Andrew Taylor Still

Das große Still-Kompendium


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er billigere Inhaltsstoffe verwenden und Sie nehmen schließlich etwas ein, was weder Sie selbst noch der Arzt kennen! Wie viele Schwierigkeiten muss dies hervorrufen! Die Gesundheit wie vieler Menschen wurde hierdurch bereits ruiniert! Wie viele wertvolle Leben sind dadurch bereits verloren!“ 50

      Immer wieder liest man den Begriff ‚Arterie als König‘, ohne dass dies weiter ausgeführt wird. Leider führt dieses Versäumnis zu einer schwerwiegenden Missinterpretation, denn es impliziert mit der Heraushebung des arteriellen Blutflusses einen Absolutpunkt für die Gesundheit des Menschen. Stills osteopathische Philosophie ist aber wesentlich komplexer. Alles entscheidend ist dabei die frei fließende Wechselwirkung und Kommunikation sämtlicher stofflicher und nicht-stofflicher Systeme des menschlichen Lebewesens, das streng den Gesetzen von Angebot und Nachfrage folgend das Potenzial der Selbstregulierung per se in sich trägt. Arterien, Venen, Nerven- und Lymphsystem sind hierbei gleichrangige Strukturgeber. Flüssigkeiten, Gase und Elektrizität die sie füllenden und vermittelnden Medien. Aber auch die Lebenseinstellung und das spirituelle Bewusstsein müssen streng genommen gleichrangig in dieses evolutionäre Fließkonzept eingebunden werden. Scheinbar moderne Ansätze innerhalb der Osteopathie wie Biodynamik und Fluid-behandlung entpuppen sich beim Studium der Werke von Still, Littlejohn und Sutherland demnach rasch als altbekannte, aber rhetorisch geschickt aufbereitete und aufgrund ihres vereinfachenden Charakters gut vermarktbare Weisheiten.

      Ebenso wie für seinen späteren Schüler und Entdecker der Kranialen Osteopathie, W. G. Sutherland, stellte auch für Still das Verständnis des Nervensystems einen Generalschlüssel zur osteopathischen Behandlung dar. Still wäre aber nicht Still, hätte er nicht auch hier eine bis heute ungeklärte Besonderheit erörtert. Insbesondere die Begriffe ‚nährendes‘, ‚mentales‘ oder ‚emotionales‘ Nervensystem geben Anlass zu weit reichenden Spekulationen. Es ist überflüssig zu erwähnen, dass aber die Klärung dieser Frage einen bedeutenden Einfluss auf den osteopathischen Behandlungsansatz haben könnte. Wertvolle Informationen zu diesem Thema finden Sie in der Dissertation Still’s Fascia der kanadischen Osteopathin und gegenwärtig wohl weltweit bedeutendsten Still-Historikerin, Jane Stark DO.

      Fragt man Osteopathen, was sie unter ganzheitlicher Behandlung verstehen, bekommt man oft zu hören, dass die Behandlung eines Körperteils sich auf den gesamten restlichen Körper auswirkt. Dies entspricht aber nicht der ganzheitlichen Behandlung im Sinne Stills osteopathischer Philosophie. Da der Mensch eine dreifach differenzierte Einheit darstellt, muss die Ganzheitlichkeit auch die mentalen und spirituellen Aspekte des Menschen (Patienten und Therapeut) einschließen – auch wenn Still dies nicht explizit ausführt. Ein Osteopath erfüllt demnach drei Funktionen zugleich: Er behandelt den Körper, er regt zur Selbsterkenntnis an und er interessiert sich für die seelischen Aspekte. Für Still ist der Osteopath Körperarzt, Psychologe und Seelsorger in einer Person.

      Anhänger alternativen Heilmethoden sind immer wieder von Stills ablehnender Haltung gegenüber der Homöopathie überrascht. Dabei ist ziemlich offensichtlich, wie er zu dieser Einstellung kam:

      „Ich erklärte weiterhin, dass der menschliche Körper Gottes Apotheke sei und alle Flüssigkeiten, Medikamente, feuchtende Öle, Opiate, Säuren und Laugen und überhaupt alle Arten von Medikamenten in sich trage, welche die Weisheit Gottes für menschliches Glück und Gesundheit als nötig erachtet hat.“

      Sobald alle Anteile des Menschen richtig angepasst sind, bedient sich der Körper in ‚Gottes Apotheke‘ und reguliert sich dadurch selbst. Für Still bewies die Zufuhr zusätzlicher Substanzen unabhängig von Wirkmechanismus oder Dosis ein mangelndes Vertrauen in die Vollkommenheit der Schöpfung – dem Kernstück von Stills osteopathischer Philosophie. Zusätzlich muss festgestellt werden, dass auch das umfassende Konzept Hahnemanns bis heute nur von wenigen Homöopathen wirklich vollständig durchdrungen und entsprechend angewendet wird, was unweigerlich zu einer Mittelwahl nach persönlichen Vorlieben oder nach vorgegebenen Schemen und Tabellen führt. Es ist anzunehmen, dass diese Praxis auch zu Stills Lebzeiten weit verbreitet war und seiner Skepsis damit zusätzlich begründete Nahrung verschafft hat.

      Der Begriff Osteopathie ist im funktionellen Sinn zu verstehen. Über manuelle Techniken an den Knochen (gr. osteon) gewinnt man einen Einfluss auf ein Leiden (gr. pathos). Aus heutiger Sicht mag dieser Begriff nicht mehr weit reichend genug erscheinen, was leider zu einer unsäglichen Blüte von neuartigen Begriffen geführt hat.

      Biogen ist einer der meist diskutierten Begriffe aus Stills Schriften. Laut Lexikon bedeutet biogen: (1) Durch Lebewesen entstanden; (2) Durch die Tätigkeit von Lebewesen entstanden, aus ausgestorbenen Lebewesen gebildet; (3) Von organischer Substanz bzw. von Organismen abstammend. Die Erläuterungen der amerikanischen Lexika um 1890 (Webster) gehen in die gleiche Richtung. Ist man nach dem intensiven und vollständigen Studium von Stills vier Büchern mit seiner Philosophie vertrauter, erscheint einem die Diskussion müßig. Wir lesen bei Still:

      „Wenn ein Baum in einem Wald stirbt, so hört er auf, Blätter, Blüten und Früchte zu bilden. Er beginnt ein neues Leben zu leben, das genauso aktiv ist wie das Leben, als er noch ein lebendiger Baum war. Das zweite Leben oder der zweite Zustand ist gewöhnlich als Zersetzung bekannt. Sie setzt sich so lange fort, bis die vollständige Auflösung in sämtliche Atome erreicht ist. Nehmen wir an, der Baum ist seit 12 Monaten tot. Bei genauerem Hinsehen erkennen wir jedoch, dass er nicht wirklich tot ist, sondern aktiv ein anderes Wesen hervorbringt, gemeinhin als Schwamm bezeichnet. Unter dem Mikroskop erkennen wir ein vollkommenes System, das von der Natur in Form eines schwammigen Wachstums bereitgestellt wird.“ (Forschung und Praxis)

      Kann man ‚biogen‘ noch anschaulicher beschreiben?

      A. T. Stills Texte mit seinem Konzept des triune man scheinen sich nicht eindeutig von Akuttraumen abzugrenzen und damit eine Universalheilmethode zu suggerieren. Nun wurde die Chirurgie aber erst mit der flächendeckenden Einführung der Anästhesie gegen Ende des 19. Jhdt. langsam zu einem vollwertigen Bestandteil der Medizin. Davor galt sie als Hilfstätigkeit, die vorrangig von Laien wie Badern und einfachen Feldchirurgen ausgeübt wurde. Da sich Still jedoch auf den Medizinbegriff seiner Zeit bezieht, ist die Unterstellung, er hätte mit seiner Osteopathie sämtliche Fälle heilen wollen, aus medizinhistorischer Sicht als Fehlinterpretation zu werten.

      Still beschreibt zudem immer wieder erfolgreiche Behandlungen von Tumoren. Normalerweise könnte man diese Feststellungen als realitäts-fern abtun. Hat man aber Stills Grundprinzipien bezüglich der Pathophysiologie verstanden, erscheint sein Ansatz insbesondere im Licht jüngster Forschungsergebnisse im Bereich der Immunologie in einem anderen Licht: Da in jedem Einzelnen von uns aufgrund natürlicher Umstände wie der kosmischen Strahlung täglich Tausende von Zellen entarten und damit zum potenziellen Tumorkeim werden, bedurfte es eines evolutionär gewachsenen Mechanismus, um diese Zellen unmittelbar nach ihrer Entartung zu beseitigen. Wie man inzwischen weiß, bieten bestimmte Teile des Immunsystems diesen Schutz auf ganz natürliche Weise. Blut gilt aber als Haupttransportmedium für das Immunsystem. Und schon schließt sich ein Kreis, denn ein Prinzip Stills besagt, dass sich der menschliche Organismus nur bei freiem Fließen der Körperflüssigkeiten (u. a. Blut) zu heilen vermag. Da eine aussagekräftige Vergleichsstudie mit anderen Behandlungsmethoden fehlt, ist eine endgültige Stellungnahme zur Wirksamkeit oder Unwirksamkeit der Osteopathie bei der Tumorbehandlung aus wissenschaftlicher Sicht streng genommen bis heute nicht möglich.