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Der undankbare Kontinent?


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und die Sklaverei als Verbrechen gegenüber der Menschheit empfinde. Ich bin gekommen, euch zu sagen, dass eure Zerrissenheit und euer Leiden auch unsere und daher auch meine Zerrissenheit und mein Leiden sind.

      Ich bin gekommen, euch vorzuschlagen, dass wir – Afrikaner und Franzosen – gemeinsam einen Blick jenseits dieser Zerrissenheit und dieses Leidens werfen.

      Ich bin gekommen, um euch vorzuschlagen, ihr jungen Afrikaner, diese Zerrissenheit und dieses Leiden nicht etwa zu vergessen – sie können nicht vergessen werden –, sondern sie zu überwinden.

      Ich bin gekommen, um euch vorzuschlagen, ihr jungen Afrikaner, nicht etwa gemeinsam die Vergangenheit wiederzukäuen, sondern gemeinsam Lehren aus ihr zu ziehen, um so gemeinsam die Zukunft anvisieren zu können.

      Ihr jungen Afrikaner, ich bin gekommen, um mit euch unserer gemeinsamen Geschichte ins Auge zu sehen.

      Afrika hat sein Unglück mitzuverantworten. In Afrika haben die Menschen einander mindestens im selben Ausmaß getötet wie in Europa. Es stimmt indes, dass die Europäer als Eroberer nach Afrika kamen. Sie eigneten sich das Land eurer Vorfahren an. Sie verbannten die Götter eurer Väter, ächteten deren Sprachen, deren Glauben und deren Bräuche. Sie schrieben euren Vätern vor, was sie zu denken, zu glauben, zu tun hatten. Sie durchschnitten bei euren Vätern das Band zur Geschichte, sie raubten ihnen die Seele, ihre Wurzeln. Sie haben Afrika profaniert.

      Das war unrecht, ihr Unrecht.

      Sie nahmen die Tiefe und den Reichtum der afrikanischen Seele nicht wahr. Sie glaubten sich überlegen, höher entwickelt, hielten sich für den Inbegriff des Fortschritts und der Zivilisation.

      Das war unrecht, ihr Unrecht.

      Sie wollten den afrikanischen Menschen bekehren, wollten ihr Ebenbild aus ihm machen, sie maßten sich alle Rechte an, glaubten sich allmächtig, mächtiger als die Götter Afrikas, mächtiger als die afrikanische Seele, mächtiger als die heiligen Bande, die die Menschen über viele Jahrtausende geduldig mit dem Himmel und der Erde des afrikanischen Kontinents geknüpft hatten, mächtiger als die Geheimnisse aus dem Urgrund der Zeit.

      Das war unrecht, ihr Unrecht.

      Sie zerstörten das Kunstwerk einer Lebensgestaltung. Sie zerstörten eine wunderbare Vorstellungswelt. Sie zerstörten die Weisheit der Väter.

      Das war unrecht, ihr Unrecht.

      Sie erzeugten Angst und Lebensverzagtheit. Sie schürten Hass. Sie erschwerten die Öffnung gegenüber dem Anderen, den Austausch, das Teilen; denn um sich zu öffnen, um etwas auszutauschen, um zu teilen, muss man sich seiner Identität, seiner Werte, seiner Überzeugungen sicher sein. Im Kontakt mit dem Kolonisator hatte der kolonialisierte Mensch sein Selbstvertrauen verloren, hatte vergessen, wer er war, hatte sich von der Angst vor dem Anderen und vor der Zukunft übermannen lassen.

      Der Kolonisator kam und nahm, er füllte seine Taschen, er machte sich alle und alles zu Nutzen, er plünderte Ressourcen und Schätze, die ihm nicht gehörten. Er raubte dem kolonialisierten Menschen seine Persönlichkeit, seine Freiheit, sein Land, die Frucht seiner Arbeit.

      Er hat genommen, aber bei allem gebotenen Respekt möchte ich sagen dürfen, dass er auch gegeben hat. Er baute Brücken, Straßen, Spitäler, Ambulanzen, Schulen. Er machte Brachland fruchtbar, er investierte Mühe, Arbeit und Wissen. Ich möchte hier sagen dürfen: Nicht alle Kolonisatoren waren Diebe und Ausbeuter.

      Es gab unter ihnen schlechte Menschen, aber es gab auch Menschen guten Willens, Menschen, die glaubten, einen zivilisatorischen Auftrag zu erfüllen, Menschen, die glaubten, Gutes zu tun. Dabei irrten sie gewiss, aber einige von ihnen meinten es ehrlich. Sie glaubten, die Freiheit weiterzugeben, und schufen Entfremdung. Sie glaubten, die Ketten der Fortschrittsfeindlichkeit, des Aberglaubens, der Knechtschaft zu sprengen, und schmiedeten weit schwerere Ketten. Sie brachten eine weit schwerwiegendere Knechtschaft mit, eine, die das Denken und die Seelen unterjochte. Sie glaubten, Liebe zu schenken, und merkten nicht, dass sie Hass und Revolte säten.

      Der Kolonialismus ist nicht für alle Schwierigkeiten im heutigen Afrika verantwortlich zu machen. Er ist nicht verantwortlich für blutige Kriege, die sich die Afrikaner untereinander liefern. Er ist nicht für Völkermorde verantwortlich. Er ist nicht für Diktatoren verantwortlich. Er ist nicht für Fanatismus und nicht für Korruption und Amtsmissbrauch verantwortlich. Er ist nicht verantwortlich für Verschwendung und Umweltverschmutzung.

      Doch der Kolonialismus war ein großer Fehler, für den jene mit Verbitterung und Leid bezahlen sollten, die geglaubt hatten, alles zu geben, und nicht verstanden, warum man ihnen so feindselig begegnete.

      Der Kolonialismus war ein großer Fehler, der im kolonialisierten Menschen die Selbstachtung zerstörte und in seinem Herzen jenen Selbsthass entstehen ließ, der unweigerlich zum Hass gegenüber anderen Menschen führt.

      Der Kolonialismus war ein großer Fehler, aber dieser große Fehler wurde zum Embryo eines gemeinsamen Schicksals. Dies ist nun ein Gedanke, der mir besonders am Herzen liegt.

      Der Kolonialismus war ein Fehler, der den Geschicken Europas und den Geschicken Afrikas eine neue Richtung gab und sie durchmischte. Und dieses gemeinsame Schicksal wurde mit dem Blut jener Afrikaner besiegelt, die in den europäischen Kriegen umkamen.

      Und Frankreich vergisst nicht, dass afrikanisches Blut für Frankreichs Freiheit vergossen wurde.

      Niemand kann vor dem Geschehenen die Augen verschließen.

      Niemand kann diesen Fehler ungeschehen machen.

      Niemand kann diesen Teil der Geschichte ungeschehen machen.

      Zum Guten wie zum Schlechten, der Kolonialismus verwandelte beide, den afrikanischen und den europäischen Menschen.

      Ihr jungen Afrikaner, ihr seid die Erben der uralten Traditionen Afrikas und ihr seid die Erben all dessen, was der Westen Afrika in Herz und Seele gelegt hat.

      Ihr jungen Afrikaner, die europäische Gesellschaft war im Unrecht, wenn sie sich der Kultur eurer Vorfahren überlegen glaubte, aber heute und in Zukunft gehört die europäische Kultur auch euch.

      Ihr jungen Afrikaner, lasst euch nicht verführen von der Idee der Reinheit, denn sie ist eine Krankheit, eine Krankheit des Verstandes, die zu den größten Gefahren in der Welt zählt.

      Ihr jungen Afrikaner, trennt euch nicht gewaltsam von dem, was euch reicher macht, amputiert nicht einen Teil eurer selbst! Reinheit ist ein Gefängnis, Reinheit ist Intoleranz. Reinheit ist eine Wahnvorstellung, die zu Fanatismus führt.

      Ihr jungen Afrikaner, ich möchte euch sagen, dass das Drama Afrikas nicht in seiner angeblichen Unterlegenheit in Kunst, Philosophie und Kultur besteht. Denn gerade in den Bereichen der Kunst, der Philosophie und der Kultur ging das Abendland bei Afrika in die Schule.

      Die moderne Kunst verdankt Afrika fast alles. Afrikas Einfluss war im 20. Jahrhundert ein Beitrag zur Veränderung nicht nur der Vorstellungen von Schönheit, nicht nur des Verständnisses von Rhythmus, Musik und Tanz, sondern auch – wie Senghor sagt – der Art zu gehen oder zu lachen.

      Mit anderen Worten, ich möchte der Jugend Afrikas sagen, dass das Drama Afrikas keineswegs daher rührt, dass die afrikanische Seele nicht aufnahmefähig wäre für Logik und Vernunft, denn der afrikanische Mensch ist genauso logisch und vernünftig wie der europäische Mensch.

      Wenn ihr euch in die afrikanische Vorstellungswelt, die ihr von ­euren Vorfahren geerbt habt, vertieft, in die Sagen, Sprichwörter, Mythologien, Rituale, in all jene Formen, welche seit der Morgenröte der menschlichen Zeit von den Generationen Afrikas ausgestaltet und einander weitergegeben werden, dann findet ihr auch die Einfallskraft, um euch eine eigene Zukunft zu erschließen, eine spezifische Zukunft, die keiner anderen gleicht, wo ihr euch endlich frei fühlen werdet – ja, ihr jungen Afrikaner, frei dazu, ihr selbst zu sein und selbst zu entscheiden.

      Ich bin gekommen, euch zu sagen, dass ihr euch der Werte der afrikanischen Kultur nicht zu schämen braucht, dass diese Werte euch nicht nach unten, sondern nach oben ziehen, dass sie ein Gegengift sind gegen Materialismus und Individualismus, die beide den modernen Menschen