Andrew Taylor Still

Das große Still-Kompendium


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auch inhaltlich, in der Sache zu teilen scheint:

       Where will I begin? That is the question. What will I take? How is the best way? I found that one of my hands was enough for me all the days of my life. Take the hand of a man, the heart, the lung, or the whole combination, and it runs to the unknowable. I wanted to be one of the Knowables. 42

      Die angesprochenen menschlichen Sachverhalte sollen zu den erkennbaren, dem Wissen zugänglichen Problemen gehören. Sie entstehen und bestehen aber vor einem unerkennbaren Hintergrund. Diesen drückt Still dann nicht nur negativ wie Spencer, sondern positiv mit einer freimaurerischen Metaphorik aus. Wird diese nicht schlicht vergegenständlicht, dann respektiert Still die Annahme Spencers, dass Abschlusstheorien logisch unmöglich sind. Gleichwohl muss man aus medizinisch-philosophischen Gründen von der schöpferischen Wirklichkeit sprechen. Denn diese garantiert die evolutionär gewordenen Selbstheilungskräfte und begrenzt auf diese Weise die Macht von Behandlern und Patienten. Still geht in gewisser Weise etwas weiter als Spencer, insofern seine Metaphorik zumindest offen lässt, dass Gott so oder ähnlich gehandelt hat, während Spencer dies strikt ausschließt.43 Eine Metaphorik schwebt stets ein wenig, sie lässt mehrere Möglichkeiten offen. Gleichwohl hat Still nach meinem Eindruck nicht vertreten, dass dem menschlichen Verstand alles ganz genau erschlossen sei, obgleich er am göttlichen Verstand Teil hat.44 Und dies spricht eher dafür, dass sein Mechanismus gebrochen ist – mindestens so stark wie dies bei Spencer der Fall ist. Insgesamt ist zu betonen, dass Still das Verhältnis Gottes zur Welt als Liebe versteht, genauso wie das ideale Verhältnis der Menschen untereinander. Hier folgt er z. B. biblischer Sprache, aber auch den zeitgenössischen Swedenborgianern. Dann aber ist das Verhältnis Gottes zur Welt und zum Menschen nicht ausschließlich mechanistisch-kausal aufzufassen, sondern ein grundlegend sittliches Verhältnis. Auch in diesem ganz wichtigen Punkt überschreitet Still den Mechanismus der Industriekultur und folgt hierin insbesondere den romantischen, transzendentalistischen Impulsen. Dies muss beachtet werden, wenn man die Maschinenauffassung des Menschen in der Folge kritisch diskutiert.

      Still gehörte wahrscheinlich zu den Menschen, denen es in der Jugend nicht vergönnt war, eine umfassende, jedenfalls breite Bildung zu erwerben. Zwar entstammte er einem bildungsbeflissenen methodistischen Predigerhaus, aber die Verhältnisse in der Pionierzeit des Amerikanischen Grenzlands waren einer dauernden Bildung nicht sehr günstig. Gleichwohl hielt Still offenkundig wenig von dem Spruch: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. So dürfte er die im Elternhaus erworbene Einsicht, dass der Mensch sich zu Lebzeiten soweit wie möglich vervollkommnen soll, um gut vorbereitet in die unüberbietbar vervollkommnende Ewigkeit zu gehen, auch als Bildungsauftrag verstanden haben. Wie viele intelligente Menschen, die aus ungünstigen Verhältnissen stammen, dürfte er daher einen unstillbaren Bildungshunger besessen haben. So wundert es letztlich auch nicht, dass er es im Alter von über 60 Jahren unternahm zu schreiben. Denn es ist klar, dass Still gewöhnt war, genau zu beobachten, schnell zu schließen, erfolgreich zu behandeln und in allerlei Geschäften wirtschaftlicher und politischer Art seine Lebensbestimmung zu finden. Und ohne Frage hat er viel gelesen, nicht zuletzt medizinische Literatur. Doch zur öffentlichen Darstellung in Büchern befähigt dies nicht zwingend. Hierbei wurde er durch den befreundeten Schriftsteller John Musick bei seinen ersten beiden Büchern unterstützt, ob noch weitere Unterstützer/innen hinzukamen, ist nicht bekannt, obgleich Still dies am Ende der Autobiografie andeutet. Wer aufmerksam Stills Texte liest oder meditiert, wird bald auf ihre sprachliche Gestalt aufmerksam. Stills Sprache ist oft witzig, ironisch, hintergründig. Er liebt auch den Sarkasmus und stellt insbesondere in seiner Autobiografie bestimmte Überzeugungen allegorisch dar, d. h. er erfindet Geschichten, in denen man den gemeinten Hintergrund recht leicht erkennen kann. Wie schon erwähnt, ist die Autobiografie ganz auf das Entstehen der Osteopathie und besonders auf die (von Still wohl eher zögernd betriebene) Aufnahme des Schulbetriebs an der American School of Osteopathy hin ausgerichtet. Still schildert von sich vor allem seinen (früheren) religiösen Hintergrund, die Eindrücke im Grenzland, insbesondere das Leben im ‚Buch der Natur‘, und die Teilnahme am Bürgerkrieg. Dass Still seine frühen religiösen Auffassungen verändert hatte, stärker aufklärerisch gesonnen und Freimaurer geworden war, erfahren die Leser/innen nur in sehr versteckten Andeutungen. Er stellt die Ablösung von der väterlichen und mütterlichen Religiosität konsequent in den Kontext seiner Entdeckung der Osteopathie. Dabei gibt er vor, dass er eigentlich den Sinn der positiven Seiten aller Religionen ohnehin besser verstanden hatte als diese selbst. Falls die ‚Weisen der Kanzel‘ ihre eigenen Worte ernst nähmen, dass Gott vollkommen sei und seine Schöpfungswerke ebenfalls, dann hätten sie schon längst den Widerspruch erkennen müssen, der darin liegt, dass man auf den vollkommenen Gott vertraut, zugleich aber bei Krankheiten Medikamente verordnet.45 Denn in der vollkommenen Schöpfung Mensch sind schon alle Medikamente enthalten. Wendet man diese religiös formulierte Einsicht stärker aufklärerisch, wie Still es tat, dann besagt sie, dass die ‚Naturgesetze irrtumsfrei‘ sind. Gehört zu diesen Naturgesetzen das Bestehen von Selbstheilungskräften, dann muss man nur den Weg finden, wie diese bei einer eventuellen Blockade freigesetzt werden können. Diesen Grundgedanken variiert Still ab Kapitel XII in seiner Autobiografie unaufhörlich und gibt einen Einblick in sein reiches naturbezogenes und kulturelles Wissen, jedenfalls seine breite Beschäftigung mit natürlichen und kulturellen Sachverhalten.

      Eine ganze Reihe der Texte ab Kapitel XII scheinen ursprünglich gesprochen zu sein. Dabei zeigt sich, dass Still eine bedeutende Rednergabe besaß – eine in der angelsächsischen Welt bis heute im Unterschied zu Deutschland immer noch verbreitete Fähigkeit. Sie ist bei Still sicherlich durch die Erfahrung im methodistischen Elternhaus begünstigt. Hierzu gehört auch die Lektüre der christlichen Bibel, die alle rhetorischen Mittel und Muster enthält, die auch Still verwendete. Aber auch die vielen Auseinandersetzungen medizinischer und politischer Art in seinem Leben dürften hier – learning by doing – eine ganze Menge verfeinert haben. Als gutes Beispiel eines ausgezeichneten Redners ohne bestimmte rhetorische Ausbildung kann der Bundesaußenminister Joschka Fischer gelten. Beiden ist im Übrigen gemeinsam, dass sie Züge von Originalen aufweisen.

      Die Philosophie der Osteopathie, Die Philosophie und mechanische Prinzipien der Osteopathie und Forschung und Praxis sind dagegen ganz andere Bücher. Am weitesten steht von diesen Forschung und Praxis der Autobiografie entgegen. Forschung und Praxis ist ein medizinisches Lehrbuch, das einen guten Überblick über Stills Kenntnisse von Krankheiten und Behandlungsmethoden gibt. Wer noch nicht weiß, sondern erst verstehen will, wie eine osteopathische Behandlung funktioniert und wie diese Behandlungsform begründet ist, wird hier fündig. Wie alle Bücher Stills beabsichtigt auch dieses Buch für medizinische Laien verständlich zu sein. In Forschung und Praxis ist am leichtesten verständlich, wie Still das eigentliche Hauptproblem des Schreibens wissenschaftlicher und philosophischer Bücher löste. Er musste die Fülle des Wissens übersichtlich und für Laien oder Studierende verständlich darstellen. In Die Philosophie der Osteopathie und in Die Philosophie und mechanische Prinzipien der Osteopathie hatte er dagegen noch experimentiert, sodass insbesondere Die Philosophie der Osteopathie eher unübersichtlich ist. Die beiden Philosophiebücher sind tatsächlich der Gattung nach medizinisch-philosophische Essays, welche die Prinzipien der Osteopathie als Philosophie und mechanische Wissenschaft darstellen, begründen und verteidigen. Darin sind sie den Kapiteln XII ff der Autobiografie verwandt. Aber sie unterscheiden sich in der Begründungstiefe und Detailliertheit ganz wesentlich von ihr. Hierin verweisen sie auf Forschung und Praxis voraus. Sieht man nur die Autobiografie, Die Philosophie der Osteopathie und Die Philosophie und mechanische Prinzipien der Osteopathie, dann könnte man behaupten, Still habe nur ‚Prinzipien‘ hinterlassen (Nicholas Handoll).

      Da Forschung und Praxis aber zweifelsfrei von Still selbst stammt, muss diese Behauptung modifiziert werden. Dieser Text lässt im Übrigen teilweise erkennen, dass er aus dem Schulbetrieb in Kirksville hervorgegangen, jedenfalls aber darauf bezogen ist.

      Man kann die medizinisch-philosophischen