Marko Rostek

33 Tage


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auf die Regierung und auf ihn kein Druck für ein rasches Handeln aufgebaut. Bei näherer Betrachtung musste er sich jedoch eingestehen, dass das Fehlen von Forderungen nach Straf- und Vergeltungsmaßnahmen möglicherweise als Zeichen von weitgehendem Desinteresse interpretiert werden musste. Damit wäre eine breite Zustimmung in der öffentlichen Meinung für einen Waffengang gegen Serbien nur sehr schwer zu erreichen. Im Vorfeld einer Audienz beim Kaiser wollte er sich an diesem Morgen eingehend mit dieser Frage befassen. Noch während er seine Unterlagen ein letztes Mal durchsah, beschloss er, diese Gedanken später seinen engsten Mitarbeitern im Ministerium auseinanderzusetzen.

      Zeitgerecht brach er von seiner Wohnung aus direkt nach Schönbrunn auf. Der Kaiser hatte ja seinen Sommeraufenthalt unterbrochen, um in der Hofburgkapelle an der Trauerzeremonie für seinen Neffen teilzunehmen. Für Berchtold, wie für viele andere Regierungsmitglieder, war diese Situation vorteilhaft, denn mit der Allerhöchsten Anwesenheit in Wien entfielen für die Audienzbesuche die mühsamen und zeitraubenden Fahrten nach Ischl.

      ***

      „Wie geht es Ihnen, Herr Minister. Sie sehen blass aus!“ Die Stimme klingt heiser. Berchtold wendet sich in die Richtung, aus der die Worte zu ihm dringen, und sieht den alten Kaiser im Hintergrund des Zimmers stehen. Aufrecht und ungebeugt, den Schicksalsschlag der jüngsten Vergangenheit nicht zeigend, steht der Monarch in der Uniform eines Kavalleriegenerals neben dem Audienzpult. „Vielen Dank für die Allerhöchste Nachfrage, Majestät. Ich befinde mich wohl, jedoch habe ich heute eine kurze Nacht hinter mir. Das wird Euer Majestät mir wohl ansehen.“ „Graf Tisza vertritt offensichtlich seine Ansichten mit ungebrochener Standhaftigkeit“, gibt der Kaiser zurück und unterstreicht damit neuerlich, wie gut unterrichtet er stets ist. Und er führt weiter aus: „Er hat Uns von der Unterredung mit Euch berichtet und Uns seine Argumente ebenfalls nachhaltig vorgebracht. Wir können Uns seinem Standpunkt nicht verschließen …“ Franz Joseph macht eine Pause, blickt auf seinen Schreibtisch, wo neben unzähligen Akten und Papieren auch Fotos seiner Familie stehen. Dann fährt er fort: „Wie schätzen Sie die aktuelle Lage ein, Herr Graf?“

      Berchtold beginnt, die Gespräche mit Conrad, den Ministern und den diversen Botschaftern zusammenzufassen, und erwähnt auch seine Eindrücke aus den Pressemeldungen der letzten Tage. Sorgfältig darauf bedacht, in seinen Sätzen keine Formulierungen zu verwenden, die Seiner Majestät eine Handlungsweise aufzwingen könnten, schließt Berchtold mit den Worten: „Durch die Mächtekonstellation in Europa, durch die unsichere Haltung Rumäniens uns gegenüber und die seit den Balkankriegen 1912 und 1913 geschwächte Stellung Bulgariens können wir es uns nicht leisten, gegen Serbien ein weiteres Mal nachsichtig zu sein. Wir stehen vor einem Existenzkampf, Euer Majestät, den wir, sollte Russland eingreifen, allein nicht bewältigen können!“ „Der deutsche Botschafter“, unterbricht ihn der Kaiser, „war gestern bei Uns und hat Uns mit freundlichen Worten zu Besonnenheit und Ruhe gemahnt, jedoch dabei auf das Äußerste betont, dass der deutsche Kaiser Unser wärmster und innigster Bundesgenosse sei und stets seine Bündnispflichten wahrzunehmen gedenke.“ „Auch mir wurde dies mehrmals versichert, Majestät“, erwidert Berchtold und fährt fort: „Ich gebe aber zu bedenken, dass durch ein langes Zuwarten, um eine Vergeltungsmaßnahme zu beginnen, unsere aktuell vorteilhafte Situation, in Anbetracht des schmerzvollen Verlustes, immer mehr zu verblassen droht. Ich fürchte, die moralische Legitimation einer Strafexpedition gegen Serbien wird uns immer mehr abhandenkommen, wenn wir nicht sehr bald reagieren.“ Berchtold zögert kurz, um dem Kaiser Gelegenheit zu einer Antwort zu geben.

      Als dieser nicht reagiert, fährt er fort. „Euer Majestät, ich erlaube mir untertänigst, auf die bereits an Euer Majestät übermittelte Denkschrift hinzuweisen, die wir gemeinsam mit dem Kriegsministerium noch vor dem Attentat ausgearbeitet haben. Die Militärs sind der Meinung, dass wir sofort losschlagen sollten, um die Gunst der Stunde zu nutzen. Der ungarische Ministerpräsident, als Gegenpol, neigt der Meinung zu, eine kriegerische Aktion sei nicht vorstellbar. Ich schlage vor, die Denkschrift an das Deutsche Reich zur Kenntnisnahme zu senden, verbunden mit dem dringenden Ersuchen um eine Stellungnahme, welche Haltung Berlin zu unserer Lage im Allgemeinen und zu einer möglichen Vergeltungsmaßnahme im Besonderen einnimmt.“

      In diesem Moment tritt die Sonne durch die Wolken und strahlt durch die großen Fenster bis weit in das Innere des Arbeitszimmers. Durch eine unmissverständliche Geste hat sich der Kaiser eine Nachdenkpause ausbedungen und Berchtold wagt es nicht, sich auch nur durch eine unbedachte Bewegung bemerkbar zu machen. In seiner typischen Körperhaltung, mit auf den Rücken verschränkten Händen und leicht nach vorne gebeugt, geht Franz Joseph langsam auf seinen Schreibtisch zu. Nichts ist zu hören, sogar die Schritte des Monarchen dringen nur gedämpft an das Ohr des Ministers, da im ganzen Raum großflächig Läufer und Teppiche verlegt sind. Der Schreibtisch steht nah bei einem der Fenster und gewährt dem Kaiser, wenn dieser auf seinem alten, mit schwarzem Leder bezogenen Stuhl sitzt, einen schönen Blick in den Park. Im Gegensatz zu den sonstigen Gepflogenheiten des Kaisers ist der Schreibtisch Franz Josephs ein formvollendetes Schmuckstück, das die Blicke Berchtolds bei seinen Audienzen immer wieder auf sich zieht. Schon oft hat der Minister als großer Liebhaber alter Kunst und Antiquitäten dieses Meisterwerk der Möbelbaukunst bewundernd betrachtet, doch in diesem Moment gewähren die einfallenden Sonnenstrahlen einen besonders erhabenen Blick auf das Möbelstück. Die zweifach geschwungenen Tischbeine, die sich nach unten hin beeindruckend verjüngen, sind reich verziert und üppig mit allerlei Ornamenten ausgeführt. Bei genauer Betrachtung erkennt man, dass ihre unteren Enden als Pferdefüße ausgeführt sind und so einen Hinweis auf eine der Leidenschaften des Kaisers geben. Die Beine geben einer Tischplatte Halt, die sich mit diesen wiederum zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügt. Schmale Laden sind an der Benutzerseite untergebracht, die allerlei Schreibutensilien des Kaisers beinhalten. Berchtold hat bei einer Audienz vor Jahren die Gelegenheit gehabt, einen kurzen Blick hineinzuwerfen, als der Kaiser nach Feder und Tusche suchte. Die Griffe der Laden sind im Gegensatz zum ansonsten im Überfluss mit Verzierungen versehenen Tisch ungewöhnlich schlicht als einfache Messingringe ausgeführt. Wenn der Kaiser diese anhebt, um die jeweilige Lade aufzuziehen, kann man, die entsprechende Stille vorausgesetzt, ein leichtes Quietschen vernehmen. Neben den Stößen mit Akten, Papieren sowie einigen Bildern stehen an beiden Seiten des Tisches zwei klassische Öllampen, die auch dann für ausreichend Licht sorgen, wenn der Kaiser wie gewöhnlich seinen Arbeitstag um 5 Uhr morgens beginnt.

      Leopold Berchtold richtet nun, nach wie vor am selben Platz stehend, seinen Blick wieder auf den Kaiser und beobachtet jede Regung des greisen Herrn scharf. Seine Bewunderung für den Kaiser mischt sich mit Ehrfurcht, schließlich ist Franz Joseph länger im Amt, als der überwiegende Teil der Bevölkerung alt ist. „Wie oft in den letzten Jahren bin ich schon hier gestanden und habe schwierige und weitreichende Belange vorzutragen die Ehre gehabt. Viele davon haben das Schicksal der Monarchie mitbestimmt“, erinnert sich Berchtold an die letzten beiden Jahre, als die Balkankriege eine vollkommen ähnliche Ausgangslage schufen. Nur seiner und des Kaisers Friedensliebe ist es zu verdanken, dass nicht damals schon ein europäischer Krieg ausgebrochen ist. „Und was hat uns die Nachgiebigkeit gegenüber Serbien gebracht …?“ Berchtold spricht in Gedanken zu sich selbst und erspart sich die Antwort, denn er kennt sie nur zu gut. Während der Kaiser weiterhin regungslos und in Gedanken vertieft auf seinem Platz verharrt, quälen den Minister Selbstzweifel und Frustration. „Ich zweifle immer mehr daran, dass unser bisheriger Kurs, den Frieden um jeden Preis zu erhalten, der richtige Weg Serbien gegenüber ist. Conrad und die anderen Befürworter eines kriegerischen Aktes scheinen auf lange Sicht recht zu behalten …“ Er ist sich selbst gegenüber ungewohnt ehrlich. Berchtold gibt sich in diesem Moment keinen Illusionen hin, sondern ist vielmehr überzeugt, dass viele Menschen in Österreich dieser Meinung sind. „Ein weiteres Mal den Friedenskurs beizubehalten, das erscheint mir vor diesem Hintergrund ungemein schwer, wenn nicht gänzlich unmöglich. Sie würden mich vom Ballhausplatz jagen!“

      Eine Bewegung des Kaisers reißt Berchtold aus seinen Gedanken und bringt ihn zurück in die Gegenwart. Franz Joseph hat ein Bild zur Hand genommen und betrachtet es aufmerksam. Seine Gesichtszüge erhellen sich zusehends, sodass Berchtold zuletzt beinahe einen Anflug eines Lächelns um die Mundwinkel des Monarchen erkennen kann. Die Nachdenkpause währt nun schon einige Minuten und Berchtold zeigt bereits erste Anzeichen von Ungeduld, als Franz Joseph das Bild auf den Schreibtisch zurückstellt