die Osteopathie. Still hat sie zwar entdeckt, aber ihre Gesetze sind so alt wie das Universum selbst. Also ist die Sache sehr viel größer als ihr Entdecker. Man kann dies – wie McKone es tut – mit der phänomenologischen philosophischen Richtung zusammenbringen.22
Entscheidend aber ist, dass man selbst diese Haltung zur Sache einnimmt – und zum original thinker, zum ursprünglichen Denker wird.
Darauf zielen Stills Bücher. Die Philosophie der Osteopathie entfaltet die zentralen Prinzipien der Osteopathie. Die Philosophie und mechanische Prinzipien der Osteopathie stellen faktisch eine Art von zweiter erweiterter und oft variierter Auflage des Titel Die Philosophie der Osteopathie dar. Das Werk Forschung und Praxis ist in seiner Gestaltung mit Paragrafen und der (nicht in jedem Fall vollständigen) Gliederung im Bereich der verschiedenen Krankheiten in Definition, Ätiologie, Untersuchung, Diagnose, Behandlung, Prognose, wozu oft noch eine Allgemeine Diskussion tritt, am ehesten ein gewöhnliches medizinisches Lehrbuch. Unterstrichen ist dies noch durch die fortwährenden Zitate aus den Standardautoren Dunglison und Dorland. Aber auch hier behandelt Still für ihn wichtige philosophische Themen wie die Frage nach der Gestalt des Lebens in Mensch und Tier (§§ 905 – 911). Er versucht also fortwährend die Osteopathie als praxisbezogene Wissenschaft vor dem Hintergrund allgemeiner, universaler philosophischer Prinzipien darzustellen, die das ganze Universum, Gott und Natur, umfassen.
3. DER EINFLUSS HERBERT SPENCERS, DER MECHANISMUS BEI STILL UND DIE OFFENEN FRAGEN DES MASCHINENMODELLS STILLS
Texte sind wissenschaftlich-philosophisch gemeint. Daran besteht kein Zweifel. Es fällt freilich ins Auge, dass sie stark metaphorisch und bilderreich geprägt sind. Es scheint nahe liegend, wichtige Metaphernfelder mit biografischen Phasen und Erfahrungen des Autors in Verbindung zu bringen. Dazu gehört natürlich die Erziehung im strengen methodistischen Kontext, die Stills metaphorische Sprache stark geprägt hat. Darauf gehen auch die Archaismen aus der King James-Version der Bibel zurück, die sich in Stills Texten finden. Stills Sprache zehrt auch von den Entbehrungen des Lebens in der Pionierzeit der American Frontier, auch den Schönheiten dieses Lebens, darunter den Erfahrungen mit den Shawnee-Indianern. Dabei entsteht seine Liebe zum ‚Buch der Natur‘. Den dritten Kontext bildet Stills Teilnahme am Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten. Viertens verarbeitet Still in seiner Sprache medizinisch-philosophisch die technische Revolution im Gefolge der Industrialisierung. Dies erscheint durch einen fünften Kontext metaphorisch eigentümlich gebrochen: die Beschäftigung mit der freimaurerischen Weltsicht und ihren Ritualen. In diesem Unterpunkt gehe ich nur auf die beiden letzten Aspekte ein, weil sie einen wesentlichen Zugang zu Stills Sprechen eröffnen.
Es gilt wohl weithin als Konsens, dass man Stills Texte dann besser verstehe, wenn man sie vor dem Hintergrund des britischen Philosophen Herbert Spencer lese. So entschied sich auch der Verlag JOLANDOS eine Übersetzung der First Principles zu verlegen23, hatte doch Wilborn Deason behauptet, dass es sich bei diesem Buch um „[…] one of his [sc. Stills] most treasured volumes“ 24 gehandelt habe. Als Beleg bezieht er sich auf einen Besuch bei Still im Jahr 1910. Dazu habe ihm Stills Sohn Charles kurz vor der Niederschrift von Deasons Artikel im Jahr 1934 ein Exemplar der First Principles gezeigt, das Andrew Taylor Still besessen habe. Insgesamt schildert Deason Still als einen an Philosophie sehr interessierten Menschen, der sich auf europäische Biologen und einige Ärzte, vor allem Rudolf Virchow bezogen habe. Zu letzterem führt Deason an, dass er Still besucht habe, während dieser die Cellularpathologie las.25 Darüber habe er mit ihm gesprochen, wobei Still die Position Virchows so zusammengefasst habe, „[…] that disease arises in Darwin’s protoplasm.“ 26 Insgesamt erscheint der Bericht recht glaubhaft, vielleicht ein wenig übertrieben die Genialität des Meisters Still betonend. Man erkennt die Glaubwürdigkeit leicht daran, dass die Formulierung Darwin’s protoplasm, die damals recht geläufig war, dreimal explizit in Stills Schriften auftaucht.27 Allein aus dieser Beobachtung folgt eine gewisse Plausibilität von Deasons Bericht. Ein äußeres Indiz für die Wahrscheinlichkeit des Berichtes liegt darin, dass Charles Still erst 1955 starb, also beim Erscheinen dieses Artikels und auch der späteren Erweiterung des Artikels in 1946 noch lebte und keinen Protest gegen Deasons Behauptung erhob.28 Weiterhin erscheint als der angebliche Vermittler europäischer ‚Biologie‘ an Still – wie Deason behauptet – ein schottischer Dr. Neil in Stills Autobiografie auf.29
Man könnte selbstverständlich prinzipiell Zweifel an diesem Bericht haben, zumal in den erhaltenen Bibliotheksverzeichnissen Stills das Buch nicht auftaucht. Doch erscheinen zumindest für elementare Text-zu-Text-Vergleiche auch zunächst vielleicht überraschende Behauptungen wie der Bezug zur Virchowschen Cellularpathologie plausibel. Deason zufolge handelt es sich hierbei gar nicht so sehr um das Thema der Zellen an sich, sondern um die Frage der Entstehung von (entzündlichen) Krankheiten, in Virchows Sprache um ‚pathologische Neubildungen‘.30 Dies wird mit dem Prozess der ‚embryonalen Entwicklung‘ 31 für vergleichbar gehalten: „Diese Form [sc. im Innern der Blase] scheint darauf hinzuweisen, dass in der That durch einen nicht direct auf Theilung praeexistirender Zellen zu beziehende Vorgang und zwar in besonderen blasigen Räumen, die ich Bruträume genannt habe, im Innern von zelligen Elementen neue Elemente ähnlicher Art sich entwickeln können.“ 32 Stills Auffassung der Fermentation sieht durchaus nicht ganz unähnlich aus, sie muss nicht auf der Lektüre der 1860 erschienenen englischsprachigen Ausgabe von Virchows Cellularpathologie beruhen, könnte dies aber doch. Hier muss zur weiteren Aufklärung ein exakter Text-zu-Text-Vergleich geleistet werden, der das Problem der Entstehung von Krankheit und weitere verwandte Themen wie ‚Keim‘ bzw. germ und protoplasm behandeln müsste. Vielleicht kommt man dann auch zu einem recht abgesicherten und befriedigenden Ergebnis. Hier könnten sich kulturwissenschaftliche und medizinische Kompetenz einmal fördernd befruchten, ohne dass es zu ‚pathologischen Neubildungen‘ kommen müsste.
In der Folge werde ich für das Problem der möglichen Spencerrezeption Stills knappe Hinweise geben, die auf einem ausgearbeiteteren Text-zu-Text-Vergleich beruhen. Selbst wenn Still Spencers First Principles niemals gelesen hätte, wäre im Übrigen die verlegerische Entscheidung zur Übersetzung dieses Buches keineswegs sinnlos gewesen, denn es handelt sich um ein gutes Buch, das den Zeitgeist, in dem Still jedenfalls auch gelebt hat, sehr gut erkennen lässt. Das erscheint umso plausibler, weil Spencers Werke zu den damals meistgelesenen Büchern gerade bei Transzendentalisten gehörten.33
Wer sich mit Stills Gedankengang zum ungestörten Normalzustand vertraut gemacht hat, der bei Störung durch Fehlstellung des Skeletts usf. zu Variationen gezwungen wird, die dann durch die Begünstigung der Selbstheilungskräfte wieder angepasst werden können, wird auf folgenden Text Spencers gestoßen:
„Wenn die Abweichung vom normalen Verlauf der Funktionen so groß ist, dass sie gestört werden – wenn etwa gewaltsame Anstrengung Appetitlosigkeit und Schlaflosigkeit hervorruft –, entsteht schließlich doch ein Gleichgewicht. Vorausgesetzt die Störung zerstört nicht das Leben (wodurch das vollständige Gleichgewicht plötzlich hergestellt wird), baut sich die normale Balance nach und nach wieder auf. Der wiederkehrende Appetit ist stark im Verhältnis zu der Größe der Verschwendung. Ausgedehnter und gesunder Schlaf entschädigt für die frühere Schlaflosigkeit. Nicht einmal ein extremer Exzess, der eine Störung hervorgebracht hat, die nicht gänzlich korrigiert werden kann, stellt eine Ausnahme von diesem allgemeinen Gesetz dar. Denn in solchen Fällen entsteht nach einer Zeit ein neuer mittlerer Zustand, der in der Folge zum Normalzustand des Individuums wird. Und dieser Prozess exemplifiziert im Kern die von den Ärzten so genannte vis medicatrix naturae.“ 34
Wichtig für das Verständnis der Texte Stills ist hier der Gedanke unterschiedlicher Gleichgewichtszustände. Auch die Variation als Störung bildet erneut einen Gleichgewichtszustand aus, länger bestehende Störungen tendieren zum Aufbau eines neuen Normalzustandes auf dem Niveau des durch Störung erzeugten Gleichgewichtszustandes – ein auch später in der Osteopathie verwendetes Modell um Krankheiten zu beschreiben.35