von Beamten der Reichskanzlei in Empfang genommen und im Hause an die vorgesehenen Adressaten verteilt. Die Post für den Kanzler des Deutschen Reiches, Theobald von Bethmann Hollweg, wandert, so wie in vielen anderen europäischen Hauptstädten auch, über unzählige Schreibtische in vielen Büros, bevor sie bei ihm ankommt. Bis dahin wird die Post von Mitarbeitern geöffnet, mit Eingangsstempel und Datum versehen, vorsortiert und zuletzt einem engen Mitarbeiter im Vorzimmer Bethmann Hollwegs zu dessen weiterer Bearbeitung übergeben.
„Herr Reichskanzler, in der Post von Seiner Majestät ist heute auch der neueste Bericht von Botschafter Tschirschky. Ich denke, Sie sollten sich das sofort ansehen.“ Der Mitarbeiter Bethmann Hollwegs hat die Tür geöffnet und nur seinen Kopf hereingesteckt, während er diese Meldung weitergibt. Bethmann Hollweg ist erst heute Nachmittag von einem dringend notwendigen Erholungsurlaub ins Büro zurückgekehrt und blickt von seinen Unterlagen auf. Ein wenig irritiert steht er auf und folgt seinem Mitarbeiter zu dessen Schreibtisch. Auf einem hohen Stapel unbearbeiteter Poststücke liegt an oberster Stelle der Bericht von Leonhard Tschirschky und schon auf den ersten Blick sind die unzähligen Anmerkungen des Kaisers deutlich zu sehen. „Gibt er wieder einmal was zum Besten“, denkt Bethmann Hollweg, greift nach dem Schriftstück und überfliegt die kaiserlichen Notizen. Überrascht von der Schärfe und Direktheit der Ausdrucksweise gibt er das Schreiben seinem Mitarbeiter zurück und weist ihn an, Tschirschky davon zu unterrichten. Dieser solle von Stund’ an seine Haltung gegenüber Österreich ändern und seine bisher gezeigte Zurückhaltung und Rücksichtnahme ablegen. „Gemäß den Wünschen des Kaisers“, Bethmann Hollweg hebt den Bericht nochmals bedeutungsvoll in die Höhe und schwenkt ihn einige Male hin und her, „lautet ab jetzt unser neues Programm gegenüber Österreich: Rasche, entschiedene und wirksame Tat!“ Er legt das Schreiben wieder zurück auf den Schreibtisch seines Mitarbeiters, geht in sein Büro und schließt hinter sich die Tür. „Sehr gut, das beginnt ja ausgezeichnet“, flüstert er leise in sich hinein und spürt, wie eine wärmende Zufriedenheit in ihm aufsteigt.
SAMSTAG, 4. JULI
Heftiger Gewitterregen prasselt an die Glasscheibe des Kommandostands des Fährschiffes. Immer wieder donnert und blitzt es aus einem schwarzen, wolkenverhangenen Himmel. Die Donau wird durch den böigen und stürmischen Wind aufgepeitscht und fortwährend schlagen kräftige Wellen an die Backbordseite des kleinen Dampfers. Jetzt, in der Mitte des Flusses, ist die gefährlichste Passage zu überwinden, denn hier sind die Strömungen am stärksten, erst recht in einer Gewitternacht wie der heutigen. Ächzend und schnaufend kämpft sich das Schiff durch die Gischt vorwärts, mal aufwärtsgehoben, mal seitwärtsgestoßen. Wieder zeichnet ein greller Blitz unwirkliche Schatten. Die Helfer auf der Fähre sind triefend nass und haben alle Hände voll zu tun, die Pferde an Deck ruhig zu halten. Wären nicht die Blitze, der Kapitän könnte den Bug seines Schiffes nicht erkennen. Gegen Mitternacht ist dieses Gewitter aufgezogen und hat begonnen, sich just in dem Moment in aller Heftigkeit zu entladen, als der Trauerzug in Pöchlarn am Bahnhof einlangt.
Nachdem Franz Ferdinand schon zu Lebzeiten verfügt hat, dass die letzte Ruhestätte seiner Familie das Schloss Artstetten sein soll, hat dies Montenuovo Anlass gegeben, auch hier noch lenkend einzugreifen. Den Auszug der Särge und den Trauerzug zum Westbahnhof hat er für spät abends angesetzt, um eine geringe Anteilnahme in der Bevölkerung zu erreichen. Daher dürfen entsprechend seinen Anweisungen die Särge erst um 22 Uhr die Hofburg in Richtung Westbahnhof verlassen. Wieder ist nur die kleinstmögliche Eskorte vorgesehen und wieder hat man keine Ehrenbezeugungen für die Toten aufgeboten. Trotzdem wird der Trauerzug von den Mannschaften der Wiener Hausregimenter und von Hunderten Angehörigen der hochadeligen Familien Wiens begleitet. Auch am Bahnhof ist entgegen den schäbigen Verfügungen des Obersthofmeisters ein großes Aufgebot habsburgischer Familienmitglieder eingetroffen, um den Zug zu verabschieden. Allen voran hat es sich der Thronfolger Erzherzog Karl nicht nehmen lassen, die Särge bis hierher zu begleiten.
Jetzt sind sie an Bord des kleinen Fährschiffes und schlingern im ärgsten Gewittersturm dem gegenüberliegenden Ufer entgegen. Endlich kann der Kapitän die zwei Lichtpunkte ausmachen, die die Landungsstelle anzeigen. Unter Aufbietung größter Kraftanstrengung bringt er das Schiff auf Kurs und ringt mit den Naturgewalten um jeden zurückgelegten Meter auf dem Fluss. Schweiß tropft ihm von der Stirn, als er beinahe unter Volllast der Maschine den Pier erreicht. Unter diesen Bedingungen sind ein sanftes Zurückfahren der Maschine und ein damit einhergehendes sanftes Hingleiten zum Steg nicht möglich. „Hoffentlich gelingt es den Männern, die Haltetaue gleich zu fassen“, denkt der Kapitän, als er beim ersten Versuch, den Pier zu erreichen, die Maschine drosselt. Mit einem dumpfen Schlag, der das Schiff erzittern lässt, schlägt die Fähre steuerbord an den hölzernen Landungssteg. Die Pferde und die Leichenwägen rutschen ein kurzes Stück seitlich weg, kommen aber sofort wieder zum Stillstand. Einige der Begleitpersonen stürzen, aber glücklicherweise gelingt es den Matrosen und den Helfern an Land, die Fähre rasch zu stabilisieren. Als der Kapitän von unten die Meldung bekommt, dass man weitestgehend gut vertäut am Landungssteg liege, atmet er tief aus und dankt Gott, dass er die heikle Ladung sicher aus seinem Verantwortungsbereich entlassen kann.
Es ist kurz nach drei Uhr früh an diesem 4. Juli, als die Begleitmannschaft mit dem Anlanden der Leichenwägen beginnt. Die Männer sind nass bis auf die Haut und müde von den Anstrengungen der Nacht. Viele sind seit den frühen Morgenstunden unterwegs und jetzt steht ihnen der schwierigste und anstrengendste Teil des Weges noch bevor. Vom Schiff bis zum Schloss Artstetten gilt es, an manchen Stellen einen unbefestigten und steilen Karrenweg zu befahren, der schon am Tag und bei schönem Wetter eine Herausforderung für so manchen Fuhrmann darstellt. Zaghaft beginnt man mit der Abfahrt über die Landungsbrücke auf den Steg, das alte Holz quietscht, knarrt unter der Belastung und ist rutschig wie Schmierseife. Vorsichtig bewegen sich die Pferde, als ein weiterer gewaltiger Blitz und kurz darauf ein ohrenbetäubender Donnerschlag allen ins Gebein fahren. Die Pferde des ersten Wagens scheuen, schlagen aus. Kurz bevor sie außer Kontrolle geraten, können sie von den Begleitern gerade noch im Zaum gehalten werden. Da gellt ein Schrei durch die Nacht und übertönt beinahe die Urgewalten des Gewitters. Alle blicken auf und sehen, wie der Sarg auf dem Wagen zu rutschen beginnt und in die Donau zu stürzen droht. In letzter Sekunde gelingt es einem der anwesenden Hellebarden der Trauer-Eskorte, den Sarg mit einem der Schiffshaken zum Stehen zu bringen. „Nur runter von meinem Schiff, so schnell wie möglich“, brüllt der Kapitän, der die Szene hilflos auf seiner Brücke mit ansehen muss. Mit vereinten Kräften gelingt es schließlich, die beiden Wagen vom Schiff auf das befestigte Ufer zu bringen. Es regnet nach wie vor in Strömen, sodass die Männer immer absetzen müssen, um sich das Wasser aus den Augen zu wischen.
Jetzt haben sie das beschwerliche Teilstück vom Flussufer über die Böschung hinauf zur Straße vor sich, das bei diesen Wetterbedingungen der Mannschaft die letzten Kraftreserven abverlangt. Als die Männer die beiden Wagen nach oben hieven und die Straße erreichen, haben die Matrosen auch die Fähre fest vertäut und ziehen sich in die Kajüte zurück, um für die Rückfahrt besseres Wetter abzuwarten. Jene an den Hofleichenwägen haben indes keine Möglichkeit des Rückzugs in ein trockenes Lager, sondern kämpfen sich tapfer durch die Sturmböen. Mit laut schmatzenden Lauten klatschen die großen, schweren Tropfen auf die Wagen, sammeln sich auf den Dächern, fließen als breite Rinnsale entlang der Dachränder ab und bilden einen unaufhörlichen, fingerdicken Wasserstrahl, der, von Sturmböen bald nach links, bald nach rechts weggedrückt, auf die Erde prasselt.
Endlich lässt der Regen nach und auch die Sicht wird besser. Die schwierigen Passagen des Weges hat man mittlerweile glücklich gemeistert. Am nebelverhangenen Horizont zeigt sich das erste Grau des neuen Tages und vor sich sehen die Männer die letzte Steigung, die zwischen ihnen und der Hochebene von Artstetten liegt. Mannschaft und Pferde sind müde, aber der verantwortliche Kommandant treibt sie immer wieder an. Gespenstische Nebelschleier formieren sich ab und an rechts und links des Weges und begleiten den Trauerzug ein Stück, bevor sie sich auflösen und wieder verschwinden. Nachdem auch der letzte Anstieg überwunden ist, öffnet sich der Wald und gibt den Blick auf die vor ihnen liegende Ebene frei. Der Trauerzug mit den beiden Hofleichenwagen zieht vorbei an grünen, mit großen, alten Obstbäumen reich bepflanzten Wiesen. Große Seen haben sich zwischen den Bäumen gebildet und es wird sicherlich ein paar Tage dauern, bis der Boden