Anschließend begehrten sie danach wieder auszuatmen, wobei sie in einigen Bereichen leichter zurückgingen als in anderen. Dann atmete der Körper überall in seiner ganzen Gestalt erneut ein. Mir schien es so, als ob dies selbstgesteuert vor sich gehe.
Ich begriff bald, wann es Zeit war aufzuhören und den Körper alleine dasjenige Ziel der Veränderungen suchen zu lassen, worauf er hinauswollte.
Ich war sehr daran interessiert herauszufinden, was dabei geschah. Ich las, was mit vor die Augen kam. Ich überprüfte meine Anatomiekenntnisse. Meine Physiologiebücher stellten dabei keine große Hilfe dar. Wenn ich meine Patienten palpierte, spürte ich, dass das Zentrale Nervensystem (ZNS) und die Zerebrospinale Flüssigkeit (ZSF) wesentlich an der Quelle des Primären Respiratorischen Mechanismus beteiligt waren.
Das Zentrale Nervensystem fließt in der Zerebrospinalen Flüssigkeit und reagiert mit ihr als eine Einheit, so als ob es ein Teil von ihr wäre. Das spezifische Gewicht des Gehirns beträgt ungefähr 1,04, während das spezifische Gewicht der Zerebrospinalen Flüssigkeit ungefähr 1,007 ausmacht. Daher ist das Gehirn, das an der Luft über 1500 Gramm wiegt, mit einen Gewicht von 50 Gramm gleichmäßig in der ZSF aufgehängt. Man sagt, dies sei der Fall, um das Gehirn vor physischen Erschütterungen zu schützen. Das ist zweifellos zutreffend. Doch der wesentliche funktionale Punkt wird damit verfehlt. Das Gehirn schwebt nahezu ohne Gewicht in der ZSF, folglich arbeiten Gehirn und ZSF mechanisch als eine Einheit zusammen. Gehirn und ZSF bewegen sich und reagieren so, als ob sie ein und dasselbe seien.
Gleichwohl ermöglicht es der geringe Unterschied im spezifischen Gewicht der Beiden, dass durch Palpation gefühlt werden kann, ob es sich um die Bewegung des Gehirns oder um die Bewegung der ZSF handelt. Für mich fühlt es sich nicht so an, als treibe das ZNS den Mechanismus an. Das Gewebe des Gehirns besitzt wahrscheinlich keine hinreichende Zähigkeit. Das ZNS hat aus meiner Wahrnehmungsperspektive keine eigene Kraft. Aus meiner Sicht ist das ZNS daher passiv. Mir erscheint es vielmehr so, dass die Bewegung aus der ZSF stammt. Sutherland pflegte zu sagen, dass die bewegende Kraft von der ZSF komme. Gleichwohl erschien es mir, als ich versuchte, diese Lebenskraft zu ertasten, immer deutlicher, dass sie nicht von der ZSF komme. Es schien eine antreibende Kraft jenseits von ihr zu geben, die durch die ZSF kam.
So drängte sich mir der unausweichliche Schluss auf, dass irgendetwas anderes diesen Mechanismus antreibt. Worum es sich auch handelte, es induzierte offensichtlich eine Fluktuation im Körper, wie dies Sutherland beschrieben hatte. Meine Empfindungen entsprangen wahrscheinlich nicht aus mir selbst oder waren bloß eingebildet. Denn trotz ihrer Art als konsistente und (wieder)erkennbare Bewegung handelte es sich bei jedem Patienten immer um einen einzigartigen Ausdruck und Charakter. Wenn sich eine Veränderung ereignete, wurde sie von mir nicht bewusst induziert oder geleitet. Ich hatte auch nicht die Absicht, dass sie irgendwann oder irgendwo im Körper stattfinde. Häufig wurde ich davon überrascht, was passierte. Dies ist auch heute noch so. Doch was trieb diesen Mechanismus an? Was verursachte seine Veränderung und worin bestand die Quelle seiner Energie?
Bald verstand ich, dass es an der Zeit sei loszulassen und den Körper alleine diejenigen Veränderungen vollenden zu lassen, die er vollziehen wollte.
Ich fragte Dr. Rollin Becker um Rat. Becker war Schüler Sutherlands und sehr mit ihm vertraut. Beckers Vater war Schüler von A. T. Still und hatte später mit ihm gemeinsam an dessen Schule in Kirksville gelehrt. Rollin Becker befasste sich also schon früh mit der osteopathischen Philosophie. Rollin Becker war einer der wenigen Behandler, gegenüber denen es sich Sutherland erlaubte, seine Gedanken und Ideen hinreichend frei zu äußern. Er glaubte, dass Becker verstehen könne, was er auszudrücken versuchte. Becker war ein inspirierender Lehrer, der mittels Beispielen lehrte. Allerdings war er für seinen sparsamen Umgang mit Worten bekannt. Einer seiner besten Freunde und Kollegen beschrieb sein Verhalten gegenüber Kranken liebevoll als das einer Kobra. Als ich ihn über die Quelle des Primären Respiratorischen Mechanismus befragte, lautete sein charakteristisch „exaltierter“1 Rat: „Beschäftigen Sie sich mit Quantenmechanik!“ Das war alles. So war Becker. So lautete sein Rat. Und nun fangen Sie etwas damit an.
Ich kämpfte weiter um eine verständliche Interpretation meiner Palpation. Schließlich machte ich ohne Vorwarnung eine fremdartige und unerwartete Erfahrung: Eines Nachmittags saß ich während einer Besprechung in einem Raum. Ich lehnte mich mit meinem Stuhl so weit gegen die Wand, bis ich spürte, dass die Lage so bequem war, dass ich mich nicht mehr bewegen wollte. Ich war keineswegs schläfrig, sondern sehr, sehr wach. Plötzlich veränderte sich der Raum. Alles Feste umher war nicht mehr fest. Der Tisch, der Stuhl, die Wände waren nicht mehr fest und starr, sondern ein weiches Gallert. Das Gebäude war beweglich und breiig. Die Granitwände des gegenüberliegenden Gebäudes, das ich durch das Fenster sah, erschienen mir wie Gazegardinen, die von einem Windhauch bewegt wurden. Der gesamte materielle „Stoff“ um mich her, auch ich selbst und die anderen Menschen im Raum, tauchte unter und floss wie eine Qualle im Meer. Ich empfand, dass wir alle völlig der Macht der Wellen und Strömungen unterworfen waren, die uns umgaben und von denen wir hochgehoben und herumgewirbelt wurden. Die gesamte Realität um mich war einer enormen Energie von unglaublicher Kraft unterworfen, sodass unsere armseligen Gebäude im Angesicht einer letzten Realität unbedeutend wurden. Wir kommen von ihr her und hängen ganz von ihr ab. Ich saß gebannt da und beobachtete – oder fühlte eher wie bei einer Innenwahrnehmung – die überwältigende Energie, Kraft und Macht. Wir schwammen unter Wasser, ganz einbezogen in die Quelle aller Dinge. Es gab kein Oben, kein Unten, bloß Überall.
Mir schien dies zehn Minuten zu dauern, obwohl es wahrscheinlich nur zwei waren. Ich wollte nicht, dass es aufhört. Doch langsam begann die Wahrnehmung zu verblassen und schließlich erfasste die gewöhnliche Realität mein Bewusstsein. Ich hörte die Menschen noch sprechen, aber ich war ganz still. Was war das? Was hatte sich da ereignet? Ich hatte den Eindruck, eine [von der Alltagserfahrung] verschiedene, tiefere Ebene der Realität erfahren zu haben. Mir drängte sich die merkwürdige Empfindung auf, als wolle mir jemand etwas zeigen. Mir war ein kurzer Blick hinter den Vorhang gewährt worden.
Wie konnte ich dies erforschen? Ich musste diese Bewusstseinsebene erneut erreichen und herausfinden, was sie bedeutete. Zwar hatte ich nicht gerade eine Folge des Films Star Wars gesehen. Doch war es unmöglich, die Worte „Die Macht umgibt dich überall!“ nicht zu hören. Irgendwie wusste ich nun, dass die Kraft des Primären Respiratorischen Mechanismus ihren Ursprung nicht innerhalb des Körpers hatte.
Ich kämpfte darum, die Bedeutung jener Erfahrung herauszubekommen. Es galt herauszufinden, was uns funktionieren lässt. Darauf reagierte Dr. Beckers Rat: „Beschäftigen Sie sich mit Quantenmechanik!“ Ich legte die gewöhnliche wissenschaftliche Literatur beiseite, um eine Erklärung dafür zu finden, was geschehen war, und eine Verstehenshilfe für zumindest einen Aspekt der überwältigenden Erfahrung zu bekommen. Ich wusste überhaupt nichts über Quantenmechanik. Folglich musste ich ins Wasser springen und schwimmen lernen.
Durch meine Lernerfahrung verwandelte sich wesentlich meine Wahrnehmung dessen, was ich für meine Patienten tun kann – und die Resultate scheinen dies zu bestätigen. Ich bin in der Lage, eine größere Palette von Fällen zu behandeln. Ich erreiche eine tiefere Ebene als zuvor. Bei den Patienten zeigt sich keine Neigung zu rezidivierenden Symptomen. Ihre Symptome verbessern sich nicht bloß, sondern sie fühlen sich wohl. Ich habe den Eindruck, dass ich eine tiefere Ebene der Physiologie des Körpers als zuvor erreiche, um es dem Körper besser zu ermöglichen, das zu tun, was er will und braucht.
Gleichwohl gibt es keinen magischen Schalter. Es gibt kein besonderes Geheimnis, das erschlossen werden müsste, damit dies funktioniert. Es gibt keinen Heiligen Gral einer unbekannten Kraft. Die Arbeit besteht in der Anwendung eines gründlichen Wissens in Anatomie, Physiologie und Mechanik. Sie erfordert Konzentration, Praxis und die Entschlossenheit etwas zu entdecken, was jenseits des Horizonts liegt. Mein eigener Horizont befindet sich immer noch so weit von mir entfernt wie immer. Doch in der Retrospektive habe ich unterschiedliche Horizonte durchschritten. Jetzt akzeptiere ich, dass ich niemals den letzten Horizont erreichen werde. Er wird sich stets so entfernt von mir befinden wie immer. Mir ist die Einsicht erschlossen, dass es stets mehr zu verstehen und zu entdecken gibt. Dies ist ein beachtlicher Anreiz und Ansporn. Nicht zuletzt ist es schön zu wissen, dass ich niemals gelangweilt sein