Charlotte Ueckert

Die Erben der Etrusker


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zu sehen ist und nur, wenn der Winter feucht war. Im Pliozän, vor zwei bis sechs Millionen Jahren, muss er eine wirkliche Insel im Meer gewesen sein, darauf lassen seine sand- und tonhaltigen Böden schließen. Das wissen Geologen, die sich mit Jahrmillionen beschäftigen, wogegen die etwa 2 800 Jahre, die mich jetzt beschäftigen, nicht mehr als ein Augenblick sind. Noch kürzer, aber schrecklich genug, war die Zeit der deutschen Besatzung von Oktober 1943 bis Juli 1944. Ein strategisch wichtiger Punkt war der Monte Soratte, der von den Alliierten bombardiert wurde. Reste der Militäranlagen sind immer noch zu sehen.

      Eine der Zwölferstädte ist Veio, Rom am nächsten und eine der ersten, die sich 396 vor Christus unterwarf. Wie Vulci konnte es seine Unabhängigkeit noch hundert Jahre länger bewahren, nämlich bis 280 vor Christus, als letzter etruskischer Ort. Wie auch Norcia und Castel D’Asso liegt sie auf der Ebene eines Bergrückens, welcher weit in die Tiefe fällt, zerklüftet von einem Fluss, der sich seinen Weg durch die Felsen bahnte.

      Es gibt hier besondere geologische Formationen im Fels, aber die größte Besonderheit ist der Apollotempel, dessen Fundamente von einer filigranen Metallkonstruktion erhöht werden, gekrönt mit Masken und der Statue des berühmten Apolls, heute eines der Glanzstücke in der Villa Giulia in Rom. Er lächelt freundlich und hat so für unser Bild den vermuteten Charakter der Etrusker mitgeprägt. Auch in Veio können wir einen größeren Rundgang machen, der uns zu verschiedenen Gräbern führt. Zweimal kommen wir, mehr durch Zufall, zum Auto auf dem Parkplatz zurück, wo schon seit unserer Ankunft im Schatten eines großen Baumes neben uns ein anderer Wagen aus Deutschland parkt. Zuerst scheint er leer zu sein, aber als wir dort aussteigen, erhebt sich eine Frau auf dem Fahrersitz. Sie kramt im Wagen und ich sehe sie schwer atmen, beinahe prusten. Beim zweiten Treffen steht sie neben der offenen Wagentür, läuft schwerfällig um beide Autos herum.

      »Geht es Ihnen nicht gut?«, frage ich. »Können wir helfen?«

      Sie kann kaum sprechen, ihre Stimme klingt gebrochen, rau, asthmatisch. Sie ist vielleicht fünfzig, ein abgearbeitetes Gesicht, krummer Rücken, die Füße stecken in dreckigen Sandalen. Sie bewegt sich wie eine ganz alte Frau.

      »Leben Sie hier?«, fragt sie zurück. Als ich verneine erklärt sie, sie wohne in der Nähe, das Klima nehme ihr die Stimme, auch die Atmosphäre des Ortes. Ihr italienischer Mann, von dem sie allerdings schon lange getrennt gewesen sei, wäre inzwischen gestorben. Ihr Auto habe sie in Deutschland gemeldet, weil es dort billiger wäre.

      Wir grüßen, gehen weiter den nächsten Weg. Als wir wiederkommen läuft sie immer noch somnambul schwankend und vor sich hin starrend neben den beiden Autos hin und her. Drogen? Eine dieser im Traumland gestrandeten Deutschen? Ich überlege, wie ihr zu helfen ist, aber mir fällt nichts ein, was ihre Souveränität nicht verletzt.

      Wir gehen noch einmal zum Wasserfall, der in der Sonne glitzert. Daneben stehen die Mauern einer alten Mühle, über und über mit roter Schrift bekritzelt.

      ›Eleonora Puttana‹ steht dort und ich denke plötzlich an die Frau. Wartet sie auf dem Parkplatz auf Freier? Schafft sie das, so zerstört wie sie aussieht? Als wir zum Auto gehen, fährt ein anderes mit einem einzelnen Fahrer weg. Zum Abschied winkt sie uns und ich wünsche ihr: »Gute Besserung.« Ja, sie habe sich gerade die Brust eingerieben, es werde bald wirken, sagt sie mit fast verlöschender Stimme.

      Die Via Cassia hinauf ist unser nächster Halt Sutri, wo wir das Amphitheater durch die Gittertür sehen – das Wärterhäuschen, wo es außer den billietti auch den Schlüssel zum Mithras-Heiligtum geben soll, steht verschlossen. Ich wollte meinem deutschen Besucher zeigen, wie aus einer etruskischen Grabanlage zuerst ein Mithras-Heiligtum und dann eine christliche Kirche hervorgegangen war, der Madonna zu Ehren. Die Entwicklung der Spiritualität authentisch nachempfinden. Wie so oft in Italien, blieb nur der Blick von außen.

      Anders als die berühmten römischen Theater ist dieses stufige Halbrund nicht freistehend errichtet, sondern in einen Tuffsteinhügel gebaut, der außen von Gräbern unterhöhlt ist. Es soll noch aus der Etruskerzeit stammen, wie auch die Sitte der Gladiatorenkämpfe Gefangener, die bei den Etruskern nach Begräbnissen ihrer im Krieg gefallenen Kämpfer stattfanden. Erst etwa ab 100 vor Christus setzten auch die Römer Gladiatoren-kämpfe zur allgemeinen Belustigung ein.

      Derartige Brutalitäten lassen sich in der heutigen Toskana kaum noch ahnen. In der Nähe von Grosseto liegen die Ruinen von Roselle, auch eine der Zwölferbundstädte. Schon auf dem Weg dorthin fiel mir auf, wie picobello die Häuser überall renoviert sind, wie viele Agritourismusschilder die Straßen säumen, wunderbare Anwesen mit gepflegten Auffahrten und Swimmingpool. Selbst die Straßen haben dort weniger Schlaglöcher. So gepflegt auch die Ausgrabungsstätte von Roselle. In der Etruskerzeit lag die Stadt, gegenüber der Schwesterstadt Vetulonia, an einer inzwischen verschwundenen Lagune. Vorbildlich ausgeschildert und beschriftet, die etruskischen von den römischen Fundamenten unterschieden, die zwei verschiedenen Wege zum Forum und zu den zyklopischen Mauern aus etruskischer Zeit markiert. Mehr als drei Kilometer zieht sich die Mauer um das Areal, das leider aktuell nicht ganz zu umrunden ist. Von den Römern im Jahr 294 vor Christus erobert, lebte die Stadt auch zur Zeit der ersten Christen, die dort eine Kirche bauten und zum Schrecken der Heiden ihre Toten rund um die heilige Stätte bestatteten, weiter. Erstaunlich, wie die traditionelle Trennung der Lebenden von den Toten sich bis heute erhalten hat. Schönes Wohnen am Friedhof, wie bei uns beworben, weil es dort grün und ruhig ist, bleibt undenkbar hier. So hat sich wieder eine Etruskertradition bewahrt, trotz des späteren Christentums. Roselle, in einer Senke zwischen einem Nord- und einem Südhügel gelegen, mit weitem Blick in die Ebene, verlor seine Bedeutung endgültig, als der Bischofssitz von Papst Innozenz II. ins aufblühende Grosseto in die Ebene verlegt wurde. Das Amphitheater, mit einigen grünen Plastikstühlen versehen, aber ebenso grasüberwachsen wie in Sutri, wirkt hier in der sauberen Toskana ganz harmlos. Die Vorstellung von Gladiatoren oder mit Löwen kämpfenden Christen stellt sich nicht ein. Strahlend weiße Kopien von römischen Statuen blenden uns als Fotokontraste vor den rostroten Ziegeln.

      Wenn ich mit dem Auto eine halbe Stunde von meinem italienischen Zuhause wegfahre, lande ich am liebsten in einem Teich warmen Schwefelwassers. Den Badeanzug habe ich vorher angezogen, so fällt wenigstens das umständliche Umziehen weg. Wenn man gewöhnt ist, am Strand von Sylt alle Kleider abzulegen, um zu baden, kommt es einem in den frei zugänglichen Badestellen mitten auf einem Feld, Auto an Auto zu gewissen Zeiten, Mensch an Mensch in den weiß getünchten Becken und dem grünlichen Wasser, sehr lästig vor, einen nassen Badeanzug zu tragen. Ganz bestimmt aber beim Umziehen. Duschen gibt es nicht. Es soll auch gut sein, das Wasser eine Weile auf der Haut trocknen zu lassen. Wunderbar weich fühlt sie sich danach an. Gewitzte bringen Bademäntel mit oder große Handtücher. Andere gehen in Unterwäsche ins Wasser, die sieht heute ja aus wie ein Bikini oder eine Sporthose. Manchmal ist die Luft heißer als das Wasser. Die Becken sind hintereinander angelegt und man kann zwischen Temperaturen von heiß bis gemäßigt wählen. Alles scheint sauber zu sein, ein Verein von Badefreunden sorgt dafür. Und dann liege ich im Wasser, bis zum Hals bedeckt, aber nie so lange wie die Italiener, die am Rand sitzen, nur den Unterkörper oder die Beine im Wasser, und die sich alle zu kennen scheinen. Das Gespräch dreht sich um Beziehungen und ums Essen, selten um Politik. Ich lasse die schönen Töne über mich hinweg laufen wie das warme Wasser.

      Ich erinnere mich an einen Mann, der schon im Becken hockte, als ich mit einem Freund dort ankam. Er hatte das Gesicht der Sonne zugewandt und hielt beide Hände nach oben. Nie kamen sie mit dem Wasser in Berührung, das schien seine größte Sorge. Ein anderer Mann saß am Rand des Beckens, angezogen, rauchte, hielt sein Handy bereit und beobachtete immer wieder den Mann im Wasser. Ab und zu stand er auf, um ungeduldig die Becken zu umrunden. Der andere blieb ungerührt sitzen, die Hände mit den langen Fingern erhoben. Der Freund und ich lachten und tauschten Vermutungen aus. Uns waren inzwischen die Fingerkuppen zusammengeschrumpft, wir würden bald den warmen Sud verlassen müssen.

      »Das ist ein Pianist.«, flüsterte der Freund. »Heute Abend hat er ein Konzert und muss die Hände schonen. Sein Chauffeur wartet.«

      »Quatsch, er ist auf Freigang«, mutmaßte ich, »und er will das möglichst lange ausnützen.«

      »Ja, ein Mörder«, flippte der Freund aus, »er hat Blut an den Händen