wird also sagen können, dass Stills Sprechen vom Normalzustand, von Störungen, von den Selbstheilungskräften zumindest eine starke Parallele in bestimmten Aspekten von Spencers Sprechen hat. Still und Spencer teilen dabei eine prozessuale Auffassung des Körpers, der mithin kein statischer Zustand ist, sondern zwischen unterschiedlichen Gleichgewichtszuständen dynamisch schwankt. Noch entscheidender sind für einen Text-zu-Text-Vergleich freilich auffällige sprachliche Phänomene, die nicht zuletzt metaphorischer Art sind.
Hierzu ist es wichtig, sich die englischen Texte genauer anzusehen. Still spricht häufig von demand and supply. Dabei handelt es sich um Metaphern aus dem ökonomischen, marktwirtschaftlichen Bereich, die Still auf Körpervorgänge überträgt – weshalb er nicht selten auch metaphorisch von ‚Ökonomie des Lebens‘ spricht:
„Where and how is the supply made and delivered to proper places? How is it applied and what holds it to its place when adjusted? What makes it build the house of life? Do demand and supply govern the work?“ 36
Hierzu gibt es einen ins Auge fallenden parallelen Text Spencers aus den First Principles:
„The internal actions constituting social functions, exemplify the general principle no less clearly. Supply and demand are continually being adjusted throughout all industrial processes […]“ 37
Es ist unübersehbar, dass Still marktwirtschaftliche Termini metaphorisch für körperliche Vorgänge verwendet. Diesem Sachverhalt wird in der vorliegenden Übersetzung Rechnung getragen (konkret: Nachfrage und Angebot). Auch adjust wird entsprechend als evolutionär-prozessual gemeintes Wort erfasst, sodass mit ‚anpassen‘ übersetzt wird, aber ‚korrigieren‘ ständig mitgedacht werden kann. Dass dies völlig berechtigt ist, zeigt ein weiteres Zitat Spencers, in dem Spencer selbst einen marktwirtschaftlichen Zentralbegriff auf körperliche Vorgänge bezieht:
„This unusual transformation of molecular motion into sensible motion is presently followed by an unusual absorption of food – the source of molecular motion; and the prolonged draft on the spare capital in the tissues, is followed by a prolonged drest, during which the abstracted capital is replaced.“ 38
Die Metaphorik Spencers und Stills sind daher sehr ähnlich. Sie entstammen einer kulturellen Situation und interpretieren die Wahrnehmung von unterschiedlichen Prozessen mit komplexen – Differenzen bzw. Unterschiede in der einen Wirklichkeit übergreifenden – Gleichgewichtsmodellen. Nach meinem Eindruck ist es sehr wahrscheinlich, dass Stills Sprache durch Spencer angeregt worden ist. Um Still zu verstehen, bedarf es dieser Annahme aber nicht. Es ist auch möglich, dass Still in einem ähnlichen kulturellen Horizont zu einer nahezu gleichen Metaphorik gelangt ist. An der sachlichen Parallele und den inhaltlichen Fragen, die sie aufwirft, ändert sich dabei nichts.
Eine in der Zukunft zu diskutierende Frage wird lauten: Wie ist Stills Sprechen zu verstehen, wenn es so eindeutige Parallelen zu einem mechanistischen evolutionären Entwurf wie dem von Spencer aufweist? Wie ist dieser selbst zu verstehen? Was bedeutet dies für die Interpretation der von Still gemeinten osteopathischen Praxis? Ist diese Handwerk, eine Technik? Oder ist sie eine Heilkunst – wie sich die antike Medizin verstand?39 Dann würde das auf der Basis von Wahrnehmung induktiv erschlossene osteopathische Regelwissen in jedem Fall neu überprüft werden müssen, weil die Alten unter Kunstlehren praktische Wissenschaften verstanden, die ein Regelwissen vermitteln, das im einzelnen Fall aber gegebenenfalls korrigiert werden muss, da die individuelle Wirklichkeit immer komplexer sein kann als man bislang in allgemeinen Regeln erfasst hat. Still hat aus seiner Sicht des ‚Buches der Natur‘ diesen Sachverhalt des unableitbar Einzelnen recht genau gesehen:
„Ich habe lange Mineralogie studiert und gelernt, dass jeder Stein oder jedes Metall sich in einem eigenen Zustand befand, kein anderer Stein konnte in seinem Gewand auftreten, das galt für das schwarze Silur genauso wie für den transparenten Kristall. Ein Diamant konnte kein Rubin sein, noch weniger konnte er eine Eiche, eine Gans oder eine Ziege sein.“ (Die Philosophie der Osteopathie)
Hier stellt also die einzelne Osteopathin und der einzelne Osteopath das bisherige induktiv erschlossene Wissen wieder neu in Gegenwart des Patienten infrage und überprüft es. Das geht nur abduktiv, hypothetisch, ratend, wenn man auf bisher nicht Beobachtetes, vielleicht auf neue und überraschende Zusammenhänge stößt. Man muss versuchen, bestätigen usf. Eben deshalb reicht es nicht Osteopathie unter rein quantitativen Wissenschaftsmustern zu betreiben. Der Einzelfall stellt jedenfalls oft vor die qualitative Frage: Wie gehe ich mit dem Einzelfall um, wenn also nicht nur die Gesteinsarten unverwechselbar, sondern auch jeder Stein derselben Art gleich seinen und zugleich ganz verschieden von seinen Artgenossen ist? Still meint es m. E. tatsächlich so, dass jeder Einzelfall prinzipiell meine bisherigen Muster infrage stellt. Und darauf kann ich nur qualitativ-abduktiv reagieren, muss dies aber kritisch-selbstkritisch überprüfen.
Aus der Sicht eines osteopathischen Außenseiters sind dies die Hauptfragen, die sich an das Spencerproblem knüpfen und die damit verbundene mechanistische Sprache von Still: der Mensch als Maschine, Osteopath/inn/en als Ingenieure, Maschinisten usf. Es wird spannend sein, wie die Osteopath/inn/en auf dieses Problem reagieren.
Nach meinem Eindruck war sich Still der Problematik seines mechanistischen Sprechens wahrscheinlich bewusst. Daher wählte er für die Abschlussproblematik seiner Theorie (woher kommt das alles, wie ist es entstanden, wie bleibt es relativ stabil?) keine begrifflich-schlüssige Form, sondern eine Metaphorik, die aus seiner Beschäftigung mit dem Freimaurertum stammt. So gilt ihm Gott als der ‚Große Architekt‘, der ‚Große Vermesser‘, der das ‚Haus des Lebens‘, den ‚Aufbau‘ (superstructure) den menschlichen Körper planvoll, irrtumsfrei und vollkommen erbaut hat und über die von ihm verantworteten Naturgesetze (die ‚Pläne‘ und ‚Bauanleitungen‘) auch gegenwärtig indirekt reguliert, darunter den Gesetzen des Heilens, die Still entdeckt hatte. Es geht in dieser Metaphorik um die Betonung des intellektuellen Elementes, an dem der menschliche Verstand (der mind) Still zufolge Teil hat. In Begriffen der europäischen und nordamerikanischen Religionsgeschichte ist diese Position Stills als deistisch einzustufen. Anders als andere Deisten aber wählt er nicht die Uhrmachermetaphorik (Gott als Uhrmacher, die Welt als perfektes Uhrwerk), sondern betont den intellektuellen Charakter Gottes durch die entsprechende Freimaurermetaphorik. Hierbei ist es m. E. wichtig, den Charakter als Metapher streng zu nehmen. Metaphern bezeichnen etwas als zugleich ähnlich und unähnlich. Sie übertragen etwas aus einem bestimmten gesellschaftlich-sprachlichen Bereich auf einen anderen, der vielleicht ähnlich, in jedem Fall aber auch genauso unähnlich ist. Auf diese Weise scheint sich Still von Spencers Lösungsversuch unterscheiden zu wollen. Spencer war im angelsächsischen Kontext m. W. der erste, der Abschlusstheorien überhaupt für logisch unmöglich hielt. Gleichwohl bleibt in unserem Bewusstsein ein derartiges Element enthalten, das wir aber über unsere Erfahrung und unsere Wissenschaft nicht einholen können. Daher hielt Spencer an der Abschlussfigur fest, erklärte aber ausdrücklich, dass man die letzten Fragen der Wirklichkeit nicht begrifflich-logisch oder durch Erfahrungserkenntnis erfassen könne. Mithin nannte er die letzte Wirklichkeit, auf der unsere Erfahrungswirklichkeit beruht, the unknowable – das Unerkennbare, nicht Wissbare.
Darauf findet sich mutmaßlich auch bei Still eine Reaktion:
When I looked up the subject and tried to acquaint myself with the works of God, or the unknowable as some call Him, Jehovah as another class say, or as the Shawnee Indian calls Him, the great Illnoywa Tapamala-qua, which signifies the life and mind of the living God, I wanted some part that my mind could comprehend. I began to study what part I should take up first to investigate the truths of nature, and place them down as scientific facts. 40
Dies ist ein typisch deistischer Text. Der Autor steht über den einzelnen Religionen und akzeptiert an ihnen nur das Schöpfungskonzept – worin sie übereinzustimmen scheinen.41 Unter den Gottesbezeichnungen findet sich auch Spencers ‚Unerkennbares‘. Es wird von unbestimmt Mehreren gebraucht, was rhetorisch möglicherweise die Position Spencers relativieren soll. Still mag aber auch gewusst haben, dass Spencers