Für Handoll scheint es recht deutlich, dass der bei Sutherland und in der Sutherland-Interpretation recht schwankende Ausdruck potency als „Potenzial“ wiederzugeben und entsprechend auch zu übersetzen ist (vgl. Seiten 214 f). Für die deutsche Übersetzung wurde jedoch der in der Sutherland-Tradition eingeführte Begriff „Potency“ beibehalten.
Handoll unterstellt die Existenz der mit den herkömmlichen Methoden nicht nachweisbaren Potency. Mithin lautet die Kernfrage in seinem Buch nicht mehr, ob es sie gibt, sondern schlicht: Woher kommt die Potency? Ihm zufolge entstammt sie nicht dem Körper. Sie lässt sich als etwas „wahrnehmen“, dass sich selbst nicht bewegt, aber anderes bewegt. Sie ist ein „Begehren“ (desire), Bewegung auszudrücken. Sie bewegt sich nicht selbst und findet ihre Quelle außerhalb des Körpers. Aber woher? Handolls umfangreicher Versuch, die nachklassische Physik zu rezipieren, soll darauf eine Antwort geben. Sie läuft darauf hinaus, dass es sich um die Energie der Dichte des Vakuums handelt. Dies wird in einzelnen, sehr gut nachvollziehbaren Schritten begründet. Dabei zeigt sich auch, dass das frühere Ideal einer „objektiven“ Messbarkeit gegenstandslos wird. Subatomare Partikel antworten nur auf die Frage, die man an sie stellt. Wird die Frage anders gestellt, antworten sie anders, wie sich besonders nachdrücklich im Doppelspalt-Experiment zeigt. Insofern muss man sich über die schwankenden Ergebnisse bei der Messung der Fluktuation der ZSF nicht sonderlich wundern. Denn offenbar hat es diese mit den fundamentalen Energieverhältnissen im Universum zu tun. Jeder Eingriff bestimmt mithin das Ergebnis mit. Auch die Palpation erweist sich somit nicht als „objektiv“.
Quantentheoretisch belehrt kehrt die Osteopathie der Art Handolls sicherlich bei Still und Sutherland ein. Denn diese hatten ja unterstellt, dass die Behandlung allenfalls die Hemmnisse beseitigen kann, welche die evolutionär ausgebildeten Selbstheilungskräfte des Körpers blockieren. Für Handoll besteht diese Blockade in einem unausgeglichenen Verhältnis der Energie im Körper des Patienten zur homogenen, glatten Energie des Universums. Der Behandler nimmt diese Störung wahr und versucht durch ein Bewusstsein, das auch die umgebenden Energien einschließt dem Patienten eine Möglichkeit zu schaffen, sein Verhältnis zur Energie des Universums wieder zu harmonisieren: „Ein Individuum stellt eine Störung in der Energie des Universums dar. Wenn diese Störung verworren ist, dann entsteht Krankheit. Wenn sie in Harmonie mit dem Universum ist, dann besteht Gesundheit.“ (218) Wenn also zusätzlich zur Störung der Energie des Universums, die in der Existenz des Individuums besteht, eine weitere Störung hinzukommt, dann entsteht Krankheit. Gesundheit besteht, wenn die zusätzliche Störung verschwindet. Die große therapeutische Aufgabe des Behandlers besteht dabei nicht mehr in einem aktiven eingreifenden Veränderungsprozess (Stichwort: Macht), sondern im stillen Gewahrsein der Existenzen von Behandler und Patient innerhalb einer weiter reichenden und für unsere Messmethoden unzugänglichen bestimmten Wirklichkeit. Gelingt es dem Behandler diesen Zustand während der gemeinsamen Zeit mit dem Patienten zu erreichen, wirkt er als stiller Mediator einer vollkommen unabhängig ablaufenden Harmonisierung des PRM-Musters des Patienten mit der Glätte der universellen Energie. Um in Stills Jargon zu sprechen: Der Behandler wird zum Werkzeug des großen Architekten.
Diese Position Handolls wird sicher kritisch erörtert werden. Dazu soll diese Übersetzung beitragen. Mit Handolls Buch wird die Osteopathie aber darüber hinaus insgesamt an verschiedene Diskurse anschlussfähiger. Handoll teilt die Überraschung der Quantenphysiker, dass die klassische Physik nur unter ganz streng definierten Bedingungen gültig ist. Das bleibt aus der Sicht von Außenbeobachtern innerhalb des physikalischen Diskurses und ist insofern gerechtfertigt. Doch die Newtonsche Physik wurde in weiten Bereichen von Philosophie, Wissenschaften und Gesellschaft in der Regel nicht als „gesunder Menschenverstand“ (common sense) empfunden, sondern angesichts der relativ unscharfen und fluktuierenden Alltagserfahrung doch als eher abstrakt. Der Erfolg dieser Theorie im Alltag besteht freilich in ihrer technisch-praktischen Anwendbarkeit. Mit ihr konnten die Dampfmaschine, die Eisenbahn bis hin zum Computer gebaut werden. Diese technischen Produkte bestimmen den Alltag der Menschen, weil sie den ökonomischen Erfolg der westlichen Gesellschaften ermöglicht haben. Aus dieser Perspektive wurde manches andere weggedrängt.
Doch die romantische Physik, die Kunstlehre des Verstehens (Hermeneutik), die antike Philosophie, auch die Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert erkannten auf je eigene Weise, dass die z. T. unscharfe, diffuse Alltagserfahrung sehr viel näher an der Erfassung der Wirklichkeit liegen könnte, als es die technisch klare Anwendung der klassischen Physik vermochte. So war es auch für den bedeutenden Evolutionstheoretiker Herbert Spencer klar, dass es in der Wirklichkeit keine kontradiktorischen Gegensätze geben kann (Wenn etwas der Fall ist, dann kann sein Gegenteil nicht der Fall sein – und umgekehrt). Diese auch sonst in der Philosophie seit Platon beachtete Wahrheit ist durch die Quantenphysik überraschend bestätigt worden. Im subatomaren Bereich zeigt sich, dass unsere oft harten Wirklichkeitskonstruktionen eher illusionär sind und die Frage aufwerfen, warum wir gelegentlich mit kontradiktorischen Gegensätzen arbeiten möchten. Es überrascht eher nicht, dass Werner Heisenberg von seiner experimentellen Erfahrung her Interesse an Goethes Farbenlehre entwickeln konnte. Im Kern der Realität gibt es keine kontradiktorischen Gegensätze, so etwa zwischen Quantitäten und Qualitäten, sondern immer nur Übergänge und das Zugleich verschiedener Möglichkeiten. Mithin kehrt die Physik mit der Quantenphysik aus einer Außenperspektive betrachtet zur allgemeinen Vernunft des Abendlandes zurück, und wird dort – mit Ausnahme der auf harte Fakten pochenden Behandler – gerne begrüßt. In diesem Zusammenhang dürfte es sehr spannend sein zu sehen, welche Möglichkeiten Handolls Buch für die Osteopathie erschließen wird – und welche potency sie tatsächlich besitzt.
PD Dr. Martin Pöttner
Christian Hartmann
Heidelberg/Pähl, 2004
Vorwort
Wir sind gewöhnlich mit zwei Konzepten konfrontiert: Zunächst mit linearen Konzepten, die aus logischen Schlussfolgerungen entstehen, sodann mit nicht-linearen Konzepten, die Sprünge in den Schlussfolgerungen, in der Überzeugung und der Wahrnehmung erfordern können. Wir brauchen beide Konzepttypen, um die Welt um uns herum zu erfassen, wie Nicholas Handoll in Die Anatomie der Potency eindrücklich vorführt. Wir müssen sowohl die Physik Newtons als auch die Quantenphysik verstehen. In der Praxis der Kranialen Osteopathie verhält es sich entsprechend. Wir müssen die wesentlich linearen Konzepte der Anatomie und Physiologie verstehen. Genauso essenziell sind die nicht-linearen Konzepte, die von der Energie handeln, welche das System zusammenhält und ausführt.
Insofern sind die Lehrenden der Osteopathie im kranialen Bereich fortwährend darum bemüht, die Studierenden mit einem Verständnis der differenzierten Teile und der Werkzeuge zu versorgen, mittels derer das Ganze erfahren werden kann. In Die Anatomie der Potency vollzieht Handoll beides. Auf liebenswürdige und humorvolle Weise führt er unsere intellektuelle Aufmerksamkeit von den Details hin zu einer umfassenden Perspektive. Aufgrund der Fülle von Informationen und Einsichten, die jenseits unseres gewöhnlichen Wissens liegen, lockert das Buch sanft die Grenzen unserer denkerischen Erfassung und Erfahrung der Sachverhalte.
Handoll wird durch eine dramatische Erfahrung nicht-linearer Realität dazu motiviert, das gegenwärtige Wissen der Quantenphysik verständlich darzustellen. Vor diesem Hintergrund versucht er folgende Fragen zu beantworten: Worin besteht Realität? Was verstehen wir unter sinnlicher Wahrnehmung? Wie interagieren diese beiden Aspekte? Zudem bespricht er viele der scheinbaren Absurditäten und Kontroversen in der Kranialen Osteopathie, die sich auf die Mechanik und auf die implizierte Dynamik beziehen. Dabei bringt er seine eigenen Interpretationen dieser Sachverhalte zum Ausdruck. Seine Interpretationen gründen auf soliden Schlussfolgerungen und Beobachtungen. Sie verdienen unsere sorgfältige Beachtung.
Dieses Buch ist allen zu empfehlen, die jemals ihre Hände auf einem Patienten platziert haben und dabei über die Fähigkeit des Lebens zu agieren staunten – und den Wunsch spürten, den Prozess besser zu verstehen. Mit anderen Worten: Ich empfehle dieses Buch allen, die Osteopathie praktizieren.
Hinführung
Die Anatomie der Potency ist der Versuch des Autors, seiner Erfahrung in der Praxis einen verständlichen Sinn