dem er seine Wohnung am östlichen Ende der Dorotheenstraße zu verlassen gedachte, um sich - wie so oft des Nachmittags - mit seinem Freund, dem Mediciner Doktor Friedrich Kußmaul, im Café Stehely dem Vergnügen eines geistreichen, mitunter auch ins bloße Plaudern oder in die Erörterung eines interessanten Criminalfalls abgleitenden Disputs hinzugeben. Im berüchtigten und zu dieser Jahreszeit angenehm kühlen Roten Zimmer bei Stehely mangelte es nie an Gesprächsstoff und -partnern - ebenso wenig wie an unerwünschten Zuhörern. Das Spitzel- und Denunziantenunwesen, dessen Ende man bei der Krönung von Friedrich Wilhelm IV. vor vier Jahren erhofft hatte, stand in giftiger Blüte, und die hochmütigen Äußerungen des gleichermaßen kunstsinnigen wie redseligen und bigotten Königs ließen kaum eine Änderung erwarten.
Der Major von Gontard, als einer der Enkel des berühmten gleichnamigen Baumeisters aus altem hugenottisch-preußischem Adelsgeschlecht stammend, hatte seine eigenen Erfahrungen mit den Agenten des Doktor Wiesenburg gemacht, des obersten Herrn der behördlichen Zuträger. Bei allem Interesse, das Gontard aus Passion dem Verbrecherischen entgegenbrachte, reizte ihn das von Wiesenburg und seinen Kundschaftern überwachte Gebiet der politischen Criminalität allenfalls zu gehörigem Widerspruch. Den behielt er klugerweise für sich, oder er ließ allenfalls im vertraulichen Gespräch mit Kußmaul oder einem ähnlich Vertrauten durchblicken, was er dachte. Preußen war eben trotz seiner gewaltigen Ausdehnung zwischen Memel hoch oben im Nordosten und Kleve weit im Westen die enge, beschränkte Monarchie geblieben, die ihre Untertanen zu gängeln pflegte.
Gontard kleidete sich also nach dem vormittäglichen Unterricht und einer hitzigen Übungsstunde auf dem Fechtboden gerade um, als ihn die Nachricht des Directors der Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule überraschend in den Neuen Marstall rief. Das mächtige Gebäude mit seiner barocken Fassade zu den Linden hin, in dessen Obergeschoss die Königliche Akademie ihren Sitz hatte, erstreckte sich im ausgedehnten Geviert neben der Universität bis hin zu den weniger prächtigen Bauten in der verlängerten Dorotheenstraße und war von Gontards Quartier aus bequem mit wenigen Schritten zu erreichen. Mehrmals hatte Gontard versucht, seinen Hengst Waldemar in dem so günstig gelegenen Stall unterzubringen, war jedoch an den rigiden Bestimmungen gescheitert. Nur Prinzen und Hofschranzen von Geblüt sowie wenigen auserwählten Eximierten, also über das gemeine Volk Erhabenen, wurde das Einstellen ihrer Reit- und Kutschpferde gestattet. Dass ausgerechnet sein Kollege und erklärter Widersacher Aemilius von Elster, genannt von Streyth, zu diesen Bevorzugten gehörte, hatte ihn von jeher geärgert, aber gerecht ging es nun einmal nicht zu in dieser Welt - und schon gar nicht in Preußen.
Der Oberst-Lieutenant von Streyth, dessen Namen der wortkarge Rittmeister als Opfer eines blutigen Vorfalls im Marstall genannt hatte, gehörte wahrlich nicht zu jenen Personen, denen Gontard besondere Sympathie entgegenbrachte. Vier Jahre zuvor, in ebenjenem Hoffnungsherbst nach dem Tode von Friedrich Wilhelm III., war Gontards junger Freund und Kollege, der hoffnungsvolle Wissenschaftler Gebhardt Heidenreich, das Opfer einer unsinnigen Mordtat geworden, und beinahe hatte es ausgesehen, als wäre der starrsinnige alte Militär von Streyth nicht ganz unbeteiligt daran gewesen. Gemeinsam mit Kußmaul war es Gontard schließlich gelungen, den wahren Mörder zur Strecke zu bringen. Sein ohnehin gestörtes Verhältnis zu dem allseits wenig geschätzten Oberst-Lieutenant aber blieb dauerhaft getrübt und drückte sich in gegenseitiger Nichtbeachtung aus.
Von Streyth, dem nicht allein nach Gontards Urteil jegliche Befähigung zur wissenschaftlichen Lehrtätigkeit abging, dem man jedoch nicht von ungefähr eine höhere Gönnerschaft im Herrscherhaus nachsagte, war nach einem gut einjährigen Urlaub auf seinen ostpreußischen Gütern zur Überraschung aller wieder auf seine alte Stelle an der Artillerieschule zurückgekehrt. Nun verstreute er seine ebenso bescheidenen wie antiquierten militärischen Kenntnisse über die jeweilige schläfrige Zuhörerschaft. In letzter Zeit hatten sich die Stimmen gemehrt, die seine endgültige Entfernung von der Schule forderten. Lag es daran, dass im Jahre 1843 eine gewisse Persönlichkeit verstorben war, die bis dahin die schützende Hand über den Oberst-Lieutenant gehalten hatte?
Es hieß allgemein, von Streyth sei vor zwei Jahren nur auf den dringenden Wunsch seiner jungen Gemahlin in die Residenzstadt zurückgekehrt. Eine einleuchtende Annahme, wie Gontard fand, der insgeheim viel mehr als jeder andere über jene Melitta von Streyth wusste, die einmal seinem Freund Heidenreich sehr nahe gestanden hatte.
Das alles ging ihm durch den Kopf, während er im Sturmschritt an der Wache in der Charlottenstraße vorbei zum Hintereingang des Neuen Marstalls eilte. Über dem Gebäude erhob sich noch immer der Turm der alten Sternwarte, den man für optische Telegraphie benutzte. Gemeinsam mit Heidenreich hatte Gontard an einem elektrischen System gearbeitet, das inzwischen auch ohne ihr Zutun seinen Siegeszug angetreten hatte. Wieder einmal war der wissenschaftliche Ruhm an ihm vorbeigegangen. Zumindest konnte er sich mit seinen Erfolgen bei der Aufklärung von Mordtaten darüber hinwegtrösten.
Hatte ihn von Schnöden deshalb benachrichtigt? Niemand dachte bei einem Unfall im Stall an einen Mord. Nur hatte der Rittmeister von einer Pistole gesprochen, die jemand in der Hand gehalten habe - wer auch immer es sein mochte. Vergeblich hatte Gontard versucht, eine klare Auskunft zu erlangen. Die würde er nun hoffentlich finden.
Die vertrauten Ammoniakdüfte des Pferdestalls ließen ihn keinen Augenblick zögern. Eilends durchschritt er die Gänge, bis er vor einem Nebengelass eine Ansammlung von Männern gewahrte, während zwei abgerissene Gestalten gerade damit beschäftigt waren, auf einer Bahre einen mit einer groben Decke bedeckten Körper davonzuschleppen. Dem Umfang nach konnte es sich durchaus um den Oberst-Lieutenant handeln.
»Halt, halt!«, rief von Gontard, während er warnend die Hand hob. Und tatsächlich ließen die beiden ihre Last sinken und setzten sie ab, worauf jemand in ärgerlichstem Ton ihnen befahl, gefälligst ihrer Pflicht nachzukommen.
Gontard kannte diese Stimme. Er war dem Criminal-Commissarius Werpel bereits mehr als einmal begegnet, ja gelegentlich auch mit ihm aneinandergeraten. Werpel sah es höchst ungern, dass sich ein blutiger Dilettant, und sei es im königlich-preußischen Rock eines Majors der Artillerie, in seine amtlichen Angelegenheiten einmischte - und noch dazu mit Erfolg. »Der Mann ist tot!«, stellte der Criminal-Commissarius auch diesmal mit einer Endgültigkeit fest, die Gontard innerlich sofort gegen ihn aufbrachte.
»Daran zweifle ich nicht«, sagte der im Näherkommen.
»Dennoch würde ich gerne einen Blick auf die Leiche werfen.«
Immerhin zögerten die beiden mit der Bahre.
»Das ist wahrlich nicht nötig«, wandte nun der Herr von Schnöden ein und schüttelte sich. »Kein angenehmer Anblick, versichere ich Ihnen, und ich habe so manchen Toten gesehen.«
Er reichte von Gontard zu dessen Überraschung die Hand und drückte sie fest. »Gut, dass Sie gleich gekommen sind.« Er senkte seine Stimme. »Ein schrecklicher Tod, vom eigenen Gaul niedergemacht zu werden. Überdies droht die Angelegenheit eine unangenehme Wendung für unser Institut zu nehmen …«
Werpel, der wohl glaubte, sich gegenüber einem Major gewisse Freiheiten erlauben zu dürfen, war klug genug, einen hohen Stabsoffizier wie von Schnöden nicht zu verärgern. Er schlug die Hacken zusammen, was auf dem strohigen Untergrund des Stalls wenig Effekt machte, und erklärte stramm: »Ich verlasse mich auf die Absprachen mit dem Herrn Generalmajor!«
Von Schnöden nickte ihm gnädig zu und sagte halblaut zu Gontard: »Und ich verlasse mich ganz auf Sie und die diskrete Aufklärung dieser leidigen Angelegenheit, mein lieber Herr Major. Ich hoffe, es gelingt Ihnen, dem Täter auf die Spur zu kommen.«
»Ich werde mir die größte Mühe geben«, versprach Gontard, der noch immer keine Ahnung hatte, was hier wirklich vorgefallen war.
Der Generalmajor nickte noch einmal aufmunternd und sagte stirnrunzelnd: »Mir bleibt die traurige Pflicht, der Witwe die Unglücksbotschaft zu überbringen.« Damit wandte er sich zum Gehen.
Gontard, grüßend, versuchte, sich mit einem Blick eine gewisse Übersicht über die Lage zu verschaffen. Da waren einerseits die Leichenträger, die es aufzuhalten galt, und da war andererseits der Criminal-Commissarius, der sich zu dem Rittmeister gesellt hatte. Der wiederum stand an der Bohlentür eines abgeteilten Raumes.