du mir zu?«, lallte Pragenau.
»Erzähl mir lieber morgen von deinem Erlebnis! Ich hatte auch eines, ein ziemlich schreckliches sogar …«
Pragenau, der sein einziger wirklicher Kamerad hier an der Schule war, schien Kirchners Bemerkung aber eher lustig zu finden. »Ssiemlich schrecklich …«, artikulierte er mühsam. »Du meinst die Schule, stimmt’s?
»Es war im Stall. Aber wir müssen jetzt nicht darüber reden.«
»Im Stall!« Pragenau wieherte wie ein Pferd. »Aber ich sage dir, hinter dem Marstall …« Er machte eine wegwerfende Handbewegung und schüttelte heftig den Kopf.
»Nein, ich sage gar nichts …« Mit weit aufgerissenen Augen glotzte er Kirchner an. »Was war denn los im Stall?«
Ja, was? Wo sollte Kirchner anfangen? »Nun ja … Grani geht es gut.«
Pragenau guckte so verständnislos, als hielte Kirchner einen Vortrag über theoretische Physik. »Grani?«, fragte er gedehnt.
»Na, deinem Pferd.«
»Ich weiß, wie mein Pferd heißt …«
Es war hoffnungslos. Der Einstieg in ein vernünftiges Gespräch war wohl vorerst gescheitert.
Pragenau stützte seinen Kopf in die Hand und nuschelte: »Was ist denn Schreckliches in der Stadt passiert?«
Widerstrebend gab Kirchner Auskunft. »Es fiel plötzlich ein Schuss. Ein Pferd ging durch, und jemand schrie. Und als ich endlich hinzukam, war der Mann tot …«
Zugegeben, das war eine extrem verkürzte Darstellung der Geschehnisse und dennoch die Wahrheit.
»Ein Schuss?«, lallte Pragenau. Anscheinend wurde er immer blasser - oder ging das Öl in der Lampe aus?
»Ja, der Knall war nicht zu überhören. Ich bin sofort losgerannt, und dann fand ich den Oberst-Lieutenant in seinem Blut liegend … und neben ihm die Pistole.«
Pragenau stierte ihn an. Sein Mund stand offen.
»Mit dieser Waffe in der Hand hat mich dann der Rittmeister neben der Leiche von Streyths angetroffen«, ergänzte Kirchner.
»Von Streyth?« Für einen Augenblick schien Pragenau hellwach. »Du meinst, von Streyth ist erschossen worden?«
Kirchner zögerte. Darüber hatte er lange nachgedacht. Konnte er das bestätigen? War die Waffe noch warm gewesen? Er hatte sie am Griff aufgehoben und nicht auf die Temperatur geachtet. Der Criminal-Commissarius hatte behauptet, die Pistole sei kurz vorher abgefeuert worden, und zwar von ihm, Kirchner. Tatsächlich hatte es ja im Stall nach Pulver gerochen. Aber konnte das nicht auch von einer anderen Waffe herrühren? Hatte der Schuss überhaupt von Streyth getroffen? Kirchner schüttelte den Kopf und sagte: »Ich habe keine Ahnung.«
Pragenau starrte ihn an und wollte es nicht glauben.
»Du weißt es nicht?«, lallte er.
»Nein, ich kam zu spät. Und von Streyth … also sein Pferd … er war …« Nun begann auch er, wirr zu reden. Also erst einmal nachdenken! »Nun, das Pferd hatte mit den Hufen den Kopf getroffen. Der war nur noch Brei. Es war wirklich nicht zu erkennen, ob das Blut von einer Schusswunde stammte.«
Pragenaus Kopf rutschte von der Hand. Er konnte den Sturz gerade noch abfangen, bevor das Kinn auf den Tisch schlug. Kirchner fragte sich, ob sein Stubenkamerad die letzten Worte verstanden hatte. Pragenau wackelte mit dem Kopf, als wüsste er nicht genau, wohin er fallen sollte. Mit einem Ruck richtete er sich wieder auf und fragte mit schwerer Zunge: »Was war das denn überhaupt für eine Pistole?«
»Das war so ein kleines Ding. Keine Waffe, die im Heer benutzt wird, würde ich sagen.« Kirchner fiel auf, dass er nicht wusste, ob von Streyth je eine solche Pistole bei sich getragen hatte. Er erinnerte sich an die verdrehten Gliedmaßen, den zertrümmerten Kopf, die Uniform voller Blut … Aber war da eine Tasche für die Waffe gewesen? Er überlegte, aber vor seinem inneren Auge sah er immer nur das Blut - und die Pistole neben der Schulter. Hatte von Streyth selbst geschossen? Oder ein anderer die Waffe des Offiziers benutzt? Oder eine eigene Pistole mitgebracht? Er musste das mit Gontard besprechen. So schnell wie möglich …
Kirchner schaute zu Pragenau. In dessen Gesicht arbeitete nichts mehr, die Augen fielen zu. Der Stubenkamerad riss die Lider hoch und schloss sie gleich wieder. Sein Kopf plauzte auf den Tisch.
Am Freitagvormittag hielt von Gontard die vorgesehenen Lehrstunden zur Ballistik ab, einem Gebiet, das ihn der unabänderlichen Gesetze und der stets gleichbleibenden Beispiele wegen nicht sonderlich berührte, und gab sich dabei alle Mühe, nicht in ein ungebührlich rasches Zeitmaß zu verfallen. Den jungen Herren Studenten fiel es schwer genug, seinen Ausführungen zu folgen, zumal der von Streyth’sche Unglücksfall einige Unruhe an der Schule hervorgerufen hatte. Die Verbreitung der Nachricht, dass einer der Schüler in die Angelegenheit verwickelt war, hatte von Schnöden immerhin unterdrücken können.
Als von Gontard das Schulgelände durch den hinteren Ausgang zur Mittelstraße verließ, überfiel ihn die Junihitze wie eine warme Wolke. Wie so oft verfluchte er innerlich die strenge preußische Uniformordnung, in der den in Preußen herrschenden Temperaturen keinerlei Bedeutung zukam und die es ihm offiziell nicht einmal gestattete, die Kopfbedeckung zu lüpfen. Das tat er jetzt dennoch, während er die in der prallen Mittagssonne liegende Neue Wilhelmstraße entlangeilte und die Spree überquerte. Von dem schmutzig dahinströmenden Wasser stieg kein kühles Lüftchen empor.
Sein Hengst Waldemar stand im Stall der Tierarzneischule, und dorthin hatte er bereits am Morgen das schmale Reisegepäck befördern lassen. Ungesäumt konnte er also die Stadt sogleich über die Unterbaumbrücke in Richtung Spandau verlassen.
Staubig dehnte sich die Straße in der Mittagshitze gen Lietzow und Charlottenburg. Gerne hätte Gontard dem Hengst eine etwas geschwindere Gangart vorgegeben, doch durfte er ihn bei diesen Temperaturen nicht vorzeitig überanstrengen. Bis nach Wutike war es endlos weit, und es würden wahrscheinlich noch einige Jahre ins Land gehen, bis Eisenbahngeleise von der Residenz aus auch ins Nordwestliche führten. Immerhin lag dort Hamburg mit seinem Hafen. Nach Köthen im Anhaltischen fuhren bereits Züge, von wo aus sich Magdeburg, ja Braunschweig oder Leipzig und Dresden erreichen ließen. Selbst nach Stettin konnte man seit zwei Jahren von einer auf dem Gelände der Scharfrichterei angelegten Station aus reisen, und der Frankfurter Bahnhof lag sogar innerhalb der Berliner Stadt- und Akzisemauer. Wie lange würden sich solche künstlichen Absperrungen der Städte und des Handels noch halten?
Nachdem Spandau mit dem einzigen Havelübergang hinter ihm lag, gab Gontard der sengenden Sonne endgültig nach, knöpfte den dunkelblauen Uniformrock auf und lockerte die Halsbinde. Die vorgeschriebenen weißen Lederhandschuhe hatte er längst in die Tasche geschoben und die Dienstmütze am Sattelknopf befestigt. Noch schützte ihn sein dichter Haarschopf vor der Sonne. Immerhin war er glücklich, nicht mehr den hohen Tschako tragen zu müssen und dazu die beengende Litewka der alten Uniform mit den flatternden Frackschößen. Der neue, halblange Waffenrock, seit einem Jahr allgemein vorgeschrieben, war um einiges bequemer. Was allerdings die gleichzeitig eingeführte Pickelhaube betraf, so fiel Gontards Urteil gespalten aus. Wie praktisch diese Haube aus gebranntem Leder mit dem abgerundeten Vorder- und Hinterschirm und den Metallbeschlägen in der Schlacht auch sein mochte - bei der Parade oder sonstigen dienstlichen Verpflichtungen fühlte er sich nicht sonderlich wohl unter dem wehenden Rosshaarbusch, der die keck aufragende Artilleristen-Kugel schmückte. Bei Infanterie und Kavallerie handelte es sich um eine regelrechte Spitze wie bei einer altertümlichen Waffe.
Die Uniform, ja überhaupt die gesamte Montierung waren etwas, das einen in dieser Hinsicht gewissenhafteren Offizier als Gontard pausenlos beschäftigen konnte und überdies ins Geld ging. Mancher seiner Kameraden verbrachte mehr Zeit beim Schneider und in den einschlägigen Uniformläden als Gontard beim Lehrbetrieb an der Artillerieschule. Ihm genügte eine verhältnismäßig spartanische Ausrüstung, zu der gehörte als einzige Waffe der Löwenkopfsäbel in der eisernen Scheide, dessen Griff mit derber Fischhaut überzogen und mit einem vergoldeten Bügel geschützt war. Eine Pistole zu