leicht lesbar ist. Vielleicht ist es an einigen Stellen nicht ganz vollständig. Im Kern aber gibt es keine großen Fragen, was den Sinn des Textes angeht. Die Leser/innen erhalten also einen Einblick in die ursprüngliche Praxis eines sehr komplexen allgemeinen medizinischen Ansatzes, der differenzialdiagnostisch ausgelegt ist. Littlejohn bemüht sich, die allermeisten der damals bekannten Erkrankungsbilder genau zu beschreiben und sie von anderen, z. T. verwandten Erkrankungen zu unterscheiden. Häufig ergeben sich Hilfestellungen für die Studierenden, wie dies geschehen kann. Die Diagnosemethode setzt am Gespräch mit den Patient/inn/en an, führt dann weiter eine osteopathische physische Diagnose durch, die neben der manuellen Diagnose im engeren Sinn auch Auskultation, Endoskopie, Fieber-, Blutdruckmessung u. a. kennt. Interessant sind dabei in vielfacher Hinsicht die Texte über Herzerkrankungen, in denen eine ausgesprochen exakte Diagnostik erfolgt.
Die Therapie ist von der Überzeugung Littlejohns bestimmt, dass das Zentrale Nervensystem und das Vegetative Nervensystem die wesentlichen Aspekte des Menschen kontrollieren. Sie sind aber zugleich Kommunikationssysteme, welche die ganzheitliche Verfassung des Menschen als dreifaches Verhältnis von Verhältnissen ausmachen (vgl. Abb. (2). Das Verhältnis zur Umwelt ist u. a. über sinnliche Wahrnehmung bestimmt, die kognitiv und emotional bewertet wird. Das Selbstverhältnis verläuft bewusst über kognitive, volitionale und emotionale Prozesse. Beides ist ohne Funktionieren von Teilen des Zentralen Nervensystems und des Vegetativen Nervensystems nicht möglich. Das wechselseitige Verhältnis der Einzelteile des Organismus zum gesamten Organismus ist im Wesentlichen durch die Nervensysteme bestimmt. Es lässt sich bei der Lektüre des vorliegenden Buches mithin recht leicht erkennen, wie Ganzheitlichkeit in der klassischen Osteopathie gemeint war. Es geht um die Erfassung und Behandlung aller Bezüge, die über die Nervensysteme vermittelt sind. Diese werden vorwiegend durch hemmende oder stimulierende Manipulation angesprochen. Sehr häufig ist aber auch von schwingender Behandlung, rhythmischer Behandlung usf. die Rede.
In diesen Zusammenhang gehört die Lebenskraft. Diese ist nicht direkt erreichbar, sie ist nur indirekt über die schwingenden und rhythmischen Prozesse im Körper wahrnehmbar. Diese Prozesse drücken sich Littlejohn zufolge in Zeichen aus. Dabei wird bei Littlejohn wohl klarer als bei Still, dass es sich bei der Lebenskraft nicht um eine separate Kraft neben der Gravitation oder dem Elektromagnetismus handelt. Tatsächlich geht es um eine Form der Entelechie, also im aristotelischen Sinn um eine Finalursache des Ordnungsaufbaus.10 Das wurde damals im Kontext des Lebenskraftproblems kontrovers diskutiert. In diesem Sinn unterscheidet sich auch Littlejohn vom sich ausbildenden naturwissenschaftlichen Konsens, die die Existenz der Entelechie ablehnt. Darüber ist aber im Kontext der Thermodynamik und anderer Entwicklungen auch in den Naturwissenschaften wohl das letzte Wort noch nicht gesprochen. Vor allem die zeitgenössische Biologie hat hier vielleicht nicht in jedem Fall ihr Potenzial schon ausgeschöpft. Und genau darauf setzt Littlejohn.
Für den Menschen, der sich selbst bestimmen kann, Ziele und Zwecke festlegt, ist es sinnlos, so etwas wie eine Entelechie zu leugnen. Daher muss sie in einer komplexen allgemeinen Medizin auch berücksichtigt werden. D. h., die praktische Beobachtung am Menschen zeigt, dass manche naturwissenschaftlichen Unterstellungen eben schwerlich realistisch sind, sondern Voreingenommenheiten darstellen und zu einem konzeptuellen Top-down-Denken führt. Folglich sind sie auch wissenschaftlich problematisch.
Littlejohn ist anders als Still bemüht, die Osteopathie nicht durch ständige Abgrenzung zu bestimmen, sondern andere Verfahren wie Massage, Hydropathie, Suggestion, Diätetik usf. einzubeziehen, ihnen aber einen klar definierten osteopathischen Sinn zu geben. Dabei wird klar, dass Littlejohn wie auch Still davon überzeugt ist, dass mit Ausnahme von Antiseptika und Antitoxinen die Gabe von Medikamenten prinzipiell schädlich ist, weil diese nicht assimiliert werden können, mithin also die bekannten Nebenwirkungen erzeugen, bei denen wir ja auch heute noch unseren Arzt und Apotheker fragen sollen. Dieses Buch zeigt die Radikalität der ursprünglichen osteopathischen Position klar auf. Die meisten Erkrankungen lassen sich ohne Medikamentengabe angehen, insofern insbesondere die Nervensysteme so behandelt werden, dass die Lebenskraft wieder selbstorganisierend zum Zuge kommen kann.
Das Buch versucht, ein vielleicht nahe liegendes Missverständnis der Osteopathie zu vermeiden, die mit der Bezeichnung Osteopathie selbst zusammenhängt. Littlejohn behandelt die Erkrankungen von Knochen und Muskulatur, darunter auch die häufiger auftretenden Verformungen der Wirbelsäule. Dies soll verdeutlichen, dass die Osteopathie – und das ist auch die Meinung Stills – eine allgemeine Medizin ist, die zwar insbesondere auf die Wirbelsäule konzentriert ist. Aber dies geschieht vor allem, weil hier die beiden Nervensysteme verbunden sind. Wie der Text zeigt, behandelt die klassische Osteopathie natürlich auch die Organe selbst. Sie unterstellt aber, dass Fehlstellungen von Gelenken, Wirbelkörpern, Muskulatur, Faszien, Ligamenten das Nervensystem negativ beeinflussen können. Das gilt insbesondere für die Wirbelsäule, weil hier Nervenbeziehungen zu allen Organen sowie die Verbindung zum Gehirn vorliegen. Dabei ist aber wesentlich, dass eine wechselseitige, reflektorische Beziehung vorliegt. Auch Störungen der Organe drücken sich an den entsprechenden Abschnitten der Wirbelsäule aus, müssen also keineswegs von dort verursacht sein. Einliniges Denken liegt in der frühen Osteopathie nicht vor, es handelt sich um einen sehr komplexen Ansatz.
JOHN MARTIN LITTLEJOHN – KURZBIOGRAFIE
EIN GLÄNZENDER INTELLEKT
John Martin Littlejohn wurde am 15.02.1866 in Glasgow als Pfarrerssohn geboren. Er war ein hochintelligenter und wissbegieriger aber auch kränklicher junger Mann. Trotz bitterster Armut war das Elternhaus vom geisteswissenschaftlichem Studium erfüllt, und so begann seine sprachwissenschaftliche Ausbildung bereits mit 16 Jahren an der Akademie Colraine in Nordirland. Nach dem Studium der Theologie an der Universität in Glasgow ging er 1886 als Pfarrer nach Nordirland, um schon bald darauf wieder nach Glasgow zurückzukehren. Dort erwarb er mehrere Abschlüsse und Auszeichnungen in Jura, Theologie, Medizin, Philosophie und Soziologie und hielt 1886/87 seine ersten Vorlesungen.
Das raue Klima und seine Konstitution hatten ihn zu einem ebenso introvertierten wie brillanten und vielseitig gebildeten Analytiker geformt. Nach einem Unfall in der Universität, bei der er sich eine Schädelfraktur zugezogen hatte litt Littlejohn an mehrfach täglich rezidivierenden Blutungen im Hals, die ihn zum Klimawechsel zwangen. Eine große Universitätskarriere fand damit ihr jähes Ende.
AMERIKA
1892 siedelte er mit seinen Brüdern James und William nach Amerika über und setzte seine Studien an der Columbia University in New York fort. Aufgrund seiner hervorragenden Leistungen übernahm er schon bald die Leitung des Amity College in College Springs, Iowa. Seine Beschwerden besserten sich allerdings nicht und so kam es 1895 in Kirksville zur schicksalhaften Begegnung mit Dr. Still. Bereits wenige Behandlungen führten zur deutlichen Linderung. Da Still dringend qualifizierte Lehrer an seiner 1892 gegründeten American School of Osteopathy benötigte, bot er Littlejohn einen Posten in seiner Fakultät an. Tief beeindruckt von Stills Naturkonzept der Osteopathie willigte er ein, begann 1898 seine Arbeit, schrieb sich im gleichen Jahr später als Student ein und wurde bereits 1899 zum Präsident der Schule gewählt.
Innerhalb der Fakultät gab es jedoch schon bald einen tiefen Konflikt: Stills Anhängern galt der anatomische Zugang zur Osteopathie als heilig (lesionists). Littlejohn und seinen Brüdern schien dies zu einfach; sie betrachteten die komplexere Physiologie als Kern der Osteopathie und befürworteten auch Therapien, die den osteopathischen Prinzipien und den Prinzipien der Natur entsprachen (broadists). Aber es ging auch um einen zeitlosen Konflikt: Die analytisch orientierten Akademiker in der Fakultät standen den der Intuition vertrauenden Nichtakademikern gegenüber. Nach massiven Intrigen entschlossen sich die Littlejohn-Brüder schließlich Kirksville bereits 1900 wieder zu verlassen, um in Chicago das Chicago College (School) of Osteopathy zu gründen. Die Einrichtung entwickelte sich rasch zum Wissenschaftszentrum der Osteopathie.
Man vermutet, dass der inzwischen verheiratete Littlejohn mit seinem feinen Gespür für politische Entwicklungen die verheerenden Folgen des von der American Medical Association (A.M.A.) initiierten Flexner-Reports