Andrew Taylor Still

Das große Still-Kompendium


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diese hatten die medizinische Kunst mit den Zeichen in Verbindung gebracht. Auch Still kennt den Ausdruck Semiotik (Zeichenlehre, Zeichentheorie) und verwendet ihn ganz traditionell: Die Zeichen stehen für die Symptome, von denen man auf die Ursachen schließen kann. Die Zeichen sind der Ausdruck der Krankheiten. Der Vorwurf Stills an die Medizin seiner Zeit, aber auch darüber hinaus besteht nun darin, dass man eben Zeichen und Ursachen verwechselt, also die Zeichen für die Krankheiten hält – und praktisch dann den Rauch (Zeichen, Symptome) anstelle des Feuers (Ursache) bekämpft. Doch die tatsächlichen Ursachen liegen in Hemmungen oder übermäßigen Beschleunigungen der Nervenimpulse, die durch Fehlstellungen insbesondere des Skeletts zustande gekommen sein sollen.

      Sieht man dies, wird deutlicher, was der mind für die Osteopathie als Wissenschaft bzw. die osteopathische Philosophie bedeutet. Wie seit der Antike üblich, aber zeitgenössisch durch so unterschiedliche Autoren wie Sir Arthur Conan Doyle mit seiner Figur Sherlock Holmes und Charles Peirce mit seiner ausgeführten Semiotik ausführlich dargestellt, versteht Still die Tätigkeit des mind als Schlussfolgerungsprozess (reasoning bzw. reason), der conclusions (Schlussfolgerungen als Resultat) erzielt.19

      „Es gibt nur eine Methode des Schließens. Diese Methode liegt in den Gesetzen des Gegenstands begründet, den wir erschließen. Schließen ist die Aktion des Verstandes, während er auf der Suche nach der Wahrheit ist.“ (Die Philosophie der Osteopathie)

      Das ist nach beiden Seiten zu bedenken. Betrachtet man dieses Zitat im Blick auf das Verhältnis von mind und Blutkörperchen, dann wird man wohl unterstellen dürfen, dass Still auch hier den mind auf der Suche nach der (praktischen) Wahrheit sieht, also auch diese Aktionen des mind über das Nervensystem und seine verschiedenen Aspekte als Schließen versteht. Dann stände er den heute sehr ausgearbeiteten Versuchen in der Psychosomatischen Medizin nahe, die unter Rückgriff auf Charles Peirce und mit einem genaueren naturwissenschaftlichen Wissen das Verhältnis von Körper, Verstand und Seele als derartige schließende Zeichenprozesse verstehen.20

      Still geht darüber noch hinaus. Ihm zufolge ist der Mensch eine Repräsentation, eine Darstellung, ein Zeichen des Kosmos, insbesondere der mechanischen Beziehungen des Sonnensystems.21 Nach Still ist also der gesamte Kosmos semiotisch organisiert, weil der Mensch als Mann und Frau eine Darstellung des Kosmos ist. Still vertrat mithin wie indische und chinesische Medizinentwürfe eine Mikrokosmos-Makrokosmos-Vorstellung. So kann er einzelne Organe wie das Herz oder Gliedmaßen wie den kleinen Zeh mit Planeten des Sonnensystems vergleichen. Anders als die indischen und chinesischen medizinischen Schwestern verwendete er die Mikrokosmos-Makrokosmos-Vorstellung aber nicht dazu z. B. (teilweise energetisch interpretierte) Ernährungsempfehlungen zu geben oder entsprechende Medikamente zu verordnen. Es geht bei Still um die einander im Makrokosmos und dem Menschen als Mikrokosmos entsprechenden mechanischen Beziehungen von Elementen eines Systems. Jedenfalls versuchte er u. a. so, das transzendentalistische philosophische Postulat zu erfüllen, man müsse Gott und Natur jenseits der Traditionen und Gewohnheiten als ursprünglicher Denker direkt begegnen.

      Diese osteopathischen Schlussfolgerungen sind insgesamt auf die Evidenzbasis der fünf Sinne angewiesen. Da es sich dabei um aus verschiedenen ähnlichen oder gleich erscheinenden Erfahrungen gewonnene Regeln handelt, ist der zentrale osteopathische Schlussfolgerungsprozess wie überwiegend im Abendland die Induktion.

      Damit ist gemeint, dass wir verschiedene ähnliche Fälle wahrnehmen, die wir als Fälle einer Regel verstehen können. Wenn in vielen Fällen ein bestimmtes Symptommuster vorliegt, dann können wir induktiv schließen, dass folgende Krankheit besteht… Wir schließen induktiv von der Ähnlichkeit der Zeichen bzw. der Symptome auf die gleiche Krankheit als Ursache.

      Unsere Erfahrung ist induktiv aufgebaut. Aufgrund vieler ähnlicher Wahrnehmungen haben sich Erfahrungsmuster aufgebaut, die uns schon selbstverständlich erscheinen, sodass wir den Schlussfolgerungsprozess kaum einmal bewusst erleben. Darin liegt eine latente Unsicherheit, weil zukünftige Erfahrungen unsere Regeln nicht zwingend bestätigen müssen, die wir gegenwärtig für richtig halten, sondern uns zum Neuentwurf oder zur Korrektur einer Regel anregen. Eben deswegen regte Still die Überprüfung seiner Ergebnisse in der zukünftigen osteopathischen Erfahrung an und lehnte jede Form der Heldenverehrung ab.

      Wenn unsere induktiv gewonnenen Einsichten für uns unverrückbar geworden zu sein scheinen, dann erlauben wir uns manchmal auch deduktiv zu schließen. Aus einer als feststehend betrachteten Einsicht, ziehen wir logisch zwingend Schlüsse. So bezweifeln nur ganz wenige, dass aus ‚Martin Pöttner ist ein Mensch‘ folgt, dass Martin Pöttner sterblich ist. Denn wir unterstellen überwiegend, dass alle Menschen sterblich sind. Daraus folgt, dass Martin Pöttner sterblich ist. Still tendiert in seinen Texten dazu, die von ihm entdeckten grundlegenden Prinzipien als solche unverrückbaren Einsichten, als unerring natural laws (‚irrtumsfreie Naturgesetze‘) zu betrachten. Gleichwohl muss dies wohl auch nach Still immer noch die Zukunft zeigen, obgleich er nicht daran zweifelte, dass es so sein werde.

      Wie kommt man nun überhaupt zu Einsichten? Natürlich werden wir erst einmal in elementaren Erfahrungssituationen als Kleinkinder von unseren primären Bezugspersonen erzogen und mit grundlegenden Einsichten, die sie haben, vertraut gemacht: ‚Fasse nicht auf die Herdplatte, Du tust Dir sehr weh!‘ Kommt man aber ins Fragen, ob dies denn alles so stimmt, was einem die Erwachsenen erzählt und beigebracht haben, dann kann man sich zunächst bei anderen Autoritäten informieren und von ihnen Einsichten zu erwerben versuchen. Doch schließlich kommen viele Menschen in die Situation, in der Still spätestens nach dem Tod von mehreren Familienmitgliedern durch Zerebrospinale Meningitis war: Er erkannte, dass sein religiöser und medizinischer Hintergrund, mit dem er aufgewachsen war, nicht trug. Mit ihm ließ sich die schreckliche Situation nicht hinreichend deuten. Was nun? Man muss raten, wie es anders ist. Man begegnet Fremden und versucht sich neu zu orientieren. Man muss raten. Da Still aber kritisch war, riet er tapfer, wusste, dass er geraten hatte, und versuchte die erfolgreichen Rateergebnisse durch verschiedene ähnliche Erfahrungen zu bestätigen. Er schloss also aufgrund einer Erfahrung von Fremdheit ratend, unterstellte, dass sein Handeln wie das Reiben der Wirbelsäule eines an Durchfall erkrankten Kindes offenbar mit regelmäßigen Gründen erfolgreich gewesen war. Die fremde Erfahrung musste also der Fall einer Regel sein. Nur wie sah die Regel aus? Still bestätigte für sich zunächst, dass diese Methode mehrere Fälle von Durchfall kontrollieren konnte. Doch er wusste noch immer nicht, wie die Regel aussah. Irgendwann aber kam er auf die Regel des Verhältnisses von nerve fluids und body fluids. Den Rateprozess, den Still durchlaufen hatte, nennt man (wohl seit der Antike) Abduktion bzw. Hypothese (insbesondere im antiken medizinischen Kontext). Er ist noch erheblich zerbrechlicher als die Induktion. Aber ohne ihn könnte man niemals zu neuen Erkenntnissen kommen, also ‚Gott und die Natur‘ direkt oder ursprünglich und jenseits der traditionellen Auffassungen erfassen. Still wendet diesen Punkt kritisch gegen seine medizinischen Zeitgenossen. Sie haben gerade in der Symptomatologie und Semiotik nur geraten, aber nicht weiter induktiv überprüft. Darin besteht der nachvollziehbare Kern seiner Kritik.

      Mit dieser Haltung Stills, die seine Person stark abdunkelt und die wissenschaftlichen bzw. philosophischen Ergebnisse in den Vordergrund stellt, sind einige Verständnisschwierigkeiten verbunden, die vor allem eifrige Historiker/innen in eine gewisse Verzweiflung stürzen können. Sie fragen zumeist: Wo kommt etwas her, woher hat er das? Oder hat er das selbst entwickelt? Welche Rolle spielen die Shawnee-Indianer? Hat er die Theorie der Fermentation aus der Cellularpathologie Rudolf Virchows oder doch nicht? Wie steht es mit dem Einfluss Herbert Spencers oder gar Charles Darwins auf Still? Für einen denkenden Menschen wie Still spielen derartige Fragen keine große Rolle und sie sollten auch keine Rolle spielen. Man soll versuchen, seine Texte zu verstehen und sie in der eigenen Erfahrung zu überprüfen. Werden sie bestätigt – was Still sich natürlich erhofft – dann ist es gut. Falls aber nicht, dann hatte Still nicht genau genug hingesehen, empfindsam genug getastet und besonnen genug nachgedacht. Und dann kann man das von Still Geschriebene auch vergessen… Es geht Still also ganz zentral um die Sache, um strictly speaking to the point. Daher scheint es kein Zufall, dass er seine Autobiografie mehr oder weniger konsequent auf die Entstehung