah, dafür blieb aber ein stechender Schmerz im Schulterblatt zurück, den Tom die nächsten Tage als Erinnerung an diesen Moment spüren würde.

      Als Tom bemerkte, dass Oma hinter ihm aus der Küche geschlurft kam, war sein erster Impuls, sie vor diesem unheimlichen Kerl zu beschützen. Doch bevor er sich umdrehen und Oma zurück in den Flur schieben konnte, rief sie schon freudig: »Welf! Da bist du ja! Tom, das ist dein Onkel Welf. Was steht ihr denn da draußen rum? Kommt doch rein!«

      Welf hatte die Einladung auf eine Tasse Tee abgeschlagen und stattdessen auf das Auto in der Einfahrt gedeutet. Das betagte Ford Mustang Coupé gehörte ganz offensichtlich ihm. Auf Omas fragenden Blick hin antwortete er nur: »Wir sind spät dran.« Tom runzelte ebenso wie Oma die Stirn. Allerdings ahnte er schon, dass es wohl etwas mit der Testamentseröffnung zu tun hatte. Warum sonst würde ihn ein unbekannter Onkel gerade jetzt aufsuchen und gemeinsam mit Oma in ein Auto packen?

      Toms Vermutung wurde von Welf mit einem einsilbigen Grunzen bestätigt, als sie kurze Zeit später über die Bundesstraße in Richtung Innenstadt rauschten. Wobei rauschen weniger zu dem Geräusch des Motors passte als röhren. Immer wenn Welf Gas gab, klang es, als würden zwanzig Hirsche gleichzeitig unter der Motorhaube losbrüllen und damit den alten Sportwagen antreiben. Und Welf gab nicht nur viel, sondern anscheinend auch gerne zu viel Gas. Auch auf Strecken, die man aufgrund ihrer Kürze gar nicht als solche bezeichnen konnte. Welf waren schon wenige Meter Grund genug, um die Hirsche losröhren zu lassen, nur um dann an der nächsten Ampel wieder quietschend zu bremsen. Dass der massige Wagen dabei jedes Mal vor und zurück schaukelte, schien er fast ebenso zu genießen.

      Und damit war er nicht alleine, denn auch Oma hatte sichtlich Spaß an der Sache. Sie quiekte bei jeder Beschleunigung und jauchzte bei jedem Bremsmanöver, als säße sie nicht auf dem Rücksitz eines Autos, sondern in einer Achterbahn.

      Tom hätte die Fahrt vielleicht auch etwas mehr genossen, wenn er nicht die ganze Zeit über versucht hätte, endlich den Brief von den Anwälten mit den albernen Namen zu lesen. Das wurde ihm allerdings durch Welfs Fahrstil nicht gerade leicht gemacht. Entweder wurde er in den gefederten Sitz gedrückt und patschte sich durch die Fliehkraft selbst den Brief mitsamt den Händen ins Gesicht. Oder der Wagen bremste, und Tom hatte das Gefühl, als würde sein Körper immer noch ein paar Zentimeter weiter fahren wollen, bevor ihn dann der Gurt gewaltsam daran hinderte.

      Tom las noch die letzten Sätze des etwas verschwurbelten Textes, als sie endlich in der Empfangshalle der Anwaltskanzlei standen. Im Endeffekt sagten die vier Seiten Blabla nichts anderes, als dass er, Tom, tatsächlich alles vermacht bekam, was Omas Bruder Heinrich besessen hatte, wenn er die Bedingungen im Testament annehmen würde. Welche Bedingungen das waren, würde er jetzt erfahren, und Tom war ganz schön aufgeregt.

      Eigentlich hätte er vorher gerne mit Oma über ihren Bruder gesprochen. Er wusste tatsächlich überhaupt nichts über den Mann, der ihm da jetzt sein gesamtes Hab und Gut vermacht hatte. Außer einer Handvoll vergilbter Kinderfotos von ihm und Oma hatte Tom bisher nichts von Heinrich mitbekommen. Und im Nachhinein kam es ihm auch irgendwie komisch vor, dass Oma nie von ihm erzählt hatte. Ihr Bruder war auch nicht ein einziges Mal zu Besuch gekommen oder hatte mal angerufen – zumindest nicht, dass Tom wüsste. Hm.

      Na ja, Tom war nicht der Typ für irgendwelche mysteriösen Theorien. Er war der Meinung, dass die wahrscheinlichste Ursache für etwas meistens auch die tatsächliche Ursache war. Andererseits fiel ihm fast gleichzeitig das Zitat von Sherlock Holmes ein: »Wenn du das Unmögliche ausgeschlossen hast, dann ist das, was übrig bleibt, die Wahrheit, wie unwahrscheinlich sie auch ist.«

       Kapitel 3: Das Testament

      Tom konnte gar nicht anders, als auch im Aufzug nach oben in die Anwaltskanzlei darüber nachzugrübeln, ob Oma vielleicht einen Grund gehabt hatte, ihren Bruder vor ihm geheim zu halten. Ebenso wie seinen »neuen« Onkel Welf.

      Als Tom mit Oma und Welf aus dem Aufzug trat, fühlte er sich fast wie in einer Fernsehserie. Denn viel klischeehafter konnte man eine Anwaltskanzlei wohl kaum gestalten. Irgendwer hatte einfach alles mit dunklem Holz vertäfelt, was auch nur ansatzweise vertäfelbar war: die Wände, die Decken, die schweren Doppeltüren, die Büromöbel – alles war mit dunklem Holz belegt und wirkte nun trotz des bestimmt sehr edlen und teuren Materials irgendwie … billig. So, als hätte man ein Computerspiel programmiert und dann am Ende nur eine einzige, sündhaft teure Textur gekauft, womit dann alles zugepflastert wurde, egal ob Glas, Stahl oder Raufasertapete.

      Ein Sekretär oder Gehilfe oder Assistent, oder wie auch immer man das bei Anwälten nennt, nickte ihnen eher höflich als freundlich zu und geleitete sie zu einer der Doppeltüren. Geübt drehte er gleichzeitig beide Knäufe herum und drückte die Türen schwungvoll auf.

      Der – natürlich ebenfalls dunkel vertäfelte – Raum war ziemlich groß für einen einzigen Mann, einen Schreibtisch und ein paar unbequem aussehende Stühle.

      »Herein,