mit der die Monarchie bisher die Bewunderung des zivilisierten Europa geerntet hat, hat leider nicht die erhoffte Wirkung erzielt!“
Der Kaiser hält kurz inne, wendet sich dann Berchtold zur Gänze zu und fährt fort: „Wir halten daher nach reiflicher Überlegung ein kraftvolles Auftreten gegen Serbien für unvermeidlich.“ Erst jetzt geht der Kaiser einige Schritte auf den Minister, der sich bei diesen Worten sichtlich erfreut zeigt, zu, macht aber durch unmissverständliche Kopfbewegungen deutlich, dass an den folgenden Worten nicht zu rütteln ist: „Aber eine militärische Aktion ist unter den gegeben Umständen nicht durchführbar.“ Berchtold starrt auf den Kaiser. Dieser fährt fort: „Wir haben Uns daher entschlossen, die Sachlage weiter zu prüfen und vorläufig eine abwartende Haltung einzunehmen. Wir werden jedoch ein Allerhöchstes Handschreiben verfassen und es der von Euch vorgelegten Denkschrift hinzufügen, damit beides dem Kaiser des Deutschen Reiches zu dessen geschätzter Kenntnisnahme vorgelegt werden kann!“
Damit ist die Audienz augenblicklich beendet. Leopold Berchtold verneigt sich und geht rückwärts die zwei Schritte bis zur Tür. Dort dreht er sich um und verlässt das kaiserliche Arbeitszimmer. Im Vorzimmer bekommt er seine Garderobe gereicht und wird von einem Diener zum Ausgang des Schlosses geführt. Im Wagen, der ihn in das Ministerium bringt, sortiert Berchtold seine Gedanken und er versucht, die Entscheidung des Kaisers einzuordnen. Die Festlegung Franz Josephs bedeutet zuallererst, dass eine unmittelbare militärische Aktion ausgeschlossen ist und sich das Gewicht der Aktivitäten auf das diplomatische Feld verlagert. Damit schließt sich der Kaiser seinem und Tiszas Standpunkt an und erteilt jenem von Conrad und den Militärs eine Absage. Aber völlig offen geblieben ist, was gegen Serbien unternommen werden kann, wenn die Stellungnahme aus dem Deutschen Reich eintrifft.
Der Minister resümiert die Audienz mit einem Anflug von Orientierungslosigkeit. Nach Prüfen der Möglichkeiten sieht er jedoch die Chance, die Haltung Berlins in seine Politik einfließen zu lassen. Je nachdem wie die Stellungnahme ausfällt, wird er diese gegen Conrad und seine Militärintervention oder gegen Tisza und seine ausschließlich ungarische Sichtweise ins Treffen führen. Sollte man in Berlin tatsächlich bereit sein und mit der Monarchie auch im Ernstfall den Schulterschluss bilden, so sieht er jetzt kostbare Zeit verrinnen. „Hier bin ich mit Conrad einer Meinung.“ Berchtold fällt es schwer, sich diese Gemeinsamkeit einzugestehen, denn sie bedeutet, dass man womöglich parallel zur diplomatischen Aktion in Berlin militärische Vorkehrungen zu treffen hat.
Der Minister überschlägt kurz den bevorstehenden Zeitaufwand und stellt fest, dass durch die Mission in Berlin ein möglicher Waffengang um drei Tage verzögert wird. „Das sollte zu verschmerzen sein!“ Berchtold beruhigt vor allem sich selbst damit, denn er kennt die militärischen Zusammenhänge der gegenwärtigen europäischen Bündnisverpflichtungen nicht im Detail. Es gilt nun, alle Anstrengung und Energie darauf zu verwenden, die Stellungnahme des deutschen Kaisers einzuholen. Wer könnte diese Mission erfüllen? Nachdenklich kramt Berchtold in seiner Aktentasche nach einem Notizblock, um mögliche Kandidaten zu notieren. Für so eine heikle Aufgabe kommen aus seinem Ministerium nur jene infrage, die sein vollständiges Vertrauen genießen. Bei diesem Gedanken fällt ihm zuallererst ein Name ein, den er nicht notieren muss. Zufrieden zieht er die Hand wieder aus der Tasche und lehnt sich mit einem erleichterten Gesichtsausdruck zurück. „Sektionschef Hoyos ist ein kluger Schachzug!“
***
Als nächster zu bearbeitender Akt liegt der Bericht Nr. 212 auf seinem Schreibtisch. Der Preuße entnimmt dem Akteneinband, dass es sich um ein Protokoll aus Wien handelt. „Aha, Tschirschkys aktueller Bericht!“ Mit seiner seit der Geburt verstümmelten linken Hand fixiert er das Papier und mit der rechten greift er nach der Feder, um, wie er es für gewöhnlich zu tun pflegt, die ihm vorgelegten Aktenstücke mit Randnotizen zu versehen. Der 55-Jährige kann sein leicht erregbares Temperament nur schwer zügeln, als er den Bericht durchliest. Immer wieder hält er mit dem Lesen inne und äußert lautstark seinen Unmut. Die Schilderungen seines Wiener Beamten über das letzte Zusammentreffen mit dem österreichischen Minister des Äußeren, Graf Berchtold, sind das völlige Gegenteil dessen, was anlässlich des jüngsten Ereignisses in Sarajevo seine eigenen politischen Ansichten beherrscht.
Das Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand hat ihn nicht nur in seinem monarchischen Selbstverständnis zutiefst getroffen, sondern ihm auch einen gerade erst gewonnen politischen Freund genommen. Die menschliche Tragödie wird dadurch noch verschlimmert, dass das Attentat die heiß geliebte Segelregatta, die alljährlich in Kiel stattfindet, verdorben hat. Sein Zorn auf die Attentäter ist gewaltig. Von Anfang an ist ihm klar gewesen, dass Wien hierzu mit aller gebotenen Härte in Serbien Sühne und Rechenschaft einzufordern hätte. Der vorliegende Bericht spricht jedoch eine gänzlich andere Sprache. Wie dem Papier zu entnehmen ist, hat sein Botschafter in Wien mit seinen beruhigenden und beschwichtigenden Aussagen womöglich den ohnehin schon zaudernden Berchtold von raschen Vergeltungsmaßnahmen abgehalten. „Wer hat Tschirschky zu diesen Aussagen ermächtigt, von denen er hier berichtet?“
Der deutsche Kaiser ist außer sich und notiert zügellose Randbemerkungen, ein Spiegelbild seiner Emotionen, auf dem Papier. „Mit den Serben muss aufgeräumt werden – und zwar bald! Hoffentlich hält man in Österreich diesmal durch und lässt sich nicht wieder zur Milde hinreißen!“ Nach nicht einmal der Hälfte des Berichtes legt der Mann in Uniform den Stift beiseite, nimmt das Glas Wein, das vor ihm am Schreibtisch steht, und genehmigt sich einen kräftigen Schluck. Energisch lehnt er sich im hohen Stuhl zurück und blickt zu der im Hintergrund des Arbeitszimmers befindlichen Bibliothek. „Wenn sie jetzt nicht Stärke zeigen, sind sie für uns als Bundesgenossen verloren.“ Sein Gesichtsausdruck verfinstert sich bei diesem Gedanken noch mehr.
In den letzten Jahren ist für ihn und seine Regierung immer deutlicher geworden, dass sich die angrenzenden Mächte in Ost und West gegen ihn und sein Reich zusammenschließen und Österreich als einziger und verlässlicher Bündnispartner gegen diese Einkreisung übrig bleibt. Damit sind die beiden europäischen Zentral-Monarchien auf Gedeih und Verderb aneinandergekettet. Er weiß das. Er weiß aber auch, dass man in Wien anders denkt. Wien hat keine Ambitionen als Weltmacht – so wie er, Wien hat keine Seemacht, die nach Weltgeltung giert – so wie er, Wien hat keine Kolonien, die es zu schützen und zu vergrößern gilt – so wie er. Und Wien hat kein Wirtschaftswachstum von beinahe 25 Prozent im Jahr – so wie er es hat. Nein, Österreichs außenpolitische Interessen sind gänzlich anderer Natur. Regional, kleinräumig und höchstens auf den Balkan gerichtet. Darauf ist die Wiener Diplomatie fokussiert. „Daher muss eine Provokation in dieser Interessenssphäre, wie es das Attentat auf Franz Ferdinand darstellt, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln geahndet werden, will man nicht vor der Welt sein Gesicht und seinen Ruf verlieren!“ Für ihn ist diese Schlussfolgerung sonnenklar. „Oder man wird eben als einziger Bündnispartner versagen.“
Den Preußen hält es bei diesen Gedanken nicht mehr auf dem Stuhl. Er geht energischen Schrittes zu seiner Bibliothek, wo er gerne verweilt, wenn es eine verworrene Situation zu lösen gilt. Umgeben von den Heroen der klassischen deutschen Literatur glaubt er, jene Energie zu verspüren, die für Entscheidungen von großer Tragweite unumgänglich ist. „Jetzt oder nie müssen sie Serbien in die Schranken weisen, 1912 und 1913 haben sie es ja leider verabsäumt.“ Er ist sich seiner Sache sicher und schreckt auch vor Konsequenzen nicht zurück. „Wenn Berchtold allein nicht fähig ist, diese Schritte zu gehen, müssen wir ihm den Rücken stärken. Österreich darf nicht fallen!“ Er greift in das Bücherregal und nimmt wahllos ein Werk aus dem sorgfältig sortierten Bestand. Behutsam öffnet er den Einband und blättert langsam die ersten Seiten um. Einzelne Zeilen lesend, immer wieder umblätternd, steht er eine Weile neben dem Regal und verliert sich in der Prosa des Buches. Dann umfasst er mit der rechten Hand einen dickeren Seitenstapel, bringt ihn durch ein vorsichtiges Nachhintenwölben unter Spannung und lässt die einzelnen Blätter aufschlagen. Während ein zarter Luftwirbel sein Gesicht umspielt, fällt ein zwischen den Seiten verstecktes Lesezeichen zu Boden. Der Mann hebt es auf, wirft einen Blickt darauf und steckt es so zwischen die Seiten, dass es am oberen Buchrand heraussteht. Dann stellt er den Band ebenso behutsam in die Lücke zurück, wie er ihn zuvor herausgenommen hat.
Wieder an seinen Schreibtisch zurückgekehrt, nimmt er Tschirschkys Bericht nochmals zur Hand, sucht jene Stelle