Frigga Haug

Die Vier-in-einem-Perspektive


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      »Zusammenfassend lässt sich kalkulieren, dass ein durchschnittlicher Arbeitnehmer faktisch nicht mehr als 5 % seines Lebens für den eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familie arbeitet« (48).

      Der Boden ist bereitet, das ganz Andere zu wollen. Hartz arbeitet mit den Gefühlen derer, die Veränderung vorhatten. Er übernimmt die Hoffnungsworte der sozialen Bewegungen und fügt aus ihnen das neue Angebot des »Unternehmers« zusammen, der ein jeder durch Wortzauber fortan sein kann:

      »Arbeitszeitsouveränität – das Ende der Arbeitszeiterfassung ist der erste Schritt zu einer neuen Mündigkeit: Zeiten selbst organisieren, statt Auftrag und Aufgabe abzuarbeiten. Vertrauensarbeit ist der zweite Schritt: Ziele setzen und Erfolg abfordern, statt Details zu planen. Die Revolution beginnt mit dem dritten Schritt: Arbeit wird neu definiert: Sie umfasst wieder ein ganzheitliches Stück Leben: lernen, produzieren, kommunizieren. Etwas bewegen! […] Die zukünftige Arbeit bekommt den Motivator: ›Beweg etwas – du kannst es!‹ Der Unternehmer vor Ort nimmt das Schicksal seiner Beschäftigung mit in die Hand. […] Diese Neudefinition der Arbeit wird ein beherrschendes Thema der Zukunft.« (21)

      Gramsci nennt solches Vorgehen eine »passive Revolution«. Die Utopie wird ins Diesseits geholt und erscheint genau dort, wo es uns an den Kragen geht. Diese Verwandlung, bei Hartz »Flucht nach vorn« genannt, verlangt Sportsgeist. Es gilt, die »Unbequemlichkeit der Zukunft sportlich auszuhalten« (25).

      Trotz seiner 5-bis-10-Prozent-Diagnose schließt sich Hartz nicht so ohne weiteres dem Chor der Verabschieder der Arbeitsgesellschaft an. Das Problem ist komplizierter. Was verschwunden ist, zumindest weitgehend, sei die Kopplung von Arbeit und Ausbeutung (ebd.). Und insofern die ›neue Arbeit‹ also ein begehrtes Gut ist, können von den Arbeitsplätzen her Forderungen gestellt werden. Dies scheint auf der einen Seite angemessen, ist aber zugleich der Beginn der Einsetzung der Arbeitsplätze als eigentliche Subjekte der Verhältnisse, denen sich die Arbeitenden unterzuordnen haben. Das ist das zweite Nummerngirl, das durch das gesamte Buch zieht: die Rede vom »Arbeitsplatz, der einen Kunden hat«. »Im erfolgreichen Unternehmen sitzt der Kunde im Bewusstsein mit am Tisch – von der Produktdefinition bis zur Tarifverhandlung.« (U. a. 30) – Ich komme darauf zurück.

      Mit diesen Voraussetzungen stellt sich Hartz das zu lösende Problem des Arbeitsmarktes als Effekt des Umbruchs der Produktionsweise: Ohne Umschweife sieht er die Vergangenheit als Taylorismus-Fordismus mit den entsprechenden Produktivkräften. Ihm ist man nun entkommen, ebenso wie der Lohnarbeit überhaupt und dem Kapitalismus.

      »[Jetzt] ist der ganze Mensch gefragt, mit seinen individuellen Möglichkeiten, seiner Offenheit, seinem Talent und seiner Leidenschaft, zu lernen, zu entdecken, etwas zu entwickeln und weiterzugeben. Es lebe der kreative Unterschied. Wir lassen den Taylorismus hinter uns.« (16)

      Unter dem Titel »Fortschritt durch Mündigkeit« inszeniert Hartz geradezu eine Orgie an Zukunftsversprechen, in denen sich Befreiungshoffnungen unlösbar mit Werbesprüchen vermählen und dies zugleich als eine Art Lebensgefühl vorgestellt wird, untermalt mit Sprachfetzen der Jugendkulturen. Das »Selbst« tritt in beliebigen Verbindungen (mit -organisation, -disposition-, -ständigkeit usw.) in den Vordergrund, bis es zum Herrn der Schöpfung mutiert, wenigstens in Worten:

      »die Welt wird komponierbar: Gene und Moleküle liefern das Design für die übernächste Produktgeneration. Bio- und Nanotechnologien erweitern die Revolution der Informationstechnologie zu einer neuen technischen Plattform für zukünftige Gesellschaften. Janus grüßt den Fortschritt. Am Ende von E-Business und E-Commerce steht die weltweite Vernetzung der Wirtschaft – ein sehr viele Lebensvorgänge begleitendes Econet. Die Informationstechnologie wird unausweichlich, sich im Internet zu bewegen zur vierten Kulturfertigkeit […] Feuer für jede Fantasie. (16 f)

      Die Einstimmung in den Aufbruch wird weiter mit der Anrufung im Allgemeinen positiv besetzter Worte und Vorstellungen organisiert – Mitbestimmung, Familie, Zuhause, Vertrauen, Kompetenz, Souveränität (überall im Buch, u. a. 87) –, die darum die erhoffte Wirkung erzielen können und zugleich schal werden, unbrauchbar, bis man selbst sprachlos wird. Hartz thematisiert solchen Verlust als Realentwicklung. Mitbestimmung etwa ist für ihn zur »realen Utopie« geworden, was meine: »Die Wirklichkeit hat die Vorstellung noch ›getoppt‹« (105), denn Mitbestimmung (samt Betriebsrat usw.) braucht es nicht mehr, weil jeder selbst bestimmt. Hartz arbeitet weiter an der Umwertung der Werte. Der Weg nach vorn verlangt den Rückzug in dem, was bislang für Wert erachtet wurde. »Betriebsräte werden gewählt, Manager ernannt, Unternehmer geboren« (107). Auch in dieser Allgemeinheit wird so für jeden der Weg frei, Unternehmer zu werden.

      Kritik am Hartzmodell richtet sich gegen den weiteren Abbau des Sozialstaats, Privatisierungen, Streichungen im Sozial- und Gesundheitswesen und gegen die Aufforderung, sich im Niedriglohnbereich einzufinden. So fasst etwa Hans-Jürgen Urban beim Vorstand der IG-Metall die »Essentials« zusammen: den Versuch, die Arbeitslosenzahl zu halbieren durch Zumutbarkeitsregelungen, Leiharbeitsunternehmen, Ich-AGs und Minijobs und Verwandlung der Arbeitsämter in »Job-Centers« (vgl. Forum Wissenschaft 1/​03, 40 ff). Christian Brütt sieht die Hartzvorschläge als eine bestimmte hegemoniale Deutung der arbeitsmarktpolitischen Probleme und verweist auf die Nähe zum US-Modell des »workfare«, mit der »Rückkopplung der Arbeitskraft an das Marktrisiko« und eine Art »negativer Anreizpolitik« (vgl. Das Argument 247, 559 – 568, hier insbes. 563 ff). Der im Frühjahr 2003 über das Internet ergangene »Aufruf von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern« warnt vor der »Devise ›Weniger Sozialstaat = mehr Beschäftigung‹« und bezeichnet die Agenda 2010 (deren Vorschläge Programm der Hartzkommission sind) als »Verletzung der Prinzipien sozialer Gerechtigkeit« und »Gefährdung der Substanz des Sozialstaats«. Kritisiert werden das Armutsrisiko, die Niedriglohnökonomie, Veränderungen in der Sozialversicherung und im Gesundheitswesen.

      Die nachvollziehbare und gerechtfertigte Kritik steht in einem eigentümlichen Missverhältnis zum Hartz-Ton der schmetternden Werbung und Indienstnahme von Veränderungshoffnung. Offenbar geht es um mehr und um anderes auch. Prüfen wir also, in welchem Umbruch Hartz sich verortet und wie er seine Aufgabe darin bestimmt. Es geht Hartz zweifellos darum, dem Fordismus/​Taylorismus wirklich zu entwachsen mit allen Voraussetzungen, insbesondere den subjektiven, also mit den Persönlichkeiten der Arbeitenden. Die Hochtechnologie hat die Arbeitsweise radikal verändert, nun muss auch die Lebensweise folgen, mit allen Haltungen, Werten, Gewohnheiten. Hier muss kulturelle Politik ansetzen.

      An dieser Stelle ist es weiterführend, sich auf die Analysen Antonio Gramscis zu besinnen, der genau diese Fragestellung für den Fordismus verfolgte (vgl. dazu F. Haug 1998). Er analysiert das fordistische Modell der Einführung von Massenproduktion am Fließband – die Möglichkeit und Einsetzung von Hausfrauen, die über Disziplin, Gesundheit, Erziehung wachen und für die monotone Verausgabung von Kraft einen Ausgleich in Freizeit und Familie schaffen, die dazugehörigen Strategien der Unternehmer (Inspektion von Konsum, Moral und Hygiene in den Arbeiterhaushalten) sowie die puritanistischen, mit Pioniermoral überhöhten Regierungskampagnen einschließlich des Alkoholverbots – als

      »die größte [bisher dagewesene] kollektive Anstrengung, mit unerhörter Geschwindigkeit und einer in der Geschichte nie dagewesenen Zielbewusstheit einen neuen Arbeiter- und Menschentypus zu schaffen« (H. 4, § 52, 529).

      Mit ähnlicher Zielbewusstheit sehen wir im Umbruch zur hochtechnologischen Produktionsweise Peter Hartz am Werk. Besichtigen wir die Scharnierstellen seines Projekts und folgen dabei methodisch Gramsci: Im widersprüchlichen Zusammenhang von Arbeits- und Lebensweise sind die Möglichkeiten der Herausbildung neuer Arbeiter- und Menschentypen folgendermaßen zu studieren: 1. als subjektive Tat; 2. als bestimmt durch Arbeitsweise (Entwicklung der Produktivkräfte) und 3. durch Produktionsverhältnisse als ideologische Veranstaltung durch industrielle Apparate (Schule bis Betrieb); 4. schließlich als staatliche Kampagnen, in denen neue Erfordernisse unter Aufnahme von Tradition und herkömmlicher Sitte verdichtet werden zu quasi weltanschaulichen Systemen (Beispiel Puritanismus). Der Stoff, um den gerungen wird, ist die Psychophysis der Menschen, motivierte Verausgabung auf dem geforderten Niveau und subjektive Zustimmung. Das schließt alle Fragen der Haltung zum Körper und zur Seele ein.

      Die neue Produktionsweise, für die Hartz nach Lösungen