Uwe Schimunek

Attentat Unter den Linden


Скачать книгу

Hand, die schützend über ebendiesem Herrn von Streyth schwebe?«

      »Schwebte, mein Lieber, schwebte. Es handelte sich um niemand Geringeren als unseren Gebieter, den Prinzen August, Oberbefehlshaber der preußischen Artillerie …«

      »… und letzten direkten Nachfahren Friedrichs des Großen«, ergänzte Kußmaul lachend. »Jetzt erinnere ich mich! Der Gute ist vor einem Jahr gestorben, nicht wahr?«

      »Eben. Deswegen wäre die Laufbahn des Herrn Oberst-Lieutenant an unserer Artillerie- und Ingenieurschule ohnedies mit dem auslaufenden Semester beendet gewesen, und niemand hätte ihm eine Träne nachgeweint.«

      Kußmaul gab dem bedienenden Markeur ein Zeichen, ihnen noch zwei Mokka zu servieren und dazu zwei Gläschen jenes herben Likörs, den er neuerdings bevorzugte.

      »Das spricht natürlich gegen ein Attentat«, stellte er sodann nüchtern fest. »Wenn ihn jemand loswerden wollte, brauchte er doch nur die Zeit abzuwarten, oder?«

      Gontard nickte zustimmend. »Allerdings passen die Pistole und der daraus abgegebene Schuss nicht so recht in dieses friedliche Bild.«

      »Glaubst du, dieser Kirchner hatte Gründe, etwas gegen von Streyth zu unternehmen?«

      Gontard seufzte. »Das eben gilt es herauszufinden. Immerhin halte ich Kirchner für intelligent genug, sich nicht mit einer just abgefeuerten Waffe in der Hand neben einer frischen Leiche erwischen zu lassen.«

      »Na bitte! Und wenn es nun der Herr Oberst-Lieutenant höchstpersönlich und eigenhändig war, der die Pistole abfeuerte, um mit dem Ende seiner militärischen Laufbahn auch sein ruhmreiches Leben zu beschließen?«

      »Nein, nein.« Gontard dachte einen Augenblick nach und schüttelte abwehrend den Kopf. »Da schätzt du den alten Zausel falsch ein. Er mag nicht besonders klug gewesen sein, aber zäh war er wie ungegerbtes Ochsenleder. Ein ehrpusseliger Soldat von altem Schrot und Korn, der sich zu wehren verstand und ewig Streit suchte. Der hätte sich allenfalls erschossen, wenn Prinz August höchstselbst es ihm befohlen hätte.«

      Kußmaul hob das Likörglas. »Um den Prinzen ist es auffallend still geworden, findest du nicht?«

      Nun war es an Gontard zu lächeln. »Meinst du, um uns wird man ein Jahr nach unserem Tod noch größeres Aufsehen machen?«

      »Das meine ich wahrhaftig nicht!«

      »Aber August war schließlich eine herausragende Persönlichkeit bei Hofe und beim Militär. Der letzte leibliche Neffe Friedrichs, der Bruder des unsterblichen preußischen Helden Louis Ferdinand … und der reichste Mann Preußens, vergiss das nicht! Dazu ein mehr als dutzendfacher Vater«, fuhr Gontard mit gedämpfter Stimme fort und sah sich dabei um. Im Roten Zimmer gab es immer den einen oder anderen mit langen Ohren. Gespräche über das gottgewollte Herrscherhaus der Hohenzollern waren allemal gefährlich.

      »Ich sehe, du bist in deinem Element.« Kußmaul griente breit. »Zwar hast du die Maulfertigkeit deines dahingegangenen Freundes Heidenreich noch nicht erreicht, doch wirst du gewiss herausfinden, welcher Art Verknüpfungen zwischen dem dahingegangenen Prinzen August und seinem vom eigenen Pferd getöteten Günstling existierten.«

      Gontard verstand die Anspielung nur zu gut. Doktor Gebhardt Heidenreich war nicht nur ein ebenso beredsamer wie begnadeter Physiker und Experimentator gewesen, sondern auch ein geradezu manischer Erforscher der Hohenzollern’schen Genealogie, in deren illegitime Verzweigungen er tiefer eingedrungen war, als es für seine Beziehung zu der späteren Frau von Streyth gut war.

      »Da gibt es wenig Neues herauszufinden«, meinte Gontard in gedämpftem Ton. »Der Hof hat rechtzeitig dafür gesorgt, dass Augusts Nachkommen beim Erbe sämtlich leer ausgehen - darunter auch die stolze Melitta von Potzlow.«

      »Ich sehe schon, du musst mir die Zusammenhänge noch einmal ausführlich erläutern.« Kußmaul erhob sich. »Leider warten meine Abendpatienten auf mich.« Er drückte Gontard die Hand und überließ ihm großzügig die Rechnung. »Du hörst von mir, sobald wir ein Ergebnis haben«, sagte er im Abgehen.

      Gontard war ihm nicht böse. Dank der umsichtigen Verwaltung seines zwar ungeliebten, doch tüchtigen Schwagers erbrachte sein Gut in der Prignitz so viel Gewinn, dass er hier in der Residenz kein Leben in Armut führen brauchte. Dennoch wurde es allerhöchste Zeit, in Wutike wieder einmal nach dem Rechten zu schauen, seine Henriette in die Arme zu schließen, und sei es nur für zwei kurze Nächte, und den Kindern einige Stunden zu widmen. Sein erklärter Liebling, die kleine Luise, wurde acht und begann sich unter Henriettes Einfluss zu einer eigenwilligen jungen Dame zu entwickeln. Ferdinand hingegen, inzwischen zehn Jahre alt, schien eher dem ruhigen und besonnenen Naturell des Vaters zu entsprechen, dessen Zweifel sich mehrten, ob dem Jungen wirklich die stillschweigend vorgegebene Kadetten- und Offizierslaufbahn zuzumuten war. Es schien immerhin, dass auch in Ferdinand die väterliche Begabung für die Naturwissenschaften und die technischen Neuerungen schlummerte. Vielleicht würde er auf diesem Gebiet einmal die bescheidenen Leistungen des Vaters übertreffen. Eine militärische Karriere jedenfalls erschien Gontard unter den gegenwärtig trüben Verhältnissen in Preußen wenig erstrebenswert für den einzigen Sohn.

      Gontards Entschluss stand demzufolge fest. Sosehr von Schnödens Aufforderung und das unerwartete Ableben von Streyths seinem Interesse an jeglichen rätselhaften Vorgängen entgegenkamen, er hatte nicht vor, diesem Ereignis das geplante Wochenende in Wutike zu opfern. Deshalb dachte er auch nicht lange darüber nach, ob von Schnöden bei der Erteilung seines Auftrags, der gemäß der Rangordnung ja eigentlich einen Befehl darstellte, den bereits bewilligten freien Sonnabend einfach vergessen hatte.

      Adalbert Kirchner packte seine Unterlagen für den nächsten Tag in die Kartentasche. Er konnte die Augen kaum noch offen halten, so müde und zerschlagen fühlte er sich. Dennoch, die Tasche wurde am Abend gepackt, sonst würde er in der Nacht unruhig schlafen.

      Beim Verstauen der Papiere kam Kirchner sich immer vor wie ein Primaner - und das, obwohl er auf die dreißig zuging. Dieses Gefühl verspürte er nur am Abend, wenn er den nächsten Tag an der Artillerie- und Ingenieurschule vorbereitete. Ansonsten unterschied sich das Studium in Berlin erheblich vom Schulbesuch in der schlesischen Provinz. Natürlich, das preußische Militär führte ein hartes Regime, die Schulleitung nahm es mit der Ordnung, der Pünktlichkeit und der Pflichterfüllung bei den Studenten sehr genau. Damit kam Kirchner, seit frühester Kindheit an eine strenge Erziehung gewöhnt, gut zurecht. Das übliche Studentenleben erschien ihm ohnehin kaum erstrebenswert, lieber lernte er und widmete sich in Ruhe seinen naturwissenschaftlichen Studien. Allein die Labore, die neuesten Instrumente und Geräte in Räumen, die so hell getüncht waren wie frisch gestärkte Hemden und so groß wie ein herrschaftlicher Salon! Kein Vergleich mit der Kammer, in der sein Vater die Medikamente seiner Apotheke mischte. Ganz sicher konnte Kirchner bei der Garnison in Breslau nicht so forschen wie hier. Im täglichen Dienst bei den Pionieren würde er kaum Zeit für seine Passion haben: die Optik.

      Kirchner steckte eine letzte Papierrolle in die Tasche und stellte diese auf den Stuhl neben seinem Bett. Er schaute zu Bernward von Pragenaus Bett. Der Stubenkamerad schaffte es nur leidlich, seine Decke nach Vorschrift zusammenzulegen. Jeden Morgen beobachtete Kirchner die Hast, mit der Pragenau das Zeug zusammenraffte.

      Die Tür wurde aufgerissen, und Bernward von Pragenau torkelte in die Stube. Die Bierfahne erreichte Kirchner, noch bevor Pragenau den Mund öffnete.

      »Das ist gut …« Pragenaus Worte klangen so wacklig, wie sein Gang zwischen den Betten ausfiel. »Ich hatte Sorgen, du schläfst schon …«

      Kirchner ärgerte sich, dass er nicht ein paar Minuten früher in sein Bett gekrochen war. Auch wenn er Pragenau gut leiden konnte - ein Feingeist war der nicht gerade.

      »O Mann, ich sage dir … ich hatte heute ein Erlebnis! Das glaubt mir kein Mensch!« Pragenau lallte herum, schien aber entschlossen, ein Gespräch anzufangen. Das konnte ja heiter werden!

      Der Stubenkamerad ließ seinen plumpen Körper auf den Stuhl fallen. Das Holz ächzte, hielt aber stand. Wenn er saß, sah Bernward von Pragenau wie eine zu groß geratene Maus aus - mit seiner spitzen Nase und dem Kopf, der übergangslos