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Die Geschichte des Dorfes Wyhlert


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bis dahin landwirtschaftlich geprägten deutschen Staaten in Industriegesellschaften – ein Vorgang, der zu massivem Bevölkerungswachstum, zur Verstädterung und zur Verarmung breiter Bevölkerungsschichten führte. Zu einer Verarmung kam es insbesondere im deutschen Südwesten, wo sich unter den veränderten Bedingungen insbesondere das Erbrecht als vernichtend erwies. 1815 lebten um die 993.000 Einwohner im Großherzogtum Baden und 1834 rund 1.570.000 Menschen im Königreich Württemberg; 1890 gab es bereits annähernd 1.658.000 Einwohner in Baden und rund 2.037.000 in Württemberg. Das Angebot an ausreichend bezahlter Arbeit, um die Grundversorgung all dieser Menschen zu gewährleisten, stieg in diesem Zeitraum nicht gleich schnell an. Aufgrund der mangelhaften Zukunftsperspektiven blieb vielen Württembergern und Badenern nichts anderes übrig, als ihr persönliches Glück außerhalb ihres jeweiligen Vaterlandes zu suchen.

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      Der Auswanderer Georg Hurst wird anlässlich einer Volkszählung 1870 als „Manual Laborer“, also als Handwerker, erwähnt. Er verstarb am 21. Juli 1899 und wurde auf dem New Baden Cemetery beerdigt. Sein Grabstein erinnert heute noch, nach mehr als 100 Jahren, an ihn.

      Das Schicksal einer Auswandererfamilie am Beispiel von Georg und Barbara Hurst

      Als Georg Hurst (OSB Nr. 418) und seine spätere Ehefrau Barbara Hertenstein (OSB Nr. 293) mit ihren Kindern Gustav, Hermann, Wilhelm und Magdalena im März 1855 Kippenheimweiler Richtung Nordamerika verließen, war es von der alten Heimat ein Abschied für immer.

      Georg Hurst und seine Familie schifften sich in Antwerpen / Belgien ein und erreichten auf dem Segelschiff „Sewall“ am 2. Mai 1855 New Orleans. Die Dauer der meistens beschwerlichen Überfahrt war vom Wetter abhängig und nahm per Segelschiff 7 bis 12 Wochen in Anspruch. Von dort aus ging es auf dem Landweg nach New Baden / Illinois, wo sich die Familie Hurst / Hertenstein niederließ. In Amerika heiratete Georg Hurst seine langjährige Lebensgefährtin Barbara Hertenstein am 26. Juli 1856. Als Trauzeuge und Pfarrer ist der Name Georg C. Eisenmayer vermerkt.

      Sohn Wilhelm, der in Amerika fortan den Namen William benutzte, schloss sich dem Ohio-Trail an und ließ sich später in Missouri nieder, wo er als Farmer lebte. Ein Bruder von Barbara Hertenstein eröffnete in New Baden ein Haushaltswarengeschäft („Hertenstein Mercantile Store“). 1896 fegte ein Tornado über die Stadt hinweg und zerstörte weite Teile. Nur die Steingebäude blieben erhalten. Was mit dem Wohnhaus der Familie Hurst geschah, ist nicht bekannt.

      Die meisten Menschen wanderten über die großen Häfen wie Hamburg, Bremen, Rotterdam, Antwerpen, Le Havre auf dem Seeweg aus. Da aus dieser Zeit die meisten Schifffahrtslisten erhalten sind, gibt es heute die Möglichkeit, sich über sehr viele ausgewanderte Personen mittels der Deutschen Auswanderer-Datenbank (DAD) beim Historischen Museum in Bremerhaven zu informieren. Die Datenbank erfasst Informationen zu Personen, die im Zeitraum von 1820 bis 1939 Europa über vornehmlich deutsche Häfen in Richtung USA verlassen haben. Grundlage der Deutschen Auswanderer-Datenbank sind die Passagierlisten der Auswandererschiffe. Diese Passagierlisten mussten den amerikanischen Einwanderungsbehörden vorgelegt werden. Auch speziell für Baden-Württemberg kann mithilfe einer Dokumentation des Landesarchivs Baden-Württemberg unter dem Titel „Auswanderung aus Südwestdeutschland“ eine Fülle von Informationen recherchiert werden.

      Die Auswandererströme richteten sich jetzt fast ausnahmslos auf die Vereinigten Staaten. Neue weite Landstriche wurden erschlossen, besiedelt und zur Basis einer sicheren Existenz. Neben der wirtschaftlich motivierten Auswanderung erfolgte um 1848 auch eine politische, die ihren Höhepunkt nach der gescheiterten Märzrevolution im deutschen Südwesten fand. Diese Emigranten bezeichnete man umgangssprachlich als „Achtundvierziger“. So wanderten im Zeitraum 1871 bis 1890 aus dem Königreich Württemberg mehr als 104.000 Personen und aus dem Großherzogtum Baden im Zeitraum zwischen 1880 und 1890 über 94.000 Personen aus. In beiden Staaten betrug die Quote derer, die in die Vereinigten Staaten von Amerika auswanderten, für die genannten Zeiträume mehr als 90 Prozent. Viele Auswanderer aus Württemberg und Baden siedelten in den USA im sogenannten German Belt. Dies ist ein Landstrich im Mittleren Westen der USA, der sich über die Staaten Wisconsin, Michigan, Minnesota, Iowa, North Dakota, South Dakota und Nebraska erstreckt. Die Gesamtzahl der deutschen Auswanderer in die USA zwischen den Jahren 1820 und 1890 übersteigt die statistisch erfassten Auswandererzahlen beträchtlich, da die Dunkelziffer der deutschen Auswanderer im 19. Jahrhundert aus verschiedenen Gründen – wie zum Beispiel die illegale Auswanderung als Flucht vor dem Militärdienst – sehr hoch war. Viele seriöse Schätzungen gehen heute davon aus, dass zwischen 1820 und 1920 etwa 6 Millionen Deutsche auswanderten.

      Alleine im März 1855 wanderten insgesamt 69 Einwohner Kippenheimweilers nach Nordamerika aus. Für das Dorf mit damals etwa 500 Einwohnern bedeutete dies einen großen Einschnitt. An Kopfgeld erhielten beispielsweise Georg Hurst 10 Gulden und Barbara Hertenstein mit ihren vier Kindern 55 Gulden. Einkommensschwache konnten mit staatlicher Unterstützung bei den Kosten der Auswanderung rechnen. So wurde aufseiten der Städte und Gemeinden versucht, die Sozialausgaben zu senken.

      In einem Beitrag zur Statistik der inneren Verwaltung des Großherzogtums Baden aus dem Jahre 1857 heißt es: „Die Nachrichten von jenen Auswanderern, deren Reiseziel Nordamerika war, lauteten mit einigen wenigen Ausnahmen sehr günstig. Wer zur rechten Jahreszeit in Amerika ankam und arbeiten wollte, fand bald reichlich Verdienst, was auch aus den bedeutenden Summen hervorgeht, welche die Auswanderer in ihre frühere Heimat sendeten, um zurückgebliebene arbeitsunfähige Verwandte zu unterstützen und arbeitsfähige Verwandte in die neue Heimat nachkommen zu lassen. Durch die Einwanderer wurden für Erzeugnisse der badischen Landwirtschaft und Industrie in den verschiedenen Teilen Nordamerikas neue Absatzwege eröffnet, welche für manche Zweige der vaterländischen Gewerbstätigkeit von Bedeutung geworden sind. Weniger günstig waren die Nachrichten von jenen Auswanderern, welche ein anderes Reiseziel als Nordamerika gewählt hatten. Insbesondere ist eine große Anzahl von jenen, welche nach Algier ausgewandert sind, tödlichen Krankheiten erlegen. In die alte Heimat sind nur wenige Auswanderer zurückgekehrt, aber auch diese haben die Überzeugung zurückgebracht, dass der Besitzlose nicht auf die öffentliche Unterstützung sich verlassen dürfe, sondern arbeiten müsse. Die Zurückgekehrten suchen nun sich ehrlich zu ernähren.“

      Die große Welle der Auswanderungsbewegung ebbte in den 1890er-Jahren wieder ab. Der Hauptgrund war eine anhaltend boomende Konjunktur in allen Staaten des Deutschen Reiches. Die Gründe des Booms waren die rapide zunehmende Industrialisierung und die nun verstärkt wirkenden Investitionen aus den französischen Reparationsleistungen nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. Sie führten zu einer Blüte von Handwerk, Industrie und Handel. Nun kam es innerhalb Deutschlands verstärkt zu massiven Binnenwanderungen. Viele Landarbeiter und Kleinstädter zogen mit ihren Familien in die neuen industriellen Ballungszentren wie etwa das Ruhrgebiet. Unter dem Aspekt der zunehmenden Urbanisierung Deutschlands kam es auch zu verstärkten Wanderungsbewegungen von Teilen des verarmten Landproletariats in die großen Städte wie zum Beispiel in die sich rasant vergrößernde Hauptstadt des Deutschen Kaiserreiches, Berlin. Ein weiterer Grund für den Rückgang der Auswanderungszahlen aus Deutschland ist die ab den frühen 1890er-Jahren einsetzende und lange anhaltende wirtschaftliche Depression in den USA.

      Auszüge aus dem Text stammen von Reinhard Güll. Er ist Büroleiter der Abteilung „Informationsdienste, Veröffentlichungswesen, sozial- und regionalwissenschaftliche Analysen“ im Statistischen Landesamt Baden-Württemberg. (Monatsheft 2013-09)

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      Die Urenkel des nach Amerika ausgewanderten Georg Hurst, Daryl und Ron Hurst, trafen sich bei ihrem Deutschlandbesuch mit ihrem deutschen Cousin Herbert Hurst (Mitte des Bildes) im August 2010. So schloss sich nach mehr als 150 Jahren der Kreis.

      Die Recherchen sind der fleißigen Arbeit von Günter Hurst aus Flensburg und Herbert Hurst aus Kippenheimweiler zu verdanken. Die Amerikaner nahmen es nicht immer ganz genau mit den Namen der Herkunftsorte. Einige Probleme wurden auch dadurch geschaffen, dass bei den Eintragungen in Amerika bezüglich der Familiennamen eine unterschiedliche Angabe gemacht wurde. Dies begann bereits bei der Einschiffung.