Nicholas Handoll

Die Anatomie der Potency


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verwendet“6 – oder in nicht sauerstoffabhängiger Respiration, „der Form der Respiration, bei der Energie mittels chemischer Reaktionen ohne freien Sauerstoff freigesetzt wird“7. Es geht hier wesentlich darum, dass die Respiration mit der Freisetzung von Energie beschäftigt ist.

      Sutherland befasste sich mit der Respiration auf der zellulären Ebene, mit der mechanischen Ausführung der physiologischen Respiration bzw. der Freisetzung von Energie beim Stoffwechsel. In einem Vortrag von 1953 bezog sich Sutherland auf Dr. Harold I. Magouns Definition der Respiration, in der er physiologische Respiration als zellulären Stoffwechsel beschrieb8. Gesundes lebendiges Gewebe besitzt eine eigene Qualität. Es fühlt sich so an, als ob jede einzelne Zelle respiriere, als ob sie einatme und ausatme. Wir können ertasten, wenn die Körpergewebe sich nicht in einem angenehmen Zustand befinden – als ob die Respiration mühevoll oder schwierig sei. Ebenso können wir ertasten, wenn sie wieder befreit wurden. Es fühlt sich so an, als ob die Zellen lebendig würden. Sie scheinen einzuatmen und auszuatmen. Sie lächeln Sie an und sie beginnen damit die Bewegung auszuführen, für deren Ausdruck sie ursprünglich entworfen worden sind. Genau darum geht es bei der Primären Respiration in Sutherlands Konzept.

      Gleichwohl ist dazu noch mehr zu sagen. Sutherland sprach zugleich vom „Funken“, der ein Lebewesen im Leben beseelt. Diesen nannte er „ATEM DES LEBENS“, der so lange wirkt wie das Leben selbst besteht. Er interpretierte die Zerebrospinale Flüssigkeit als „fundamentale Einheit“ des PRM und verglich sie im Prinzip mit einem Koaxialkabel, das einen zentralen isolierten Kupferdraht enthält und von einer Kupferröhre umgeben ist. Das Kabel vermag zur selben Zeit Tausende von Botschaften „nur mittels der elektrischen Spannung im Raum bzw. Feld zwischen den beiden metallischen Elementen“9 zu übertragen. Damit nahm er auf etwas jenseits der Struktur Bezug. Ich erwähnte oben, meine Erfahrung spreche dafür, dass die Quelle des PRM nicht dem Körper innewohnt. Es besteht eine Beziehung zwischen dem Körper und etwas anderem. In diesem Austausch besteht der fundamentale Respiratorische Mechanismus, den Sutherland entdeckte. Er wird detaillierter in den folgenden Kapiteln erörtert.

      Was empfindet ein Osteopath, wenn sie oder er den Primären Respiratorischen Mechanismus ertastet? Er empfindet eine unwillkürliche rhythmisch fluktuierende Bewegung, die überall im Körper festgestellt werden kann. Sie umfasst die von Sutherland so genannte Flexion und Extension der medialen Strukturen bzw. die Außenrotation sowie Innenrotation der bilateralen Strukturen. Wie können wir plausibilisieren, dass diese Bewegung existiert? Es gibt verschiedene Experimente, die belegen, dass eine Bewegung existiert. Aus meiner Sicht ist aber keines eindeutig. Allerdings ist es bloß von akademischem Interesse, ob die Empfindung eines Osteopathen mit objektiver reproduzierbaren Mitteln als der Palpation erforscht und so als belegbar interpretiert werden kann. Entscheidend ist dies aus einer klinischen Perspektive nicht. Klinisch ist ausschlaggebend, was der Praktiker interpretiert.

      Wir müssen dasjenige, was wir primär empfinden, als so genannte Bewegung interpretieren. Der Körper fühlt sich so an, als ob er sich bewege. Es handelt sich um eine Reaktion im sensorischen Kortex des Behandlers auf eine physiologische Affizierung seitens des Körpers des Patienten. Ob dieser sich in einem gewöhnlichen Verständnis bewegt oder nicht, ob es sich dabei um eine Veränderung der Materie von einer Position im Raum zu einer anderen handelt, mag zwar von akademischem Interesse sein. Klinisch ist dies freilich nicht sehr relevant. Klinisch bedeutungsvoller ist der taktile Eindruck der palpierenden Finger des Behandlers. Wir nehmen eine Qualität wahr. Dem Palpieren erschließt sich eine Qualität der Gewebe, die als eine stetige, regelmäßige Fluktuation erscheint. Es fühlt sich so an, als ob die Gewebe im gesamten Körper auf eine langsame Kraft von Ebbe und Flut reagieren.

      Die Hypothese Sutherlands ermöglicht eine Interpretation der klinischen Erfahrung und hilft dabei, einen therapeutischen Erfolg zu prognostizieren. Wenn zukünftig mit hinreichend empfindlichen Instrumenten objektiv und eindeutig bewiesen werden könnte, dass es keine irgendwie geartete Bewegung gibt, würde sich unsere Empfindung immer noch nicht ändern. Denn wir fühlen den Index einer Aktion. „Bewegen“ und „Bewegung“ sind die zurzeit besten Worte, die wir haben, um unsere Empfindung zu beschreiben und einen Ausdruck für die Aufgabe der Lehre zu finden. Wenn irgendwann gezeigt werden kann, dass es keine Bewegung gibt, werden wir neu darüber nachdenken müssen, was es mit der sinnlichen Erfahrung auf sich hat. Es könnte sich beispielsweise um ein bislang unbekanntes physiologisches Phänomen handeln. Um Verwirrung zu vermeiden, gelten daher in diesem Buch Wörter wie „Bewegung“, „bewegen“ bzw. „Fluktuation“ als Zeichen für dasjenige, das wir als „Bewegung“, „bewegen“ und „Fluktuation“ interpretieren.

      Knochen sind nicht steif. Der lebendige Knochen ist flexibel, geschmeidig und plastisch. Es handelt sich nicht um das trockene, starre Exemplar aus unserem anatomischen Labor. Ein trockener, toter, brüchiger Zweig auf dem Waldboden weist auch nicht die gleiche Struktur wie das flexible und geschmeidige Exemplar auf, das sich zuvor am Baum befand. Beim Knochengewebe handelt es sich um eine visköse, biphasige, nachgiebige und elastische Substanz wie Fiberglas10ist. Es absorbiert verformend wirkende Kräfte, gibt nach und nimmt wieder die ursprüngliche Form an. Darin besteht hauptsächlich seine Stärke. Denn vollständige Starrheit ließe den Knochen brüchiger werden. Eine erheblich größere Masse und Menge wäre erforderlich, um dieselbe Stärke zu erreichen. Das Knochengewebe ähnelt in seiner Flexibilität eher Stahl als Eisen.11 Die gelungene Mischung harter anorganischer und nachgiebiger organischer Komponenten im Knochen leistet ungefähr den gleichen Widerstand gegenüber Druck und Spannung12. Man kann das ganz einfach messen. Die Verformung der Tibia durch die Kontraktion des M. tibialis anterior kann beispielsweise mit gängigen Instrumenten beobachtet werden13.

      Knochen erweist sich als hoch vaskularisiertes, lebendiges, sich fortwährend veränderndes, mineralisiertes Bindegewebe14. Es besteht aus Zellen, die in einer amorphen und faserigen organischen Matrix eingebettet sind. Diese Matrix ist von anorganischen Knochensalzen durchzogen15. 20 % des Gewichtes der Grundsubstanz bestehen aus Wasser. 30 bis 40 % des Trockengewichtes besteht aus organischem Material, hauptsächlich aus Kollagen. Bei 60 bis 70 % handelt es sich um anorganische mineralische Salze wie Kalzium, Magnesium, Phosphat und Karbonat16. Die mineralischen Bestandteile des Knochens lassen sich durch schwache Säuren auflösen. Der verbleibende organische Knochen erhält seine Form, ist jedoch höchst flexibel, kann mit einem Messer durchgeschnitten werden und lässt sich verknoten17. Das Vertrocknen von Knochenexemplaren belegt einen fortschreitenden Verlust der mechanischen Charakteristika lebendiger Knochen wie Elastizität, plastische Verformung sowie druck- und spannungsbezogene Eigenschaften. Wenn der Knochen freilich feucht gehalten wird, behält er einige seiner lebendigen mechanischen Eigenschaften18.

      Die aus ossifizierter Haut entstandene Form der Knochen des Schädeldaches teilt als Invasion mineralischer Salze in der Mitte der mesenchymatösen Schicht des embryonalen Schädels die Membran in zwei Bereiche. Die äußere Schicht wird zum Periost des Schädeldaches und die innere Schicht wird zur intrakranialen Dura mater. Bei der Sektion eines frühgeborenen Embryos kann ein Os parietale wie bei einer Tasche aus seinem meningealen Einschluss herausgezogen und wieder hineingesteckt werden19. Knochen sollten daher als verfestigte Membrane verstanden werden, die dem Körper Form verleihen – wie dies bei einem Bügel an der Garderobe der Fall ist, der den Kleidungsstücken Form verleiht. Die Knochen des Schädeldaches, die Gesichtsknochen, die Mandibula und die Clavicula ossifizieren auf diese Weise unmittelbar aus Membranen. Demgegenüber werden die Schädelbasis und das übrige Skelett in Knorpel vorgeformt. Gleichwohl erlaubt der Knochen auch nach der Ossifikation sämtliche Bewegungsmuster, die in der knorpeligen Form möglich waren. Ungeachtet dieser Plastizität besitzt der Knochen jedoch allein nicht genügend Flexibilität, um den körperlichen Erfordernissen zu entsprechen. Daher sind Scharniere vonnöten. Diese Scharniere werden als Gelenke und Suturen bezeichnet.

      Die üblichen [anatomischen] Lehrtexte verwenden einen beachtlichen Anteil darauf, die Flexibilität und Elastizität der Knochen zu betonen, zugleich aber betonen sie möglicherweise mit dem gleichen Aufwand