Nicholas Handoll

Die Anatomie der Potency


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erklärt werden kann. Wir müssen uns davor hüten eine Frage zu stellen und sofort festzulegen, in welchen Begriffen die Antwort erfolgen soll. Beispielsweise lassen sich die Umlaufbahnen der Planeten um die Sonne nicht nur mit der Newtonschen Mechanik erklären. Um dies zu erfassen, musste Einstein eine andere Perspektive darauf einnehmen. Entsprechend muss auch eine andere Perspektive bei der Erklärung des Primären Respiratorischen Mechanismus gewählt werden.

      Dieses Buch versucht genau dies zu beschreiben. Es basiert auf der rezipierten und verarbeiteten Weisheit zahlreicher Autoren. Ich hoffe, dass ich sorgfältig auf sie Bezug nehme. Der Zugang in diesem Buch beginnt nicht dort, wo ich selbst begonnen habe. Ich habe bei der Darstellung einen Zugang gewählt, der es anderen Menschen hoffentlich erlaubt, die dargelegten Sachverhalte leichter zu verstehen als dies bei mir der Fall war. Ich hoffe, dass ich etwas von dem enormen Reiz mitteilen kann, der sich mir geboten hat.

      1939 veröffentlichte William Garner Sutherland, ein Osteopath aus Mankato, Minnesota, in den Vereinigten Staaten, eine bescheidene Studie mit dem Titel Die Schädelsphäre2. Darin stellte er den damaligen Stand seiner Hypothese vor, nach der sich das Gehirn unwillkürlich und rhythmisch im Schädel bewegt. Er behauptete anfangs, dass diese unwillkürliche rhythmische Bewegung die Dilatation und Kontraktion der zerebralen Ventrikel einschloss, welche die zirkulierende Aktivität der Zerebrospinalen Flüssigkeit beeinflusste. Dies beeinflusst die Bewegung der Membrana arachnoidea und der Dura mater, was wiederum eine Beweglichkeit in den Gelenkverbindungen an der Schädelbasis bedingt.

      In den folgenden 15 Jahren verfeinerte Sutherland seine Hypothese und entwickelte sie weiter. Sie ist in den Transkriptionen seiner Vorträge in Einige Gedanken und Unterweisungen in der Wissenschaft der Osteopathie3 zugänglich. Daraus entstand schließlich die Hypothese eines Primären Respiratorischen Mechanismus (PRM). Danach umfasst der PRM fünf Komponenten: die Beweglichkeit der Schädelknochen, die Beweglichkeit des Sakrum zwischen den Ilia, die reziproke Spannung der kranialen und spinalen Dura mater, die Motilität des Zentralen Nervensystems und die Fluktuation der Zerebrospinalen Flüssigkeit.

      Sutherland entwickelte die Überzeugung, dass der PRM nicht so sehr auf das Gehirn, sondern vielmehr auf eine Eigenschaft der Zerebrospinalen Flüssigkeit zurückzuführen sei. Er bezeichnete sie lebendig als „Flüssiges Licht“ und „ATEM DES LEBENS“ und gewann die Überzeugung, dass es sich dabei um einen wesentlichen Teil des Lebens und der Physiologie handele. Als er seine Lehrtätigkeit ausdehnte, führte er seine Studenten in Techniken ein, die ihnen halfen, ihre Kunstfertigkeiten zu entwickeln. Er selbst setzte die Erforschung des Ursprungs und der Charakteristika des entdeckten Phänomens fort.

      Sutherland hatte Osteopathie bei Dr. Andrew Taylor Still studiert. Er bestand darauf, dass sein [Kraniales] Konzept ausschließlich eine Entwicklung jener Prinzipien der Osteopathie darstellte, die sich Dr. Still 1874 erschlossen. Still war 1828 als Kind einer frommen Methodistenfamilie in Virginia, USA, geboren worden. Er diente im Amerikanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Union und ließ sich schließlich als ärztlicher Behandler der Gemeinde in Kirksville, Missouri, nieder. 1864 erschütterte eine Serie von Todesfällen in seiner Familie sein Vertrauen in jene primitiven Medikamente, die dem Behandler zu seiner Zeit zur Verfügung standen. Daher suchte er nach alternativen Wegen, um für seine Patienten zu sorgen. So kam er zum Verständnis der Bedeutung, welche die Mechanik für die Gesundheit des Körpers hat.

      Die menschliche Mechanik bestimmt die Bewegung des Körpers. Wenn der Körper sich wie eine gut geölte und gut abgestimmte Maschine leicht und frei bewegt, dann läuft er besser und problemloser, kann seine Funktionen optimaler ausführen und ist in der Lage sich wirksamer bei Krankheiten selbst zu reparieren. Die mechanische Behandlung hat in vielen Kulturen weltweit in irgendeiner Form überlebt. Doch die formalisierteren Gesundheitsprofessionen der Westlichen Kultur tendieren eher zur Biochemie als zur Biomechanik in der Gesundheitspflege, insofern ursprünglich Kräuter, Infusionen und zuletzt elaborierte Medikamente verwendet werden. Zur Zeit Stills verschrieben die Ärzte Aderlässe, Blutegel, Gifte und Alkohol – nicht selten in heroischen Mengen.

      Still hörte damit auf, diese Substanzen zu verschreiben, und begann mit seinen Händen zu diagnostizieren und zu behandeln. 1892 eröffnete er eine Schule, um diese Methode zu lehren. Er hinterließ kein Rezept für seinen Zugang zur Gesundheitspflege. Er stellte keinen Prozess oder eine Prozedur dar, der zu folgen war. Stattdessen hinterließ er Prinzipien.

      Hier kann nur ein sehr kurzer Überblick über die Prinzipien der Osteopathie gegeben werden. Still erkannte, dass der Körper mit frischer Luft, frischem Wasser und frischer Nahrung basal versorgt sein muss, um ihm die gesamte Palette der Ernährung zu bieten, die er benötigt. Wenn diese basale Versorgung vorhanden sind, lassen sich Still zufolge drei bedeutende Prinzipien formulieren: die Einheit des Körpers, die wechselseitige Beziehung von Struktur und Funktion sowie das Prinzip, dass der Körper ein sich-selbst-heilendes, sich-selbst-regulierendes und sich-selbstanpassendes System darstellt.

      DIE EINHEIT DES KÖRPERS: Es handelt sich um die schlichte Einsicht, dass der Körper eine Einheit darstellt und als ein einzelnes, integriertes System konzipiert ist. Alles, was in einem Teil geschieht, hat Auswirkungen für das Ganze.

      DIE WECHSELSEITIGE BEZIEHUNG VON STRUKTUR UND FUNKTION: Die Integrität der Struktur des Körpers unterstützt die wirksame Ausführung seiner Funktion. Umgekehrt unterstützt die Wiederherstellung der Funktion die Regeneration der Struktur. Beispielsweise stellen viele Aspekte der internen Struktur und der externen Topografie der Knochen eine Widerspiegelung ihrer Funktion dar.

      DER KÖRPER IST EIN SICH-SELBST-HEILENDES, SICH-SELBST-REGULIERENDES UND SICH-SELBST-ANPASSENDES SYSTEM: Der gesunde Körper stellt einen komplexen sich-selbst-regulierenden Organismus dar, der die Gesundheit aufrechterhält. Im kranken Zustand strebt der Körper kontinuierlich zur Verbesserung der Situation. Mithin sind alle Veränderungen, die der Körper selbst initiiert, auf die Gesundheit gerichtet. Er kann also nicht von sich aus zur Krankheit tendieren. Wir hätten als Art nicht überlebt, wenn unser Körper sich nicht derart um uns sorgte.

      Viele Aspekte von Stills Botschaft lassen sich durch die Feststellung zusammenfassen, dass sich die Osteopathie nicht ausschließlich mit der Identifikation und Behandlung von Krankheit beschäftigt. Sie befasst sich eher mit der Identifikation einer Krankheit in einem bestimmten Patienten, insofern dabei bewusst bleibt, dass der Körper eigene Mittel zur Wiederherstellung der Gesundheit besitzt, wenn er die Chance dazu bekommt. Mithin besagt die Anerkennung dieses Sachverhalts, dass die körperlichen Gesundheitsmechanismen Unterstützung benötigen, um wirksamer zu funktionieren. In diesem Sinne arbeitet die Osteopathie mit dem Körper, mit der Gesundheit des Körpers – und der Osteopath hat die Aufgabe, diese Gesundheit zu entdecken. „Der [osteopathische] Arzt sollte die Gesundheit finden“, sagte Still, „jeder kann die Krankheit finden!“4

      Sutherland übernahm die Ideen Stills und entwickelte sie weiter. Seine zentrale Botschaft besteht darin, dass der Körper selbst die Möglichkeit haben sollte, seine Veränderungen von innen heraus zu vollziehen – anstelle Gegenstand erzwungener Veränderungen von außen sein zu müssen, selbst wenn diese gut gemeint sind. Der Körper weiß, was er will. Und jede Veränderung, die er selbst vollzieht, wird ihm mehr dienen und angemessener sein als alle übrigen.

      Bevor wir fortfahren, müssen wir einige Punkte klären, die den Studierenden häufig unnötiges Kopfzerbrechen bereiten. Was verstand Sutherland unter dem Begriff „Respiration“? Was verstehen wir unter „Bewegung“? Schließlich: Woher wissen wir, dass es eine Bewegung im Knochen gibt? Mit anderen Worten: Worin bestehen die mechanischen Eigenschaften von Knochen?

      Dorlands Medizinisches Wörterbuch definiert „Respiration“ als „den Akt bzw. die Funktion des Atmens; den Akt, mittels dessen Luft von den Lungen eingesogen und ausgestoßen wird“5. Dies bezieht sich auf die thorako-diaphragmatische Respiration, die Sutherland als „sekundäre Respiration“ bezeichnete. Gleichwohl ist die Respiration nicht auf die Lungen begrenzt. Die Zellen selbst respirieren