Evolutionstheorie Spencers in die Medizin zu übertragen: Je mehr sich ver- und entsorgende Anteile des menschlichen Organismus in ihrem physiologischen Zustand befinden (fitness), desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Natur ihr Potenzial im Menschen entfalten kann (Autoregulation).51 Überleben, Gesundheit und Entwicklung erhalten dadurch beste Chancen. Die osteopathische Medizin war geboren.
Stills universaler Geist ging aber noch weiter: Die besagte Gesetzmäßigkeit betrifft neben matter (z. B. Arterien, Venen, Nerven etc.), auch mind (wissbegieriger Verstand), und die spirituell initiierte motion (bewusster Austausch mit einer übergeordneten Instanz als Lebensinteresse bzw. Motivation). Mit diesem Schritt zum triune man schlug er eine breite Brücke in die Antike. Dort wurde der Mensch bereits in seiner dreifach differenzierten Einheit erörtert. Ein bedeutender Nebeneffekt: Der Osteopath wandelt sich vom ‚Heilmacher‘ zum begleitenden Kunsthandwerker, Philosophen und Seelsorger – sozusagen ein triune osteopath als Vertreter einer triune osteopathy. Sie selbst stellt ihrerseits einen lebenden Organismus dar, bestehend aus matter (Wissen und Erfahrung), mind (Beobachtung und Verständnis) und motion (Suche und Ehrfurcht).
In diesem Sinne hoffen Herr Dr. Pöttner als Übersetzer und Lektor und ich als Herausgeber Ihnen mit der hier vorliegenden und sorgfältig überarbeiteten Neuauflage des Still-Kompendiums einen Wegweiser auf dem Weg zu Ihrer ganz persönlichen triune osteopathy in die Hand geben zu können.
„Erkenne dich selbst und lebe in Frieden mit Gott!“ (A. T. Still)
Christian Hartmann
Pähl, August 2005
Aufzeichnungen
1 Louisa Burns, DO, Basic Principles (Nachdruck), Editions Spirale, Montreal, 2007, S.102f. Dt. Übers. v. C. Hartmann
2 Trowbridge, Andrew Taylor Still 1828-1917, JOLANDOS, Pähl, 2005, S. xiii.
3 Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Osteopathie_(Alternativmedizin), 15.09.2013. Einige Aussagen zu Still sind übrigens nachweislich falsch. Mit historischen Quellen eindeutig belegbare Gegendarstellungen werden konsequent ignoriert, was eine berufspolitisch handelnde Redaktion vermuten lässt. Interessierte finden die korrekten Darstellungen der fehlerhaften Aussagen im Diskussionsbereich (2013). Interessierten an diesem Themenkomplex sei an dieser Stelle The DOs: Osteopathic Medicine in America (Gevitz) wärmstens ans Herz gelegt. Auch Gevitz stellt am Ende des brillanten Buches die sarkastische Frage, was denn eigentlich der Unterschied zwischen osteopathischer und allopathischer Medizin sei und Osteopathie keine Zukunft hat, wenn sie diese Frage nicht beantworten kann.
4 Siehe hierzu insbesondere die Einleitung des Übersetzers im Anschluss.
5 [Anm. d. Hrsg.:] Auf Wunsch der Verfasserin wird das Vorwort im Englischen Original abgedruckt. Die Deutsche Übersetzung folgt im unmittelbaren Anschluss.
6 Es ist möglicherweise hilfreich, wenn ich betone, dass diese auf der Unabhängigkeitserklärung, dem ‚Amerikanischen Transzendentalismus‘ und der pragmatistischen Weiterentwicklung (s. dazu gleich) basierende Bewegung der Aufklärung in den Vereinigten Staaten in einem beachtlichen politischen und religiösen Gegensatz zu der heute in den Vereinigten Staaten dominierenden politischen und religiösen Strömung protestantischer Fundamentalisten steht. Man sollte Still, der beispielsweise Freimaurer war, nicht mit derartigen Positionen in Verbindung bringen.
7 Carl P. McConnell, DO, The Teachings of Dr. Still, Third Paper, JAAO August 1915, 641 – 651. Er bringt Stills Konzept besonders mit dem neu entstandenen Pragmatismus zusammen. Da Charles Peirce damals schon aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden war, übersieht McConnell die Beziehungen, die auch zu diesem Philosophen bestehen. – Der Pragmatismus unterstellt, dass sich die Wahrheit von Überzeugungen, Behauptungen, Lebensentwürfen, Philosophien usf. nur so zeigt, dass man sich ihre praktischen Wirkungen genau vorzustellen vermag und wenn möglich, auch überprüft. Schon Aristoteles hatte daraufhin gewiesen, man erkenne am besten, was eine Badewanne sei, wenn man sich hineinlege…
8 Wilborn Deason, DO, Dr. Still – Nonconformist. How the ‚Old Doctor‘ reached His Conclusions on Osteopathy, The Osteopathic Profession August 1934, 22 – 25, 44 – 46; ders., Body Fluids. The Original Osteopathic Concept: The Influences Behind Dr. Still ’s Theories as Revealed in His Writings and Interviews. Part II, Mai 1940, 20 – 23.43 – 45.
9 Carol Trowbrigde, Andrew Taylor Still (1828 – 1917), Pähl 2003.
10 James und Rene McGovern, Dein innerer Heiler! Pähl 2003.
11 Walter Llewellyn McKone, DO, Osteopathic Medicine. Philosophy, Principles and Practice, Oxford u. a. 2001.
12 Jane Stark, Still ’s Fascia, Thesis Toronto 2003. Sie steht derartigen Interpretationen wie in Anm. 8 eher skeptisch gegenüber, weil sie den Sinn von Texten in der hinter ihnen liegenden Intention eines Autors oder einer Autorin sieht. Dabei ist sie davon überzeugt, dass diese Intention in den Texten Stills bislang wenig entdeckt worden sei. – Einen Überblick über den Diskurs der letzten 200 Jahre zum grundlegenden hermeneutischen und historischen Thema findet sich bei Martin Pöttner, Art. Wirkungsgeschichte, Theologische Realenzyklopädie (36) 2004, 123 – 131.
13 Martin Pütz, Einleitung, in: Ralph Waldo Emerson, Die Natur. Ausgewählte Essays, Stuttgart 2000, 9 – 81, insbesondere 27 – 51 zum ‚Amerikanischen Transzendentalismus‘.
14 Vgl. Emerson, Natur (s. Anm. 13), 85. Emerson (1803 – 882) war als poetischer Philosoph eine der Hauptfiguren des Transzendentalismus. Mit dem teilweise anders gesonnenen Herbert Spencer verband ihn eine Mitgliedschaft im Twilight Club.
15 Vgl. Pütz (s. Anm. 13) mit einigen instruktiven Beispielen.
16 Vgl. z. B. Andrew Taylor Still, Philosophy of Osteopathy, Kirksville/Missouri 1899, 26. Vgl. hierzu auch Christian Hartmann/Martin Pöttner, Triune Osteopathy, Osteopathische Medizin 6/2 (2005), 19 – 23. Einschränkend muss aber darauf hingewiesen werden, dass Still in Research and Practice das Modell explizit nicht wiederholt hat.
17 Zum Verfahren Stills aus einem grundlegenden Gegensatz (life is dual) eine dreifach differenzierte Einheit zu bilden, vgl. insbesondere Stark (s. Anm. 12), 178f. Dabei ist der Mann/Frau-Gegensatz wichtig, aber auch der Gegensatz von himmlischen und irdischen Körpern. Dies wird vor einem romantischen bzw. transzendentalistischen Hintergrund reflektiert und bildet den Spannungsbogen, woraus Leben entsteht. Hieraus erklärt sich entsprechend die Verwendung des Ausdrucks biogen bei Still. Vgl. auch den anregenden Versuch von Peter Wührl in: Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 1/2005, 34f.
18 Nach McKone (s. Anm. 11), 148ff, sieht dies bei John Martin Littlejohn dann schon anders aus. Zu betonen ist hierbei freilich, dass Littlejohn keine dreifach differenzierte, sondern nur eine zweifach differenzierte Einheit (body/mind) kennt.
19 Thomas A. Sebeok, Jean Umiker-Sebeok, Du kennst meine Methode. Charles S. Peirce und Sherlock Holmes, Frankfurt/M. 1982 (es NF 121).
20 Vgl. Thure von Ueküll u. a., Psychosomatische Medizin, München u. a. 1996, 13 – 62 u. ö. Dabei wäre diese Medizin über Stills mechanistisches Konzept mutmaßlich ebenso erstaunt und würde es kritisieren wie sie dies auch für den Mainstream der Schulmedizin tut.
21 Autobiografie, Kapitel XXIX u. ö. Vgl. z. B. den Swedenborgianer und Spiritisten Andrew Jackson Davis, The Great Harmonia (Vol. I). The Physician, Boston o. J., 70ff, als Parallele; zu ihm vgl. Jane Stark (s. Anm. 12), 172f, 222, 226 ff u. ö. Sie hat mir freundlicherweise den Zugang zu diesem Buch ermöglicht.
22 Er denkt vor allem an Johann Wolfgang von Goethe und Edmund Husserl. Amerikatypischer wäre aber der auch dort immer noch zu wenig bekannte Charles Peirce gewesen. McKone hat das große Verdienst auf den Zusammenhang der