war der Polizist gar nicht mehr da.
Erst jetzt bemerkte er, dass er zitterte. Er musste nachdenken … Dazu würde er bald viel Zeit haben, wenn er in der Stadtvogtei saß. Aber würde er dort Ruhe finden? Wie viele Sünder saßen in so einer Zelle? Was hatten die anderen verbrochen?
Halt. Er hatte gar nichts getan. Allerdings gelang es ihm nicht, sich ein Zuchthaus voller Unschuldslämmer vorzustellen - schon gar nicht in Berlin. Manchmal, wenn er in der Dunkelheit durch die Straßen der Residenzstadt ging, fragte er sich bei manchen Leuten, wieso die frei herumlaufen durften. Wenn er es recht bedachte, wollte er lieber nicht daran denken, welche Art von Gesindel in der Stadtvogtei strandete.
Vielleicht sollte er einfach versuchen zu verschwinden. Aber wie? Aus der Kammer führte nur diese eine Tür, und er konnte nicht davon ausgehen, dass er nur den Türschieber zu betätigen brauchte, um hinauszuspazieren. Vor der Tür saß bestimmt eine Wache. Andererseits - wo blieb dieser Criminal-Commissarius? Hatte die Polizei ihn vergessen? Sollte er einfach die Tür öffnen und nachschauen?
Vielleicht war es besser, zunächst bei geschlossener Tür zu lauschen. Kirchner stand auf und schlich zu der aus groben Bohlen zusammengefügten Tür. Er legte das Ohr an das Holz und vernahm Stimmen. Da draußen sprachen Leute, eine Flucht kam also nicht in Frage. Er verstand kein Wort. Aber wenn er sein Ohr nicht an das Holz, sondern an den Schlitz der Schiebevorrichtung drücken würde …
Kirchner zögerte. Wenn plötzlich die Tür aufging und er daran klebte, wäre das sicher nicht geeignet, den Mordverdacht gegen ihn zu entkräften. Andererseits hatte der Polizist sich offenbar bereits festgelegt und hielt ihn für einen Verbrecher. Was also konnte er verlieren?
Er betrachtete den Schiebeknauf. Der stand mitten in der Fuge. Damit sein Ohr Platz an einer freien Stelle fand, musste er den Riegel ein wenig zur Seite schieben. Aber er durfte keine Geräusche verursachen.
Vorsichtig zog er an dem Riegel, Millimeter für Millimeter, bis genug Platz war. Dann presste er das rechte Ohr gegen den Schlitz.
»… ich denke, das haben Sie nicht zu entscheiden.«
Die Stimme kannte er. Kirchner überlegte, sicher kam er gleich darauf, wem sie gehörte.
»Ich gebe zu bedenken, sehr geehrter Herr Generalmajor, es handelt sich um Mord. Da ist es nun einmal meine Pflicht …«
»Ich trage die Verantwortung für die Angehörigen meines Instituts! Bei dem Lieutenant Kirchner handelt es sich um einen Studiosus der Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule. Er dient in der Armee des Königs und untersteht damit der Militärjustiz.«
Von Schnöden, der große Rektor persönlich - Kirchner wusste nicht, ob er sich über die Intervention des hohen Offiziers freuen sollte. Welch ein Aberwitz! Nur weil er einem in seiner Not schreienden Mann hatte helfen wollen, stand er im Blickpunkt der Polizei und eines Generals der preußischen Armee.
»Auch wenn es sich bei dem Verdächtigen um einen Studenten Ihrer Schule handelt, bleibt ein Mord ein Offizialdelikt.« Das klang fast nach Rückzug.
Von Schnödens Stimme schwoll dennoch leicht an.
»Criminal-Commissarius Werpel, machen Sie sich nicht lächerlich! Die Armee unseres Königs schützt keine Mörder. Und ich schon gar nicht. Oder wollten Sie das etwa behaupten?«
Der Criminalbeamte entgegnete nichts. Gerne hätte Kirchner jetzt das Gesicht Werpels gesehen.
»Nun also …« Von Schnöden beendete das Schweigen.
»Wir werden selbstverständlich dafür sorgen, dass Lieutenant Kirchner jeder Strafe zugeführt wird, die er verdient. Darauf haben Sie mein Wort als preußischer Offizier.«
Das hörte sich gut an, fand Kirchner. Die Stadtvogtei würde ihm erspart bleiben, zumindest vorerst.
»Und wenn ich Fragen an den Delinquenten habe?«
»Nun, mein werter Criminal-Commissarius, wir nehmen die zivilen preußischen Behörden ernst.« Von Schnöden klang wie ein Diplomat, der einem Gegner die Bedingungen eines Waffenstillstands diktierte. »Sie können in den Räumen unserer Einrichtung Ihre Ermittlungen in einem angemessenen Umfang durchführen. Und sollten Sie begründete Verdachtsmomente gegen einen Offizier vorbringen, dann stehen Ihnen selbstverständlich Örtlichkeiten für ein Verhör zur Verfügung.«
Der Polizist murmelte Worte, die Kirchner nicht verstand. Aber Werpel klang nicht glücklich. Es schien, als habe der Herr Criminal-Commissarius sich mit seiner Niederlage abgefunden.
Draußen näherten sich Schritte. Militärstiefel hallten auf dem Gang wie Hämmer. Es mussten mindestens zwei Personen sein.
»Vielen Dank, Herr Rittmeister, dass Sie sich die Mühe gemacht haben.« Generalmajor von Schnöden sprach weiter in einem hochamtlichen Tonfall. »Und schön, dass Sie auch gleich kommen konnten, Major von Gontard. Die Herren kennen sich?«
Von Gontard! Nun glaubte Kirchner tatsächlich an seine Rettung. Der Major gehörte nicht nur zu den beliebtesten Lehrern der Artillerie- und Ingenieurschule, es kursierten auch Legenden über Gontards Erfolge als privater Ermittler in Criminalfällen.
Kirchner hörte, wie die Männer sich begrüßten, Gontard mit einem freundlichen »Ich grüße Sie, Herr Criminal-Commissarius«, Werpel hingegen mit einem grimmigen »Ganz meinerseits, Herr Major«.
Mit einem Satz sprang Kirchner zurück. Gerade rechtzeitig, bevor die Tür aufging.
»Der Pistolenschütze!«, erklärte Werpel und wies mit einer dramatischen Geste auf den Uniformierten, der hinter der offenen Bohlentür stand. Die Gesichtszüge vermochte Gontard im Dämmerlicht des Stalls nicht zu erkennen.
»Einer Ihrer … Herren Studenten!«, sagte Werpel schneidend.
Unwillkürlich trat von Gontard einige Schritte näher.
»Kirchner!«, sagte er erstaunt. Alle Jahre wieder bereitete es einige Mühe, sich die Gesichter und Namen der Neuzugänge einzuprägen. Der Lieutenant Kirchner hatte ihm das durch sein lebhaftes Interesse an der Physik und durch mancherlei intelligente Fragen einigermaßen erleichtert. Und nun schien ausgerechnet dieser Musterschüler in den Tod von Streyths verwickelt!
»Ich bin keineswegs der Schütze, Herr Major!«, beeilte der sich allerdings zu erklären. »Ich habe lediglich die Waffe neben dem Toten aufgefunden.«
»Aber es ist geschossen worden?«
»Das nehme ich doch an. Möglicherweise hat ja der Herr Oberst-Lieutenant selber die Waffe …« Kirchner verstummte mitten im Satz.
Gontard maß ihn mit einem scharfen Blick. »Wo ist diese Waffe?«, wandte er sich an den Criminal-Commissarius.
Der entgegnete, indem er stolz auf die sichtbare Wölbung seiner Uniformjacke schlug, mit einem schiefen Lächeln: »Selbstredend beschlagnahmt, das Corpus Delicti!«
»Darf ich es sehen? Das heißt, nachdem ich vielleicht bei etwas besserem Licht einen Blick auf den Leichnam habe werfen können …«
Der Criminal-Commissarius rang mit sich, sah jedoch keine Möglichkeit, Gontards Verlangen schlichtweg abzulehnen. »Wir müssen ohnehin über den Hof«, sagte er streng und gab den Bahrenträgern ein Zeichen, ihre Last aufzunehmen.
Auf Gontards Wink hin schloss sich Kirchner ihnen an. Im Hof empfing sie die pralle Nachmittagssonne. Gontard hieß die beiden Träger die schäbige Bahre absetzen und schlug die grobe Decke zurück. Von Schnöden hatte nicht übertrieben. Es war wahrhaftig kein erinnernswerter Anblick, den der zerschmetterte Schädel von Streyths bot. Auch dem restlichen Körper hatten die Pferdehufe sichtbar zugesetzt. Schaudernd bedeckte Gontard den Leichnam wieder. »Sie werden den Corpus des Herrn Oberst-Lieutenant bitte gleich ins Anatomische Theater hinter der Garnisonkirche bringen!«, sagte er in einem Ton, der keine Widerrede zuließ. Achselzuckend hoben die Träger ihre Last an. Werpel wollte ihnen folgen, doch Gontard hielt ihn zurück. »Die Pistole«, erinnerte er den Criminal-Commissarius ebenso freundlich wie nachdrücklich.
Was