John Martin Littlejohn

Osteopathische Diagnostik und Therapie


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Grundlage für das freie Fließen der Körperflüssigkeiten als Medium der ‚Widerstandskraft‘. Eine künstliche Unterstützung (z. B. Medikation) ist nur in absoluten Ausnahme- und Notfällen vonnöten.

      • Jede Form der Anwendung, die in diesem Sinne verfährt, repräsentiert Osteopathische Medizin in Reinform.6

      • Osteopathie versteht sich daher nicht als Konkurrenz oder Ergänzung zur Medizin, sondern in der funktionell-klinischen Anwendung, d. h. also vorrangig im Bereich der Allgemeinmedizin als deren Weiterentwicklung.

      • Zur Grundausstattung eines Osteopathen gehören Stethoskop, Blutdruckmessgerät und Mikroskop.

      • Nicht nur Funktion und Struktur, sondern auch die Umwelt sind im Menschen aufeinander bezogen.7 Patientenzentrierte Überlegungen zur Ernährung, Psychosomatik, Sozialisation etc. sind Bestandteil jeder osteopathischen Behandlung.

      • Osteopathie beschäftigt sich mit allgemeinen Erkrankungen. Muskuloskelettale Beschwerden fallen dabei oftmals unter die Rubrik ‚Symptome‘. Daher widmet sich das vorliegende Skript auch nicht einmal zu 5 Prozent dem Bewegungsapparat als Ursache für Erkrankungen.

      • Stills und Littlejohns Zugang zur Osteopathie war rein anatomisch-physiologisch. Für Sie galt die Prämisse: Physiologisch denken, anatomisch (be)handeln!

      • Bei den Anwendungen erfolgt niemals eine Korrektur, sondern stets eine Anpassung der Strukturen an sich selbst. Damit wird nie konzept- sondern stets prozessorientiert gehandelt.

      • Still und Littlejohn haben Techniken demonstriert, aber niemals unterrichtet. Sie waren davon überzeugt, dass mit exzellenter Kenntnis der Anatomie und Physiologie sowie einem gesunden Menschenverstand die Techniken leicht antizipiert werden können. Die Überzeugung, dass Osteopathie ausschließlich hands-on vermittelt werden kann, ist demnach falsch.

      • Für Still und Littlejohn drücken sich alle Aspekte des Menschen, d. h. auch seine nicht-physischen Anteile, im Körper aus, weshalb der Behandler auch nur darüber wirken kann. Eine direkte metaphysische Wirkung, so wie etwa in der energetischen Osteopathie, ist in der klinisch-osteopathischen Arbeit nicht möglich.

      • Die Nervensysteme (ZNS und Vegetativ) spielen eine zentrale Rolle. Alle Techniken der anatomischen Anpassung, v. a. die Techniken zum Ausbalancieren der Nervensysteme zielen alle darauf ab, Behinderungen im freien Fließen der Körperflüssigkeiten zu beseitigen. Den vaso- und viszeromotorischen Funktionen des Vegetativen Nervensystems kommt dabei die überragende Bedeutung zu.

      • Folgende Behandlungselemente werden in Ansätzen oder ausführlich beschrieben: Physiotherapeutische Übungen, Kraniale Behandlung, Viszerale Behandlungen, Lymphdrainage, Thermodiagnostik, Elektrotherapie, Atlas-Therapie, Rhythmische Arbeit (wie etwa bei Maitland), Farblicht-Therapie, Muskeltriggerpunkte, METs, Orthopathische Therapie, Ernährungsberatung, Augenhintergrunddiagnostik, Übertreibungstechniken, HVLA-Techniken, etc. etc. Und alles in einem System integriert, namentlich Osteopathie.

      Diese Liste ließe sich noch beliebig erweitern, und interessierte Leser werden sicherlich noch einige Stellen finden, die gerade die moderne Osteopathie v. a. in ihrer Stellung zur Medizin zu unbequemen Fragen zwingt. Gleichermaßen finden sich einige Überlegungen, deren Grundsätze sich v. a. die moderne Chiropraktik und Chirotherapie auf die Fahne schreiben, die aber historisch nachweislich von Still und Littlejohn stammen. Auch hier fordert das Buch indirekt zur Korrektur in der Außendarstellung auf.

      FORM UND INHALT

      Nicht nur die Strukturierung des Textes bereitete bei der Übersetzung eine Menge Arbeit, auch die Terminologie jener Zeit warf immer wieder die Frage auf, wie am besten zu verfahren sei. Die Entscheidung fiel schließlich zugunsten einer Mischlösung, die versucht eine Balance zwischen wortgetreuer Ursprünglichkeit und verständlicher Anpassung zu wählen. Der Grundcharakter der Ausdrucksweise jener Zeit sollte unbedingt bewahrt bleiben, um nicht den Anschein zu vermitteln, wir hätten es hier mit einem Zeitgenossen zu tun. Dies betrifft auch den häufigen Wechsel zwischen lateinischen Fachausdrücken, so wie sie in der Medizin gebräuchlich sind, und der umgangssprachlichen Bezeichnungen medizinischer Ausdrücke. Hier findet sich im Original keine Stringenz und auch dies habe ich der Authentizität wegen so belassen. Auch bezüglich der Nummerierung besteht wohl aufgrund der häufigen Nachbesserungen des Skripts keine absolute Klarheit. Daher wurde die Gliederung vom Übersetzer und den Lektoren entsprechend so angepasst, dass eine Übersichtlichkeit für die Leser gewährleistet werden konnte.

      Wie bei allen historischen Büchern aus dem Bereich der Medizin ist man auch bei Littlejohn schnell geneigt, die Mühe eines Studiums kontextueller Zusammenhänge allein schon deswegen zu unterlassen, weil Ausführungen begrifflich nicht zeitgemäß ausgedrückt sind. Wer dieser Hybris unterliegt, muss sich dann allerdings den Vorwurf gefallen lassen, selbst weder sachlich noch wissenschaftlich zu sein (was sich letztlich auch immer in die klinische Arbeit überträgt). Man sollte sich bei der Lektüre stets die Situation und Möglichkeiten der damaligen Zeit ebenso vor Augen halten, wie die genaue Bedeutung der Terminologie. Zudem fehlt übrigens bis heute auch der Nachweis, dass die osteopathischen Theorien nicht richtig sind. Es ist daher durchaus vorstellbar, dass selbst eine osteopathische Tumorbehandlung in einigen Fällen tatsächlich die beste Wirkung erzielen könnte. Unabhängig von der ethischen Diskussion bzgl. entsprechender Studien gilt die Aussage daher solange, bis das Gegenteil bewiesen wurde.8

      Scheinbare Widersprüche oder Unklarheiten sind jenen unleserlichen und skriptartigen Textstellen geschuldet, die nicht einfach nach dem Motto ‚Ich-denke-mal-daswill-er-damit-sagen‘ geglättet wurden. Der geneigte Leser mag diese Stellen nach eigenem Ermessen deuten. Häufig betrifft dies die Erklärung der Techniken, welche gelegentlich zusammen mit einem Assistenten (manchmal sogar zwei!) durchgeführt wurden. Auch beschreibt der Autor bei einigen Erkrankungen Symptome in widersprüchlicher Ausprägung. So kann bei ein und derselben Erkrankung in einem bestimmten Stadium entweder erhöhte oder erniedrigte Temperatur vorkommen, an anderer Stelle wiederum laute oder leise Herztöne. Damit widersteht er eindrucksvoll der Versuchung, Kollegen und Patienten immer klare Antworten zu liefern. Littlejohn ist als seriöser Wissenschaftler und Kliniker ohne Rücksichtnahme auf seine wissenschaftliche Reputation einzig an der zweckneutralen Beobachtung und Beschreibung von Phänomenen und den logischerweise daraus folgenden therapeutischen Konsequenzen interessiert. Dies macht das vorliegende Werk besonders authentisch und interessant für den allgemeinmedizinischen Praxisalltag. Allgemeinmedizinisch v. a. deshalb, weil hier Anatomie, (Patho) Physiologie, Innere Medizin, Neurologie und Orthopädie in geradezu genial funktionell zusammenhängender Weise erklärt werden. Für die vielen an Osteopathie interessierten Fachleute bietet Osteopathische Diagnostik und Therapie somit alles: Grund zum Jubel und zum Stöhnen. Ob Mediziner, Physiotherapeuten oder Heilpraktiker, sie alle werden Textstellen finden, die Ihnen aus dem Herzen gesprochen erscheinen, und andere, die eine große Abwehr auslösen werden. Dies ist das Charakteristikum aller größeren Werke, die nicht versuchen das eine oder das andere Lager zu bedienen. Und eben deshalb ist es so wertvoll. Es soll keinem anderen dienen außer wissbegierigen Menschen, die bereit sind bis ans Lebensende dazuzulernen. Auf sie wartet bei der Lektüre eine Schatztruhe voller kleiner und großer Edelsteine. Und auf dem größten von allen steht immer wieder:

      Physiologisch denken, anatomisch (be)handeln!

      Was einfach klingt heißt nichts anderes als prozessorientiertes Denken, aber konzeptorientiert Handeln. Im medizinischen Klinikalltag, der entweder vom prozessorientierten Denken-Handeln (Esoterik) oder vom rein konzeptorientierten Denken-Handeln (EBM-Schulmedizin) geprägt wird, liegt daher in der wertfreien Lektüre dieses Buches die wohl größte Herausforderung an die Leser. Aber wer weiß, vielleicht bietet sich dem historische interessierten Leser im stillen Kämmerlein ja die willkommene Gelegenheit, mal die liebgewonnenen und bei öffentlichen Diskussionen vehement verteidigten Vorurteile ebenso ruhen zu lassen wie den ebenso lästigen wie hartnäckigen therapeutischen Narzissmus. Sehen Sie das Buch als Gelegenheit, die Schützengräben bei Nacht und ohne Waffen zu verlassen, um Frieden zu schließen. Mein Tipp: Geben Sie Littlejohn eine faire Chance und lesen Sie das Buch mit Herz und Verstand. Ich hoffe der aufgearbeitete Inhalt und die