zur vollen Stunde, aber außer uns kommt niemand in den Raum, wo die Eintrittskarten verkauft werden. Dann führt die Beschließerin mit imposantem Schlüsselbund uns schweigsam beobachtend durch die prächtigen Höfe. Ein kleines Museum ist dort untergebracht, neun Säle, klein, überschaubar, gefüllt mit Vitrinen und deren kostbarem Inhalt, gesammelt im 19. Jahrhundert von der gräflichen Familie Feroldi. Neben bemalten griechischen Vasen sieht man einheimische Gefäße, die sich durch ihre flächigere, für uns modernere Malerei auszeichnen. Wunderbare Giebelfiguren neben geflügelten Niken, Schmuck, Votivgaben in Form von Augen, Beinen, Vulven und kleinen Penissen. Auch Darstellungen innerer Organe, die genaue anatomische Kenntnisse verraten. Natürlich jede Menge Waffen aus Bronze, rührend zerbrechlich, bestimmt nur durch das Alter, nicht durch ihren grausamen Gebrauch.
Hier haben westlich des Tibers die Falisker gelebt, einer der Stämme Italiens, die sich mit den nahen Etruskern schnell verbündeten, die mit ihnen gemeinsam eine vom 8. bis ins 2. Jahrhundert vor Christus in Mittelitalien dominierende Kultur schufen.
Wir, wer immer das ist, der Freund oder ein wechselnder Besucher, wir gehen um die Burg herum und sehen auf die dunklen Löcher im gelblichen Tuffstein auf der anderen Seite der Schlucht. Die Totenstadt liegt dort, entfernt und doch in Sichtweite für die Lebenden.
Etwa sechs Kilometer weiter befindet sich ein anderer Wohnort der Falisker, er heißt nach den Urbewohnern Falerii Novi. Im Jahre 241 vor Christus wurde er zum neuen Wohnsitz aller aus Castellana, früher Falerii Veteri, von den Römern vertriebenen Menschen. Erst im Mittelalter zogen die Einwohner zurück in die geschützt liegende alte Stadt, wo die etruskischen Stätten alle überbaut wurden und deshalb nicht unmittelbar zu sehen sind, wie in der verlassenen Ebene, zu der uns das Auto in wenigen Minuten bringt.
Aber wie kamen damals die Bewohner der eroberten Stadt in ihr sechs Kilometer entferntes Exil? Der Platz wurde ihnen von den Siegern zugewiesen, sie mussten sicher zu Fuß dorthin gelangen, vielleicht mit holprigen Wagen, auf denen sie ihren Hausrat getürmt hatten. Alte Männer, Frauen, Kinder, auf der Suche nach einem Zufluchtsort, auf dem Weg, ein neues Leben zu beginnen. Die jungen Männer waren gefallen oder gefangen. So wie überall auf der Welt nach einem Krieg.
Wir suchen vergeblich einen Parkplatz an diesem Ort, der im Mai allen Zauber des Frühlings entfaltet hat, ihn aber für sich behält und Besucher nicht erwartet. Neben einer Schlammpfütze hat das Auto gerade Platz, wir gehen zu Fuß durch das Jupiter-Tor, einen etruskischen Torbogen. Rundbögen virtuos zu bauen war eine Spezialität dieses Volkes, die sie Römern und mittelalterlichen Baumeistern vorbildhaft vermittelten. Das Tor wird gekrönt vom Kopf eines Gottes. Dahinter liegt ein bewirtschafteter Hof mit Hunden und Hühnern. Wir sehen noch die Mauern, welche die Stadt einst schützten. Reliefartig umgeben sie, verfallen und bewachsen, ein Areal, in dem nur einige Trümmerreste liegen. Auch eine Kirche aus dem Mittelalter mit anschließendem Klosterhof gehört dazu. Dort stehen hinter einem Fenster Pflanzen. Auf den Wiesen Schafe, ein Misthaufen und werkelnde Männer. Ein Teil der Kirche ist eingerüstet. Ein bei aller Stille, aller Verfallenheit lebendiger Ort. Und hartnäckig: die riesigen Eichen stehen bestimmt schon seit Jahrhunderten und wenn sie nicht mehr grünen könnten, würden die meterdicken Stämme noch lange von ihnen zeugen.
Ein Ort, in dem Vergangenheit lebt, Zukunft erahnt wird und die Gegenwart erfüllt ist von singenden Vögeln und dem nie zu heißen, aber auch nie tieferen Licht, als der Frühling es schenkt.
Ich liebe es, mich im April und Mai, wenn es für meine Nordhaut noch möglich ist, am frühen Morgen in die Sonne zu legen und sie einzusaugen. Dann weiß ich, warum ich so gern hier bin. Es ist dann alles, alles in Ordnung.
Dieses Licht, das die Maler nach Italien rief, das auch für Goethe strahlte, welches uns alles andere vergessen lässt und eine Ahnung von Unendlichkeit gibt.
Ach Goethe, er übernachtete einst am 28. Oktober 1786 in Civita Castellana. Von hier aus fuhr er nach Rom und hatte nichts anderes im Kopf.
Wie konnte er nur Tuscania auslassen, Tarquinia, Cerveteri! Wie an einer naheliegenden tausendjährigen Basilika vorbeifahren. Uralte Kultorte interessierten ihn weniger als antike römische Trümmer. Die Basilika Castel S. Elia liegt an einem Ort der Verehrung, einem faliskischen Heiligtum, dem Felsengott Falacro geweiht. Verständlich, denn über der Schlucht erheben sich nackte rote Felsen. Ein paar dunkle Löcher zeugen von frühen Einsiedlern, die sich um das Jahr 520 zusammenschlossen, um ein Benediktinerkloster zu gründen. Der Ruhm Benedikts von Nursia, Gründer eines der ersten Klöster am Fuße des Subiaco, südlich von Rom und den Sabinerbergen, der den Mönchen eine ihnen gemäße Lebensordnung gab, war auch in ihre weltabgekehrten, von den Etruskern übernommenen Felsengräber gelangt. Der Tempel der Jagdgöttin Diana, den die Römer an Stelle des uralten Heiligtums gebaut hatten – auch das passend zur Landschaft, denn über die Felsen ziehen sich Wälder, im Tal rauscht ein für die Jagd verheißungsvoller Bach – diesen Tempel gab es später nicht mehr. An seiner Stelle konnte Kirchlein auf Kirchlein gebaut werden, bis zu dem, das heute noch mit seinen Fresken und langobardischer Flechtband-Ornamentik dort steht und die Toten des unterhalb liegenden Friedhofs bewacht.
Vielleicht hätte Goethe der Diana-Tempel interessiert, aber ähnliche Römerreste fand er dann in Rom.
An einem aber musste auch er vorbeifahren: am heiligen Berg Soracte, oder Soratte, wie er heute heißt. Der ist von weither so sichtbar, so einzigartig, so charakteristisch für die ganze Gegend, dass er die Menschen anzieht, die ahnen, dass sie von oben einen Wahnsinnsblick haben – fast bis nach Rom.
Rom? Das ist eine der Städte, die Goethe prägte, die auch heute alle, die im Etruskerland ihre innere Heimat fanden, sofort dorthin eilen lässt, wo die besten Exponate aus allen Gräbern in der Villa Giulia ausgestellt sind. Ihre Herkunft über das Etruskerland verstreut gibt Zeugnis von der Geschichte des Volkes. Zu Goethes Zeiten, das muss man zu seiner Ehre zugeben, war das meiste noch unbekannt.
Kunst ist voller Bedeutung für sich, aber die Landschaft, in der sie entsteht, ist das Prägende. Ohne sie zu sehen und zu erfahren, sind die Gefäße und Statuen für mich weniger eindrucksvoll.
Dem Autofahrer verweigert sich der Berg Soratte, heute ein Naturschutzgebiet. Man muss eine gute Stunde aufwärts gehen, um den weiten Rundblick zu genießen. Durch Wälder mit altem, durch die isolierte Lage besonderem Bewuchs. Jeder Moment hält Geschichte gegenwärtig, Überlieferungen werden greifbar, die auf Dichter wie Horaz und Vergil zurückgehen.
Verehrt wurde hier der Lichtgott Apollo Soranus. Die Menschen, die sich ihm weihten, lebten als sogenannte ›Wölfe‹ auf dem Berg. Wolfsmenschen, vielleicht zurückgehend auf die Wölfin, die Romulus und Remus, die Gründer der Stadt Rom im 7. Jahrhundert, säugte, aber sicher auch Kult eines noch älteren Mythos. Davon zeugen vielleicht die Höhlen am unbewohnten Osthang des Berges, wo Ablagerungen auf schweflige Gase hinweisen. Wolfsmenschen – Werwölfe? Die Vereinigung eines düsteren Kultes mit dem Lichtgott Apoll? Der Versuch einer Aufhebung von Gegensätzen, wie in den auf gleicher Höhe liegenden Städten der Lebenden und der Toten, nahe beieinander.
Nein, Goethe hat nichts über den Berg geschrieben, aber dafür viele andere Dichter.
»Du siehst den Soracte, weiß von hohem Schnee«, dichtete Horaz. Später schrieb der englische Italien-Besucher Lord Byron:
»(...) Du, Soracte
der einsam ragt und nimmer den Mantel
aus Schnee dir über die Hüften breitest
du bannst mir den Blick, die Gedanken.
Denn du erhebst dich hoch aus dem Tal
Gleich der windgeschlagenen Welle,
die sich lockt und ein Wimpernblinzeln lang
schwebend steht, ehe sie bricht.«
Sehr nachvollziehbar, der Vergleich mit der Welle. Und Lord Byron bezeugt, dass wohl in den letzten Jahrhunderten kein Schnee den 691 Meter hohen Berg geziert hat, Zeugnis eines Klimawandels? Im strengen Winter 2011/12 lag Schnee in Rom. Bestimmt auch auf dem Soratte.
Kein Reisender konnte ihn übersehen, den isoliert wie ein mächtiges Ungetüm ruhenden Kalksteinfelsen inmitten eines weiten Tales, durch das der Tiber